Israel: Kein Respekt vor Eigentum und Leben
Nach dem Terroranschlag in Neve Yaakov
Es war der blutigste Anschlag seit über zehn Jahren. Sieben Israelis ließen ihr Leben, als der 21 Jahre alte Khairy Alqam vor einer Synagoge im Jerusalemer Stadtteil Neve Yaakov das Feuer eröffnete. Doch trotz der längeren Terror-Pause waren die Reaktionen auf beiden Seiten so berechenbar wie eh und je. Im Gazastreifen und in mehreren Städten im Westjordanland feierten die Menschen den Attentäter als Helden. In sozialen Netzwerken wurde Alqam zum „Freiheitskämpfer“ stilisiert. Die Hamas sprach von einer „natürlichen Antwort“ auf die israelische Militäroperation in Jenin zwei Tage zuvor, bei der neun Palästinenser, darunter auch Zivilisten, von israelischen Soldaten getötet wurden.
Ich habe die Palästinenser während meiner Zeit im Nahen Osten überwiegend als sehr herzliches und gastfreundliches Volk kennenlernen dürfen, das allerdings (ebenso wie die meisten Israelis) kräftig aus der Giftflasche des Nationalismus getrunken hat. Ich kann mich noch gut an meinen ersten Friseur-Besuch in den palästinensischen Gebieten erinnern. Da ich während meiner Studienzeit in Tel Aviv notorisch knapp bei Kasse war und ohnehin jeden Sonntag zum Gottesdienst nach Bethlehem fuhr, machte ich es mir schnell zur Gewohnheit, Einkäufe und Friseurbesuche jenseits der Grünen Linie zu erledigen, um den ein oder anderen Schekel zu sparen.
Da saß ich dann bei einem Friseur mitten im Herzen Bethlehems und blickte auf Bilder von jungen Männern, die mit einer Maschinenpistole in der Hand und vor einer ziemlich amateurhaft ins Bild gepfriemelten Al-Aqsa-Moschee im Hintergrund posierten. Einige dieser Männer kannte ich aus der Fernsehberichterstattung. Es waren Bilder sogenannter Märtyrer – keine Seltenheit, wie ich später lernen musste. Gefangene und Märtyrer werden von der übergroßen Mehrheit der Palästinenser verehrt, völlig egal, welche Tat sie konkret begangen haben. Die Attentäter selbst der schlimmsten Anschläge während der Intifada, etwa die Komplizin des Sbarro-Selbstmordattentäters von 2001, Ahlam Tamimi, oder Saeed Hotari, der sich, ebenfalls 2001, am Eingang der Diskothek Dolphinarium in Tel Aviv in die Luft sprengte, genießen Heldenstatus und das, obwohl zahlreiche Kinder oder Jugendliche unter ihren Opfern waren.
Die Heldenverehrung jener Mörder, die Anschläge in Tel Aviv oder im Westteil Jerusalems begangen haben, führt auch die Argumentation vieler Palästina-Aktivisten nach dem jüngsten Anschlag ad absurdum. Da wird allen Ernstes die Tat damit gerechtfertigt, dass Neve Yaakov ja eine Siedlung sei. Dass auch jüdische Siedler im Westjordanland, selbst die radikaleren unter ihnen, Menschen sind, die man nicht einfach grundlos totschießen darf, ist vielen Palästinensern nur schwer verständlich zu machen.
Ein palästinensischer Freund von mir, der ein Restaurant in Ostjerusalem betreibt, sagte mir einmal: Alle sind bei mir willkommen, nur keine Siedler. Es ist sein Restaurant und somit natürlich sein gutes Recht, jeden abzuweisen, den er nicht bedienen will, ungeachtet der Gründe. Doch bei einem Ostjerusalemer Stadtteil wie Neve Yaakov pauschal von „Siedlern“ zu sprechen, ist zumindest missverständlich. Anders als etwa in Sheikh Jarrah, wo sich eine Handvoll Juden in einer Art Enklave innerhalb eines ansonsten ausschließlich arabischen Viertels im Ostteil der Stadt verschanzt hat, leben im ausschließlich jüdischen Stadtteil Neve Yaakov auch viele Pendler, die in Jerusalem arbeiten, aber in der Stadt keinen bezahlbaren Wohnraum gefunden haben.
Dann bliebe da noch der Rechtfertigungsversuch, die Tat sei eine Reaktion auf das „Massaker“ von Jenin zwei Tage vorher. Doch was hat der 14 Jahre alte Asher Natan, der bei der Bluttat von Neve Yaakov sein junges Leben verlor, mit Jenin und der dortigen Militäroperation der israelischen Armee zu tun? Welch geringen Stellenwert muss das Leben eines Menschen für jemanden haben, für den selbst 14-Jährige Kollateralschäden in einem „Heiligen Krieg“ gegen die „zionistischen Besatzer“ sind?
Es war nicht der einzige Vorfall dieser Art in Jerusalem am vergangenen Wochenende. Im arabischen Stadtteil Silwan schoss ein 13-jähriger palästinensischer Teenager auf Israelis. Er selbst wurde angeschossen und verletzt ins Krankenhaus gebracht. Getötet wurde niemand.
Doch das hielt die israelische Regierung nicht davon ab, nicht nur das Haus der Familie des Attentäters von Neve Yaakov zu versiegeln und damit für die spätere Zerstörung vorzubereiten, sondern auch das Haus der Eltern des 13-jährigen Teenagers aus Silwan. Es wäre das erste Mal, dass Israel das Haus der Familie eines Attentäters zerstörte, ohne dass es bei dem vorausgehenden Anschlag Todesopfer gegeben hätte.
Doch weder die Frage nach Opfern noch das Alter des Attentäters tut irgendetwas zur Sache. Den Besitz von Menschen zu zerstören, deren einziges Verbrechen eine Verwandtschaftsbeziehung zu einem Attentäter ist, ist barbarisch und abstoßend. Angehörige von Attentätern sollen zudem komplett von Sozialleistungen abgeschnitten, mögliche Staatsbürgerschaft und Aufenthaltsrecht verlieren und in Zukunft unter Umständen sogar ins Westjordanland deportiert werden. Wie passen solche Kollektivstrafen und Sippenhaft zu einem Land, das sich selbst der „westlichen Wertegemeinschaft“ (was auch immer das sein mag) zurechnet?
Hinzu kommt, dass die Häuserzerstörungen noch nicht einmal den von Israel beabsichtigten Zweck erfüllen. 2005 kam eine Kommission der israelischen Regierung, eingesetzt vom damaligen Verteidigungsminister Shaul Mofaz, zu dem Ergebnis, dass nur in wenigen Fällen ein Abschreckungseffekt erzielt werden konnte. In der Regel darf eine „Märtyrer-Familie“, deren Haus von israelischen Bulldozern plattgemacht wird, mit einer großzügigen Kompensation entweder von der Hamas, dem Islamischen Dschihad oder sogar der Autonomiebehörde rechnen. So treibt man auch Menschen, die möglicherweise mit Terror gar nichts am Hut haben, in die Arme der Extremisten. Von 2005 bis 2014 war ein Moratorium für Hauszerstörungen in Kraft, also die Dekade, in der Terroranschläge deutlich zurückgingen.
Dabei sei an dieser Stelle daran erinnert, dass palästinensische Häuser nicht nur als Retribution für Terrorakte zerstört werden. Wesentlich häufiger kommt es vor, dass Israel im Ostteil Jerusalems Häuser dem Erdboden gleichmacht, die ohne Baugenehmigung gebaut oder erweitert wurden. Als Palästinenser eine solche Genehmigung von den israelischen Behörden zu erhalten, ist jedoch eine Seltenheit, sodass vielen bei wachsenden Familien dann gar nichts anderes übrig bleibt, als illegal zu bauen. Der Umgang mit palästinensischem Eigentum ist schon lange ein Schandfleck für ein Land, das als Rechtsstaat wahrgenommen werden will.
Nicht weniger verstörend als die Jubel-Kommentare in sozialen Netzwerken über die „Märtyreroperation“ in Neve Yaakov waren in Folge daher auch die Versuche selbsternannter Israel-Freunde, die Reaktion der israelischen Regierung zu rechtfertigen. Grundsätzlich darf man sich die Frage stellen: Was geht überhaupt in Menschen vor, die sich als „Freund Israels“ bezeichnen? Mal ehrlich: Wer glaubt, mit Staaten befreundet zu sein, ganz egal, um welchen Staat es sich handelt, hat doch eine Schraube locker. Auch fallen bei den verzweifelten Versuchen, Israels Kollektivstrafen zu entschuldigen, immer wieder die doppelten Standards auf. Keinem anderen Staat würde Team Zion ein ähnliches Verhalten durchgehen lassen.
Gleiches trifft auf die Ankündigung des Ministers für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, zu, wonach als Reaktion auf die Tat Siedlungen im Westjordanland ausgebaut werden sollen. Ich gehöre nicht zu denen, die in Siedlungen per se ein Hindernis für den Frieden sehen. Da schwingt auch viel palästinensische Propaganda mit. Warum können Palästinenser, die ja eine wesentlich höhere Reproduktionsrate als Israelis haben, keine jüdische Minderheit in dem, was einmal ihr Staat werden soll, tolerieren? Die Gleichen, die aus Kernisrael am liebsten einen binationalen israelisch-arabischen Staat machen wollen, halten die Existenz von ein paar Hunderttausend Juden auf der Westbank für eine Zumutung?
Allerdings ist in Israel ein gesellschaftlicher und juristischer Grundkonsens in den letzten Jahren immer mehr ins Wanken geraten. Dieser Grundkonsens lautete: Siedlungen auf privatem palästinensischen Land sind immer illegal. Doch immer lauter werden die Stimmen der israelischen Hardliner, die, beflügelt vom Ausgang der vergangenen Knessetwahl ,nun Fakten schaffen wollen. Finanzminister Bezalel Smotrich etwa forderte die Regierung auf, nun endlich das seit vielen Jahren auf Eis gelegte E1-Projekt zu autorisieren.
Dabei handelt es sich um ein Stück Land, das die größte Westbank-Siedlung Ma’ale Adumin mit der „ewigen und unteilbaren“ Hauptstadt Israels verbinden soll. Palästinenser spucken Gift und Galle, der internationale Druck auf Israel, die Finger von E1 zu lassen ist riesig, doch fast niemand thematisiert das größte mit E1 verbundene Problem: Bei über zehn Prozent der Fläche handelt es sich um privates palästinensisches Land, das man einfach mal so für den Siedlungsbau stehlen will.
Noch schlimmer: In Diskussionen mit Israelis spielt der Aspekt, dass es sich um privates Land handelt, kaum eine Rolle. Vielleicht hat der geringe Respekt für die Rechte privater palästinensischer Landbesitzer auch damit zu tun, dass nur die wenigsten Israelis selbst Land besitzen. Einem israelischen Bürger gehört zwar das Haus, das er baut, in der Regel aber nicht der Grund, auf dem das Haus steht. Bei über 80 Prozent der Fläche Israels handelt es sich um „Staatsland“, weitere 13 Prozent gehören dem Jewish National Fund.
Team Zion und Team Palästina, das haben die Reaktionen auf Neve Yaaakov
einmal mehr in Erinnerung gerufen, eint eine Geringschätzung der elementarsten
Rechte des Individuums, darunter an vorderster Stelle des Rechts auf Eigentum
und des Rechts auf Leben. Wer sich selbst Team Freiheit zugehörig fühlt, sollte
nicht den Fehler machen, sich von der Propaganda einer der beiden Seiten
vereinnahmen zu lassen.
Kommentare
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