03. Februar 2023

Krieg um die Ukraine Die Psychologie von Besitzwehr und Besitzkehr

Eine rechtliche Analogbetrachtung

von Carlos A. Gebauer

Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine eskaliert derzeit bekanntermaßen immer weiter. Wie offenbar immer in solchen Fällen, ist die Wahrheit das erste Opfer derartiger Kämpfe. Keine der beteiligten Seiten lässt es sich nehmen, auf die Richtigkeit des eigenen und die Unrichtigkeit des gegnerischen Standpunktes hinzuweisen. Kriegsberichterstattung und Propaganda vermischen sich. Außenstehende haben kaum eine realistische Chance, sich ein zutreffendes Bild von den wirklichen Kriegsgründen oder den tatsächlichen Abläufen vor Ort zu machen. Sicher ist nur eins: Menschen leiden, Menschen sterben, lebenswichtige Infrastruktur wird zerstört.

Soweit für mich derzeit ersichtlich, geht eine herrschende Meinung der internationalen Kriegsrechtler davon aus, dass Russland einen unerlaubten Angriffskrieg begonnen habe. In der Konsequenz dieser Prämisse scheint zu liegen, dass alle übrigen Staaten, die nicht ihrerseits unmittelbar angegriffen wurden, der angegriffenen Ukraine Hilfe leisten dürfen. Eine unbedingte Hilfsverpflichtung dieser Drittstaaten besteht allem Anschein nach nicht. Es gibt aber die Möglichkeit, ein Recht zur Hilfe wahrzunehmen. Zu diesem Hilfsrecht gehört die Befugnis, der Ukraine Waffen liefern zu dürfen.

Hier ist nicht der Ort, die in diesem Zusammenhang aufgeworfenen schwierigsten staatsvertraglichen, militärischen oder gar globalstrategischen Fragen zu erörtern oder gar zu beantworten. Diese Themen fallen alle weit außerhalb des Bereiches, in dem ich mir die Äußerung eines Gedankens zutraue. Indes ist mir eine Analogbetrachtung in den Sinn gekommen, die mich seit einigen Tagen zur Sache beschäftigt. Das deutsche Besitzrecht innerhalb des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) behandelt in seinem Paragraphen 859 den Fall einer sogenannten „Selbsthilfe des Besitzers“: Wird eine bewegliche Sache dem Besitzer mittels verbotener Eigenmacht weggenommen, dann darf er sie dem Täter mit Gewalt wieder abnehmen, wenn er diesen „auf frischer Tat“ antrifft oder ihn wenigstens sogleich nach der Tat verfolgt. Für nicht bewegliche Sachen, also Grundstücke, gilt Entsprechendes: Wird dem Besitzer ein Grundstück durch „verbotene Eigenmacht“ entzogen, dann darf er „sofort nach der Entziehung“ den Besitz durch „Entsetzung“ des Täters wieder zurückerobern.

Konkret geht es in den damit abstrakt beschriebenen Fällen natürlich um Folgendes: Sehe ich, dass mir jemand mein Fahrrad stiehlt, dann kann ich mein Fahrrad nicht nur zu Beginn des Diebstahles verteidigen („Besitzwehr“), sondern ich kann es dem Täter, der sich gerade dazu anschickt, damit fortzufahren, auch wieder gewaltsam abnehmen, um seine tatsächliche Herrschaft über das Rad durch meine berechtigte Sachherrschaft zu ersetzen („Besitzkehr“). Entsprechendes gilt in dem Fall, dass sich jemand in meine Wohnung schleicht und mich auszusperren versucht. In diesem Fall bin ich befugt, in meine eigene Wohnung einzubrechen und den Hausbesetzer gewaltsam wieder vor die Tür zu setzen.

Entscheidend ist in diesen beiden Fällen der sogenannten Besitzkehr jedoch, dass der Gesetzgeber erkennbar einen zeitlichen Rahmen für meine private Gewaltanwendung gesetzt hat. Den Dieb der beweglichen Sache darf ich angreifen, wenn ich ihn „auf frischer Tat“ antreffe oder verfolge. Den Eindringling in meine Wohnung darf ich „sofort nach der Entziehung“ meines Besitzes attackieren. Der Grund für diese zeitliche Limitierung meines privaten Gewaltrechtes liegt im grundsätzlichen Verbot der Selbstjustiz. Würden die Opfer derartiger Besitzdelikte zeitlich unbeschränkt ihren eigenen Habseligkeiten gewaltsam nachjagen dürfen beziehungsweise sie von Eindringlingen entsetzen können, bestünde prinzipiell eine Privatjustiz neben der staatlichen Justiz. Genau dies ist im Interesse eines langfristigen Rechtsfriedens nicht gewollt. Der Gesetzgeber des Paragraphen 859 BGB hat also mit den genannten Normen einen regulatorischen Kompromiss zwischen Notwehrrechten und der Wahrung des Rechtsfriedens angeordnet. Nur unmittelbar nach der unrechtmäßigen Tat darf privat gewaltsam die vorbestehende Ordnung wiederhergestellt werden. Hat sich der neue, wenn auch rechtswidrige Besitz an dem jeweiligen Gegenstand durch Zeitablauf bereits verfestigt, müssen die Organe der Rechtspflege eingeschaltet werden, um den Ursprungszustand wieder geordnet herzustellen.

Überträgt man diese zivilrechtliche Regel auf das Verhältnis zwischen Russland und die Ukraine, dann wird deutlich: Nachdem Russland mit seinen Militärkräften Gebiete in der Ostukraine faktisch unter seine tatsächliche Sachherrschaft gebracht hatte, endete eine „frische Tat“. Das Land hätte „sofort“ wieder – im Wege der Besitzkehr – gewaltsam unter ukrainische Kontrolle gebracht werden dürfen. Nachdem aber der Besitz Russlands an diesen ursprünglich ukrainischen Gebieten (wenn denn auch rechtswidrig) verfestigt war, durfte der ursprünglich legitime Besitzer nicht mehr selbst gewaltsam weiterkämpfen.

Dies ist – um es zu wiederholen – keine staatsrechtliche oder kriegsrechtliche Betrachtung, sondern ausschließlich der Versuch, anhand der zivilrechtlichen Wertungen des deutschen Besitzrechtes auf eine psychologische Komponente der kriegerischen Auseinandersetzung hinzuweisen. Würden die Regeln des genannten Besitzrechtes auf das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine angewendet und die umkämpften Gebiete im Osten der Ukraine als „Sachbesitz“ betrachtet, so ließe sich unter dem Gesichtspunkt der Herbeiführung von Rechtsfrieden argumentieren: Die Rückeroberung dieser Gebiete darf nicht mit zeitlich unbeschränkter eigener Gewalt des Opfers und seiner Freunde im Wege der Selbsthilfe betrieben werden, sondern das Opfer muss sich auf institutionalisierte Bereinigungsmechanismen verweisen lassen. Mit anderen Worten: Es gäbe eine Verpflichtung der Ukraine und ihrer Freunde, zunächst auf einen Waffenstillstand hinzuwirken und im Rahmen von anschließenden Verhandlungen den – offenkundig bestehenden – Konflikt friedlich zu bereinigen.

Welche entsetzlichen Konsequenzen sich ergeben, wenn zwei einander in ihren Gewaltpotenzialen gleichstarke Widersacher immer weiter miteinander kämpfen, statt die Waffen niederzulegen und miteinander zu verhandeln, hat in der deutschen Geschichte ein furchtbares Beispiel. Im sogenannten „Stellungskrieg“ des Ersten Weltkrieges kämpften französische und deutsche Gruppen monatelang ohne jeden Geländegewinn miteinander. Die Opfer waren entsetzlich, die Ergebnisse praktisch gleich null.

Gesamthaft führt mich diese Parallelbetrachtung daher zu der Einschätzung: Es kann im Grunde keine andere vernünftige Bereinigung der Lage zwischen Russland und der Ukraine geben, als nun umgehend die Kampfhandlungen einzustellen, einen Waffenstillstand zu vereinbaren und zu einer Verhandlungslösung zu kommen. Alles andere hat nur ein Ergebnis: Es verlängert das Leid.


Sie schätzen diesen Artikel? Die Freiheitsfunken sollen auch in Zukunft frei zugänglich erscheinen und immer heller und breiter sprühen. Die Sichtbarkeit ohne Bezahlschranken ist uns wichtig. Deshalb sind wir auf Ihre Hilfe angewiesen. Freiheit gibt es nicht geschenkt. Bitte unterstützen Sie unsere Arbeit.

PayPal Überweisung Bitcoin und Monero


Kennen Sie schon unseren Newsletter? Hier geht es zur Anmeldung.

Artikel bewerten

Artikel teilen

Kommentare

Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.

Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.