15. Februar 2023 19:00

Die Grundnorm des menschlichen Zusammenlebens Was ist Gerechtigkeit?

Unabdingbar ist die Abwesenheit von Willkür

von Markus Krall

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Jetzt habe ich hier auf Freiheitsfunken achtmal geübt, Begriffsdefinitionen aus libertärer Sicht für unsere Leser zu liefern, bevor ich den – ziemlich kühnen – Versuch wage, mich an den Begriff der Gerechtigkeit heranzurobben.

Das wird nicht ganz einfach, denn Gerechtigkeit ist der 800-Pfund-Gorilla in unserer Gesellschaft. Jeder führt sie ständig im Munde, aber keine zwei Personen haben die gleiche Vorstellung davon, was genau Gerechtigkeit ist, noch viel weniger davon, wie sie erreicht werden kann. Einig sind sich alle aber darin, dass Gerechtigkeit in der Liste der wichtigen Ziele ganz oben stehen muss, insbesondere angesichts der Ungerechtigkeit der Welt, an deren begrifflicher Klärung ich mir jetzt nicht die Zähne ausbeißen werde.

Was also ist Gerechtigkeit?

Fangen wir damit an, was die Menschen darin sehen oder zu erkennen glauben, dann können wir beobachten, dass sich die unterschiedlichen Vorstellungen in gewisser Weise entlang eines Kontinuums bewegen, dessen zwei entgegengesetzte Enden, die geradezu für zwei unterschiedliche Auffassungen vom Leben stehen, zumindest aber für eine Präferenz der Attribute, die man gerne an das Wort „gerecht“ anhängt.

Für die meisten Menschen ist Gerechtigkeit ein so schwieriger Begriff, dass sie nicht in der Lage sind, sie beim Namen zu nennen, ohne sie zuvor mit einem Attribut zu versehen. Die beiden Attribute, die das Spektrum der Gerechtigkeitsbegriffe definieren, sind „sozial“ und „Leistung“. Wir haben auf der einen Seite die Vertreter der „Leistungsgerechtigkeit“. Für sie ist der Gerechtigkeit Genüge getan, wenn jeder das hat, was er sich durch Leistung erarbeitet hat.

Dieses Gerechtigkeitsbild ist geprägt von der Gleichheit vor dem Gesetz: Jeder ist frei, Wert zu schaffen und diesen im freien und freiwilligen Austausch mit anderen zu mehren. Was er so erarbeitet, gehört ihm. Mit diesem Gerechtigkeitsbegriff eng verbunden ist das Konzept des privaten Eigentums, und es ist unschwer zu erkennen, dass dieses von den Vertretern der Marktwirtschaft hochgehalten wird.

Ums „Haben“, also um die Verfügungsgewalt über eine Sache, geht es auch bei dem anderen Pol im Kontinuum der Auffassungen von Gerechtigkeit, bei den Vertretern der sogenannten sozialen Gerechtigkeit: Das Haben ist hier aber nicht an die Leistung, sondern an das Bedürfnis geknüpft. Marx formulierte es sogar so klar, dass er den Anspruch des Bedürftigen auf die Leistungsbereitschaft des Leistungsfähigen gleich in die Definition mit hineinpresste, als er schrieb: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“.

Zerlegt man diesen Satz in seine Einzelteile, so kommt Folgendes dabei heraus: Der Beitrag des Einzelnen zum Erwirtschaften des Wohlstands – bei Marx der „Mehrwert“ – orientiert sich an den Fähigkeiten. Wer mehr kann, muss mehr beitragen. Der Leistungsträger wird nicht gefragt, ob er möchte – er muss. Diese Sichtweise begründete das Sklavenarbeitssystem im sowjetischen Gulag als Ausfluss sozialistisch-kommunistischer Gerechtigkeit. Jeder nach seinen Fähigkeiten heißt nämlich im Zweifel, dass der Staat durch Arbeitsdruck und Gewalt herausfinden darf, wo diese Fähigkeiten enden.

„Die Bedürfnisse“ des Einzelnen bestimmen darüber, was er erhält. Dabei können die Bedürfnisse des Faulen sehr viel größer sein als die des Leistungsträgers. Die Frage stellt sich, wie die Bedürfnisse gemessen werden. Da uns im Sozialismus kein freies System des Warenaustausches zur Verfügung steht, das geeignet und in der Lage wäre, jeden Einzelnen zur Offenbarung seiner eigenen Nutzenfunktion zu zwingen (Was ist jeder bereit, für eine Sache, die er will, zu bezahlen?), ist es nötig, eine Instanz zu installieren, die diese Bedürfnisse von außen erkennt und dann über ihre Befriedigung entscheidet. Es wird niemanden überraschen, dass diese Instanz die staatliche Bürokratie unter der Führung der sozialistischen Eliten ist und dass folgerichtig die weise Führung die größten Bedürfnisse bei sich selbst erkennt.

Aber das ist eigentlich nur ein Nebenaspekt, denn eigentlich geht es hier und heute ja um Gerechtigkeit. Wir sehen also an den beiden Polen ihrer möglichen Definitionen die beiden Prototypen soziale und Leistungsgerechtigkeit, und dann können wir beobachten, dass die meisten Menschen der Auffassung sind, dass sich die „wahre“ Gerechtigkeit irgendwo zwischen diesen Extremen bewege. Dieser laue Mittelweg ist nach meiner Überzeugung das Ergebnis von Denkfaulheit und Bequemlichkeit sowie dem Wunsch, einer konfrontativen Debatte aus dem Wege zu gehen.

Hier finden wir die Anhänger des „dritten Weges“, des Zwischendings zwischen Sozialismus und Marktwirtschaft. Es gibt zwei unterschiedliche Typen von Menschen, die dieser Idee anhängen. Da sind zum einen diejenigen, die wissen, dass nur die Marktwirtschaft Wohlstand schafft, und der Hypothese folgen, dass der Nachteil der Marktwirtschaft eben eine „ungerechte“, weil „zu ungleiche“ Verteilung dieses Wohlstandes sei. Sie möchten die Ergebnisse des Marktes nur ein wenig „korrigieren“, übersehen dabei aber die Mechanismen, die der Sozialstaat zur Erosion jeder Marktwirtschaft in Gang setzt. Ich nenne sie die „gefühligen Marktanhänger“.

Die andere Gruppe sind die Sozialisten, denen klar ist, dass ihr System bei der Schaffung von Wohlstand der Marktwirtschaft radikal unterlegen ist und die daher nach einem Weg suchen, das von ihnen so geliebte sozialistische System auf Samtpfoten einzuführen. Im Gegensatz zu den gefühligen Marktanhängern sind sie sich über die Mechanismen, mit denen der Sozialstaat die Marktwirtschaft untergräbt, völlig im Klaren. Für sie ist das ja gerade das Gute daran.

Diese Mechanismen wurden in der Vergangenheit vielfach analysiert, diskutiert und empirisch beobachtet. Sie bestehen vor allem aus zwei Effekten: Da ist der politische Zyklus, der es der politischen Klasse in einer repräsentativen Demokratie ermöglicht, mit anderer Leute Geld Wählerstimmen zu kaufen, und der immer nur in eine Richtung voranschreiten kann. Diese Richtung bedeutet in jedem Wahlzyklus mehr Wahlgeschenke, ohne dass die alten zurückgenommen werden können. Jedes dieser Wahlgeschenke erfolgt im Namen der „sozialen Gerechtigkeit“ oder – ganz neu! – der Klimagerechtigkeit oder der kriegerischen Verteidigung unserer „Werte“. Das ist ein besonders fabelhafter Trick, die Leute um ihr Geld zu bringen, weil niemand eine Gegenleistung erwartet, denn um den Planeten zu retten, muss es allen schlechter gehen als bisher. Der Krieg fordert halt Opfer, egal, ob gegen die böse Klimakatastrophe oder den bösen Diktator: Das ist Solidarität in ihrer reinsten Form.

Dieser politische Zyklus erfordert es, die Ausgaben des Staates auf immer neue Höhen zu treiben. Ergänzt wird er vom Drang der Bürokratie, sich zu vergrößern und sich in immer übergriffigerer Weise in das Leben der Menschen einzumischen. Der Sozialstaat postuliert für sich natürlich das Recht, die Wohnungen, ja, das ganze Leben seiner Nutznießer zu inspizieren, denn es muss ja Missbrauch vermieden werden.

So gewöhnt man die Menschen an diese Übergriffigkeit und schafft immer neue Stellen in einer immer machtvolleren und autoritären Bürokratie. Die Finanzierung dieses Zyklus stellt ein Problem für die politische Klasse dar. Sie erfolgt am Anfang über die Steuerschraube. Wenn Sie ausgereizt ist, kommt die Schuldenschraube bis an den Punkt, an dem die Kapitalmärkte ein Land als kreditunwürdig einstufen. Dann folgt die monetäre Schraube: die Akkommodierung der Ausgabenwut des Staates durch die Notenpresse der Zentralbank.

Alle drei Schrauben stellen Enteignungen von erarbeitetem Einkommen dar, das nach dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit nicht enteignet werden sollte. Kann man bei der Steuer- und der Schuldenschraube wenigstens noch von einer hilfsweisen Rechtfertigung durch das demokratische Mehrheitsprinzip sprechen – was allerdings nichts mit Gerechtigkeit zu tun hat, auch wenn es sie im Munde führt –, so gilt das für die Gelddruckerei nicht. Sie erfolgt ohne demokratisches Mandat, in einem Konstrukt wie dem Euro noch mehr als bei nationalen Notenbanken, deren demokratische Legitimation auch schon fraglich ist.

Die soziale Gerechtigkeit kommt also nicht ohne Aushebelung der Leistungsgerechtigkeit aus. Auch der demokratische Anspruch wird abgelegt, sobald er sich erschöpft hat.

Die Vertreter des Sozialismus wissen, dass dieser „dritte Weg“ eine staatliche Interventionsspirale in Gang setzt, die die Marktwirtschaft langsam nach der Methode Boa constrictor erwürgt und in eine Staatswirtschaft umwandelt. Der absehbare Zusammenbruch dient ihnen dazu, das revolutionäre Moment herbeizuführen, denn, so wird argumentiert, die Marktwirtschaft habe ja „versagt“. Diese Täter-Opfer-Umkehr ist ein Muster, das wir bei der sozialistischen Agitation immer wieder beobachten können.

Es bleibt die Frage, welche Form der Gerechtigkeit die „wahre“ Gerechtigkeit ist: Leistungsgerechtigkeit oder soziale Gerechtigkeit? Ist am Ende, obwohl sie uns alle ins Elend und in den Gulag führt, die soziale Gerechtigkeit die einzig wahre?

Die Antwort ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip. Dieses basiert auf der Bindung an Regeln, die logisch konsistent sind, und ist damit der Antagonist der Willkür.

Hier und nur hier liegt die eigentliche Wurzel des Begriffes Gerechtigkeit: Sie beinhaltet ganz wesentlich die Abwesenheit von Willkür. Herrscht die Willkür, dann ist Gerechtigkeit unmöglich. Die soziale Gerechtigkeit als Begriff stützt sich aber zwingend auf die Willkür, entweder eines Herrschers, einer herrschenden Klasse oder einer Mehrheit. Zwingt eine Mehrheit die Minderheit der Leistungsträger zur Umverteilung, so hat sie zwar das demokratische Prinzip hinter sich, muss aber der Tatsache ins Auge sehen, dass jeder noch so elaborierte Maßstab solcher Umverteilung willkürlich ist, weil es aus einem Anspruchsdenken hergeleitet wird, das nicht begründet werden kann.

Der Rechtsstaat als Grundprinzip hingegen basiert auf Regeln, die konsistent, logisch und widerspruchsfrei sein müssen, damit alle in seinem Gültigkeitsbereich lebenden Menschen ihr Verhalten so an ihm ausrichten können, dass ihr Verhalten auch vorhersagbare Ergebnisse zeitigt. Der Rechtsstaat macht das Leben der Menschen planbar. Wo er nicht existiert, sind die Menschen gezwungen, vor der Willkür in Deckung zu gehen. Der Rechtsstaat, das können wir aktuell beobachten, kann auf viele verschiedene Weisen ausgehöhlt werden.

Er kann durch Gesetze zerstört werden, die im Widerspruch zu den Menschen- und Bürgerrechten stehen. Er kann durch Richter zerstört werden, die das Recht beugen oder brechen oder verweigern. Er kann durch eine Flut von Gesetzen zerstört werden, die es dem Einzelnen unmöglich machen, den Überblick zu behalten und sich so gesetzeskonform zu verhalten. Die dritte Methode hat für die herrschende Klasse den Vorteil, dass sie alle zu potenziellen Kriminellen macht, die fürchten müssen, von der Staatsgewalt verfolgt zu werden, wenn sie sich nicht angepasst und botmäßig verhalten.

Der Gipfel dieser Methode ist im sozialistischen Staat erreicht, über den ein Solschenizyn zugeschriebenes Zitat sagt: „Den Kommunismus erkennt man daran, dass er die Kriminellen verschont und den politischen Gegner kriminalisiert.“

Eines der wesentlichsten Merkmale des Rechtsstaates ist das Eigentum. Wo es nicht existiert, ist die praktische Durchführung der Rechtsstaatlichkeit nicht möglich, denn wenn es kein Privateigentum gibt, dann ist das Individuum nicht in der Lage, für sich selbst zu sorgen und Entscheidungen zum Wohl seiner selbst und seiner Familie zu treffen, sondern er ist auf die Zuteilungswirtschaft der staatlichen Bürokratie für sein Überleben angewiesen. Diese Zuteilungswirtschaft ist aber, wie wir bereits bei der Frage der „sozialen Gerechtigkeit“ gesehen haben, ohne Willkür nicht durchführbar.

Natürlich gibt es auch im Sozialismus Gesetze und Gerichte. Ihr Zweck ist aber nicht der Rechtsstaat, sondern seine Travestie. Was sie liefern, ist die Einschüchterung im maoistischen Sinne – „Bestrafe einen, erziehe hundert!“ –, den Schauprozess zur Erziehung der Massen und zur Einschüchterung der Oppositionellen, den Anschein von Gebundenheit an Gesetze, die sofort ungültig werden, sobald das einzige und oberste Gesetz angetastet werden könnte, nämlich die Herrschaft der Partei und ihrer Diktatur.

Das Eigentum ist die Voraussetzung für den Rechtsstaat, und sein Schutz ist seine vornehmste Aufgabe. Daher können wir das Maß an Rechtsstaatlichkeit in einem Land direkt festmachen am Respekt vor dem Eigentum, der in diesem Land herrscht. In einem Land, in dem allerorten nach Enteignungen geschrien wird, verheißt das nichts Gutes.

Die Leistungsgerechtigkeit leitet sich direkt aus dem Schutz des Eigentums ab. Denn wenn das Eigentum rechtmäßig erworben wurde, so ist es das Ergebnis von Leistung. Die als Anspruch formulierte soziale Gerechtigkeit hingegen kann nicht beanspruchen, Gerechtigkeit zu repräsentieren. Das heißt nicht, dass das Soziale in einer Gesellschaft keinen Platz hätte, aber es resultiert nicht aus der Gerechtigkeit, noch viel weniger aus dem Rechtsstaat, sondern aus der gelebten Caritas des Menschen. Ich erlaube mir den Hinweis auf mein Essay „Was ist sozial“, erschienen in Freiheitsfunken.

Was also ist Gerechtigkeit? Sie fußt auf der Anerkennung des Individuums und seiner unveräußerlichen Menschenrechte, dem Eigentum des Individuums an sich selbst, dem Eigentum an Dingen zur Realisierung dieses Eigentums an sich selbst, der Gebundenheit an logische, konsistente und widerspruchsfreie Regeln, die dies anerkennen und somit den Rechtsstaat begründen.

Was ist Gerechtigkeit nicht? Die Herrschaft der Willkür und komme sie noch so wohl gekleidet und schmeichlerisch daher.


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