10. Februar 2023

Erfolgsbedingung Schöne Verlierer

Sich der Gewalt verweigern

von Stefan Blankertz

Auf der einen Seite beobachte ich eine Fixierung auf Moralität, die kleinste Verstöße dem Mob der Woke-Kultur zum Fraß vorwirft, zum anderen eine auf Erfolg, die die Verlierer der Geschichte der Lächerlichkeit preisgibt.

Die allgemeine Erfolgsbedingung im politischen Bereich war, ist und wird die Bereitschaft bleiben, Gewalt anzuwenden. Die gegenwärtige Woke-Kultur sieht Gewalt genau dann nicht als ein Verstoß gegen die Moral an, wenn sie in der für die Akteure rechten Weise eingesetzt wird. Das scheint widersinnig zu sein. Sehen wir zu, in welcher Weise es wahr ist.

Ich gehe zurück in das Jahr 1919. München. Räterepublik, die nur wenige Tage andauerte. Der Anarchist Gustav Landauer hatte sie mitinitiiert, nur um sich schnell wieder zurückzuziehen, angewidert vom Agieren der gewaltbereiten Bolschewisten.

Doch die Szene, die ich vor Augen habe, spielt zu genau der Zeit, als er der Räterepublik noch diente. Zwei Dinge sind für die Szene noch wichtig: Kurz zuvor hatte Landauer seine geliebte Frau Hedwig an eine Krankheit verloren. Und kurz zuvor hatte er sich mit seinem Freund Martin Buber ausgesöhnt, mit dem er sich über dessen Kriegsbegeisterung 1914 überworfen hatte. Dieser alte und neu gewonnene Freund besuchte ihn. Landauer nahm ihm mit zu einer Debatte im Räteparlament, eine Debatte, die sich um die Frage des revolutionären Terrors drehte. Ein Redner nach dem anderen hieß den revolutionären Terror gut, ja, bezeichnete ihn als notwendig für den Sieg der Revolution. Buber erinnerte sich, dass Landauer, bleich, der Debatte, die er selber angeregt hatte, folgte und schwieg. Er wusste sich mit Landauer einig darüber, dass die Revolution entweder auf Freiwilligkeit beruhe oder keine Revolution vorliege, sondern Reaktion. So hatte es ihrer beider Ahnherr Michael Bakunin definiert. In stillem Einverständnis griff Buber nach der Hand des Freundes. Sie war kalt und sie zitterte. Landauer schwieg. Wenn die Gewalt redet, was soll man antworten? Der Geist muss dann schweigen.

Wenige Tage darauf ward die Münchner Räterepublik niedergeschlagen. Landauer wurde verhaftet, geplündert und ermordet. Der Mörder, er war bekannt, kam für dieses Kriegsverbrechen mit einer geringen Geldbuße davon. Die Sieger sind immer im Recht. Für Martin Buber war der Verlust des Freundes der Schock seines Lebens. Es ist überliefert, dass er gegen Ende seines Lebens (er starb 1965) noch sagte, er habe Landauers Tod als seinen eigenen erlebt.

Aber was soll das Lamento? Die Redner, die Landauer haben verstummen lassen, hatten das Recht der Sieger auf ihrer Seite, auch wenn sie in diesem Fall auf der Seite der Verlierer gestanden hatten. Doch unzweifelhaft stellt es die Bedingung des Sieges in jeder kriegerischen Auseinandersetzung dar, bereit und in der Lage zu sein, den Gegner, koste es, was es wolle, niederzuschlagen. Terror ist keine spezielle Bedingung der (gewaltsamen) Revolution, vielmehr jeder kriegerischen Auseinandersetzung. Jeder, der nicht bereit ist, bis zur letzten Konsequenz zu gehen, wird im Endeffekt verlieren.

Die Geschichte türmt Beispiele auf Beispiele, die meisten größer und imposanter als das genannte Zwischenspiel der Freunde Gustav Landauer und Martin Buber, das mich so rührt. Die erfolgreichen Gewalttäter erhalten von der Geschichte den Beinamen „Der Große“. Die herrschende Woke-Kultur demontiert zwar die historischen Größen reihenweise, aber exemplifiziert gerade damit, dass sie genau das gleiche Kriterium des Erfolgs in Kraft lässt: Wer die Klaviatur der Gewalt beherrscht, behält recht. Die neuen Herrschenden, die Bilderstürmer reklamieren für sich das Recht zu bestimmen, wer in den Augen der herrschenden Meinung (Meinung der Herrschenden) Gnade findet und wer nicht.

Sich der Gewalt zu verweigern, heißt auch, sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Denn nur, wer rücksichtslos Gewalt einsetzt, ist es Fortuna wert, ihm die Siegerpalme zu überreichen. Alle anderen mögen verrotten auf dem Misthaufen der Geschichte. Die, die zwar zu den Verlierern zählen, aber immerhin keine Skrupel hatten, die Gewalt bis zum Äußersten anzuwenden, gelten der Geschichte mehr als skrupulöse Akteure, die zögerten. Sie hatten ja sowieso keine Chance, sie waren es nicht wert. Selber schuld.

Die Moral der Woke-Kultur ist heuchlerisch. Denn sie setzt Gewalt an die Stelle der Gewalt. Nach der Lehre Gustav Landauers (und Martin Bubers) sind es entweder Gewalt oder Geist, die die Gesellschaft strukturieren, entweder Staat oder Freiwilligkeit. Die Woke-Kultur, die heuchelt, auf der Seite der Opfer zu stehen, ist der Kult der Gewalt und treibt die Gesellschaft weiter in die Richtung ihrer Strukturierung durch Gewalt: Sie vernichtet den Geist.

Wer sich durchgesetzt hat, mit welchen Mitteln auch immer, fühlt den Rückenwind des Weltgeistes. An Menschen einen Gedanken zu verschwenden, die wie Landauer und Buber verloren haben, ist ein Luxus. Doch wissen wir, wer in Zukunft gewinnen wird? Diese Frage sollte die Selbstsicherheit der Gewalttäter erschüttern – ja, sie erschüttert sie, denn sie wenden jede Menge Exzessgewalt auf, um jeden Gedanken abzutöten, eine andere Vergesellschaftung als durch das Prinzip der Gewalt sei auch nur denkmöglich.

Möglicherweise wird sich zeigen, dass Gewalt tatsächlich die einzige Option ist. Aber dass eine andere Option denkmöglich ist, das haben die Anarchisten der Vergangenheit bewiesen, und das beweisen Libertäre und Anarchisten heute. Macht die Denkmöglichkeit zu einer realen Möglichkeit der Gegenwart!

Am 8. Februar war der 145. Geburtstag Martin Bubers. Zeitlich ist er der letzte anarchistische Denker und Aktivist des klassischen europäischen Anarchismus, ja, er hat diesen um ein Vierteljahrhundert überlebt. Selten genug wird ihm heute gedacht, und wenn, dann als Religionsphilosoph oder höchstens als schwärmerischer Sozialist. Man wird ihn vergessen, so der Siegeszug des Etatismus ungebremst fortschreitet. Oder man wird ihn, wenn auch verspätet, als einen der großen Vorkämpfer für Menschlichkeit und Freiwilligkeit dereinst Denkmäler auf allen Plätzen setzen, so der Anarchismus je eine Zukunft haben wird.


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