10. Februar 2023

Eine Medienbetrachtung Die Augen, die Ohren und der Mund

Die Rolle des Journalismus als Gesellschaftsorgan

von Carlos A. Gebauer

Die herkömmliche Begründung für die Existenz eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks lautet: Staatsbürger brauchen verlässliche Informationen, um sich auf deren Basis einen tragfähigen politischen Willen zu bilden. Diesen sachlich fehlerfrei gebildeten Willen setzen sie dann in demokratischen Wahlen und Abstimmungen zu Leitentscheidungen in ihrer Republik um. Denn alle Macht geht, wie es im deutschen Grundgesetz heißt, vom Volk aus.

Wer einmal erlebt hat, wie fehlsam und irreleitend Gerüchte sein können, wer die Macht von Lügen und Propaganda abschätzen kann und wer erkennt, wie lange es dauert, um kollektiv geteilte Irrtümer auszuräumen, der wird gegen diesen Versuch zur Absicherung ordentlicher Informationen nichts einzuwenden haben. Das Ziel dabei ist klar: Die zutreffende Beschreibung von Wahrheiten hat einen großen Wert. Sie gilt es tunlichst herbeizuführen.

Wenn aber auch dieses Ziel sehr klar ist, so bereitet es doch große Schwierigkeiten, die Mittel zu seiner Erreichung zu gestalten und zu erhalten. Ist es ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk, der mit einem beamteten Mitarbeiterapparat und finanziert durch eine „Demokratieabgabe“ diese Mitteilungsaufgaben erledigt? Oder sind es private Qualitäts- und Leitmedien, die der Öffentlichkeit die nötigen Informationen zukommen lassen (können)? Ist es am Ende gar ein freies Spiel der Kräfte auf Nachrichtenmärkten, das dem Publikum die Möglichkeit gibt, selbst millionenfach dezentral zu ermitteln und zu entscheiden, wer als Mittler zwischen Welt und Lesern wie Hörern üblicherweise zutreffend und verlässlich berichtet?

Auffällig immerhin ist, dass der Beruf des Journalisten, des Reporters oder des sonst „Medienschaffenden“ in keiner Weise reguliert ist. Für jeden Beruf gibt es die elaboriertesten Ausbildungs- und Zertifizierungswege, Zulassungsverfahren und Qualifikationserfordernisse. Nicht aber so für die Überbringer von Nachrichten. Dies könnte ein historisch gewachsenes Indiz dafür sein, dass man den Trichter für das Einspeisen von Informationen und Meinungen in den allgemeinen Diskurs jedenfalls an dieser Stelle nicht hat verengen wollen. Die Verengungen finden andernorts statt. Insbesondere in den jetzt erreichten postmodernen Zeiten. Was falsch sei, wird „faktengecheckt“ und gelöscht, gebannt, verschattet oder verfemt: Die journalistische Aussage wird nicht in ihrem Anfangspunkt erstickt, wohl aber daran gehindert, ihren Zielort zu erreichen.

Damit entgleitet die Macht über die qualitative Informationsbewertung den Händen der Nachrichtenempfänger und liegt jetzt bei jenen, die faktisch die Möglichkeit haben, über das Unterdrücken von Informationen zu entscheiden. Nicht einmal andere journalistische Mitbewerber können noch im Wege der kritisierenden Konkurrenz Nachrichten kommentieren, einordnen, relativieren oder sie schlicht als unzutreffend widerlegen. Der entfernte Informationsinhalt ist aus jedem Diskurs vollends getilgt. Es bleibt in der Regel nicht einmal ein Hinweis darauf, dass dort, wo etwas fehlt, zuvor etwas gestanden hatte. Die getilgte Nachricht wird nicht aktiv mit einem „Nein!“ gekontert, sondern schlicht passiv ausgelöscht. Die Macht, Botschaften zu löschen, lässt überall keine informationellen Nirwanas entstehen.

Für die Qualität kritischer demokratischer Willensbildungsprozesse ist das fatal. Die Masse der Gesellschaft entscheidet auf der Grundlage von Wirklichkeitsbildern, die unvollständig sind. Das allgemeine Weltbild ist durchzogen von lauter blinden Flecken, deren Charakteristikum bekanntlich ist, dem Betreffenden weder als Fleck noch als blind bewusst zu sein. An die Stelle einer Bewegung in der realen Welt treten Aktionen in Traumbildern und Schattenwelten. Kein Wunder, dass in einem solchen Setting viele Menschen einander nicht mehr verstehen: Der gemeinsame Weltbezug fehlt, und alle bewegen sich in eigenen fraktionierten Illusionsblasen.

Man darf zwar nie müde werden, in politischen Diskussionen immer wieder auf einen zentralen erkenntnistheoretischen Aspekt hinzuweisen: Anders als ein einzelner Mensch verfügt eine gesellschaftliche Gesamtheit von Menschen nie über einen einheitlichen Sinnen- und Reaktionsapparat. Ebenso wie es „die“ (eine) Wirtschaft nicht gibt, kann es daher auch „die“ (eine) Gesellschaft oder „den“ (einen einheitlichen) Volkswillen nie geben. Kollektive aus einer Vielzahl von Individuen sind nie mehr als die Versammlung von vielen Einzelakteuren. Der Einzelne geht nie ganz in der Masse auf, sondern er bleibt immer ein eigenes, selbst einheitliches Element des Ganzen.

Gleichwohl kann eine Vielzahl von Menschen, die zur gleichen Zeit von derselben Information erreicht wird, ein mediales Gemeinschaftserlebnis haben: Werden alle zugleich zutreffend oder unzutreffend informiert, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass alle auch auf Basis dieser Information Handlungsentscheidungen treffen. Nimmt man dies als Anknüpfungspunkt für die Annahme einer Gesamtrezeption, kann es die Analogie zu einem Körper nahelegen: Journalisten wären in diesem Bild die Augen und Ohren und der Mund einer Gesellschaft. Was einem Journalisten sicht- oder hörbar wird, kann er zur Kenntnis nehmen, es durchdenken, verarbeiten und zu einem Informationsruf an alle Mitglieder der Gesellschaft werden lassen. Kurz: Der Journalist wäre in dieser Analogie ein Sinnesorgan auch der staatlichen Gemeinschaft.

Wohin führt dieser Gedanke am Ende? Er führt hier abschließend zu einer strafrechtlichen Parallelbetrachtung: Wer einen anderen körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt, der wird bestraft. Dies ist der von Juristen sogenannte „Grundtatbestand“ einer Körperverletzung. Es gibt aber neben der „gewöhnlichen“ Körperverletzung auch noch schwerer bestrafte, sogenannte „qualifizierte“ Tatbestände. Neben der gefährlichen Körperverletzung, als die man Taten mit besonders gefährlichen Werkzeugen beschreibt, kennt das Strafgesetzbuch auch die „schwere Körperverletzung“. Sie ist – anders als die gewöhnliche oder gefährliche Körperverletzung – nicht lediglich ein Vergehen, sondern ein Verbrechen. Der Täter muss bei einer schweren Körperverletzung mindestens ein Jahr ins Gefängnis.

Was macht eine Körperverletzung zu einer schweren? Wenn das Opfer ganz oder teilweise sein Sehvermögen, sein Gehör oder sein Sprechvermögen verliert, dann ist der Täter ein Verbrecher. Mithin ließe sich resümieren: Wer den Menschen in einer Republik ihre journalistischen Augen und Ohren verklebt, wer ihre journalistischen Münder nicht ungehindert reden und ihre Hände nicht frei schreiben lässt, der macht sich eines schweren Angriffs auf die Kommunikationsfähigkeit der Gesellschaft schuldig. Eine Demokratie braucht die Möglichkeit ihrer Mitglieder zur Kontaktaufnahme mit der Welt und mit ihren Mitmenschen. Fehlinformationen auszumachen und Zutreffendes als richtig zu erkennen, ist eine Grundaufgabe jedes einzelnen Menschen. Die Erfüllung dieser Aufgabe kann nicht legitim verunmöglicht werden.


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