Zeitgeschehen: Das alte Gift
Die Zeiten ändern sich und mit ihnen die Verhältnisse – außer der Rezeptur des Fortschritts der sogenannten Fortschrittlichen
von Monika Hausammann (Pausiert)
von Monika Hausammann (Pausiert) drucken
Ein Buch Edzard Schapers „Der Henker“ handelt von Estland um das Jahr 1905. Das Land ist zu diesem Zeitpunkt politisch, kulturell und identitätsmäßig zerrissen zwischen den Esten, der deutschen Ritterschaft, die auch unter den Russen das Privileg einer öffentlich-rechtlichen Selbstverwaltung genoss, und dem russisch-zaristischen Reich. Um sich gegen die Russifizierungs-Kampagne Moskaus ab 1885 zu stemmen, versuchte die Ritterschaft mit dem estnischen Teil der Bevölkerung auf einen notwendig gewordenen gemeinsamen politischen Nenner zu kommen. Zu diesem Zweck war man auch bereit zu tun, was bis dahin undenkbar gewesen war: Leute aus den eigenen Reihen, die seit Dutzenden von Generationen in dem Land lebten, fallen zu lassen, wenn die öffentliche Meinung über sie dergestalt war, dass sie einen Konsens gefährden konnte. Von einem solchen Fallengelassenen und dessen Zwiespältigkeit, die jene des Landes gleichsam spiegelt, handelt die Geschichte. Über den 32-Jährigen kursierten aufgrund seiner Herkunft und seiner militärischen Laufbahn und Tätigkeit die abstrusesten Gerüchte, Geschichten und Erfindungen. Sein „Image“, wie man heute sagen würde, wuchs dabei sozusagen über den Mann hinaus wie ein gigantischer, in die Schwärze von Gräueln und Unmenschlichkeit hineinreichender Schatten und hatte mit dem realen Mann, der für sein Erbe und all jene sorgen wollte, die davon lebten, nichts mehr gemein. Was über diesen Menschen erzählt und von ihm geglaubt wurde, spottet jeder Vorstellung. Und mehr als einmal gelangt man bei der Lektüre unversehens selbst in eine Zwiespältigkeit: in jene zwischen ungläubigem Lachen und händeringender Fassungslosigkeit. Sogar die altbewährte Brunnenvergifterei wurde bemüht, und man erwartet im Grunde schon die Oblatenschändung. Aber mit dem Menschen und dem, was man ihm an monströsen Eigenschaften andichtete, war es noch längst nicht getan. Auch sämtliche seiner für jeden nachprüfbaren Handlungen wurden freihändig umgedichtet oder ganz erfunden. Als es beispielsweise aufgrund der permanenten Aufwiegelei selbsternannter „Revolutionäre“ zu zahllosen Überfällen auf Landgüter kam, in deren Zug die seit Jahrhunderten in dem Land lebenden Gutsbesitzer, ihre Familien und jeder, der für sie oder mit ihnen arbeitete, bestialisch abgeschlachtet, die Güter geplündert und angezündet wurden, sah sich der Protagonist in die Lage versetzt, zum Schutz des Pfarrers und der Gemeinde des Kirchspiels vier beritten Polizisten zur Bewachung der Kirche zu beantragen. Die Kunde von dieser Maßnahme des deutschen „Henkers“ verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Bereits am Abend waren es nicht mehr nur vier Polizisten, sondern zehn. Kurz darauf bereits 20, dann zwei Schwadronen und schließlich ein ganzes Ulanen-Regiment, das alles tötete, was nicht bei drei auf den Bäumen war – Frauen, Kinder, „das ganze verdammte Universum“, wie es in einem Le-Carré-Roman heißen könnte. Und alle, alle glaubten es. Die Furcht vor dem Mann und der Hass auf ihn wuchsen ins Unermessliche. Der Anschlag auf sein Gut und sein Leben war keine Frage mehr des Ob, sondern nur noch des Wann.
Faszinierend an dieser Geschichte, aufs fürchterlichste faszinierend, ist in meinen Augen die Glaubensbereitschaft von Menschen, die nicht nur die Schauermären über einen ihrer Mitmenschen glauben, sondern ebenso stark an ihren eigenen Glauben. Sie glauben wirklich, dass sie glauben, der Mann sei kein Mensch, sondern ein Monster. Sie glauben wirklich, sich vor ihm, den sie auf der Straße nicht erkennen würden, zu fürchten. Und sie hassen ihn aufgrund dieses Glaubens wirklich von Herzen. Aber sobald dieser Glaube in die Lage kommt, sich zu konkretisieren und in einer Handlung quasi zu entladen, dann wird deutlich, dass alles, was ihn ausmacht, nicht dem Mann gilt, den kein Winziger persönlich kennt, sondern dem Abstraktum eines Standes, dem er angehört, und dass die Furcht eine reine Feigenblatt-Furcht ist, die dem Zweck dient, das zu kaschieren, was in Wahrheit alles antreibt: Habgier und Neid. Und die Parolen von Veränderung, von Teilhabe, von Neustart und Gerechtigkeit entpuppen sich als hohl und leer: Denn die Veränderung erschöpft sich in Zerstörung und Tod, die Teilhabe ist ein Rattenrennen um das zu verteilende Fressen, und der Neustart ist bloß die Vernichtung all dessen, was über Jahrhunderte hinweg aufgebaut worden ist.
Man ist bei alldem versucht, sich zu sagen, zum Glück seien diese unseligen Zeiten vorbei. Zum Glück sei man heute aufgeklärter, zum Glück kenne man in unseren Breitengraden nicht mehr die materielle Not, die solche Entwicklungen und Geschehnisse auch befeuerten. Und dann – man hatte noch nicht die Zeit, dem tröstlichen Glauben die nötige Festigkeit zu verschaffen – stellt man fest, dass genau dasselbe „Spiel“ wieder eröffnet ist und das alte Gift von Politik und Medien in stetig erhöhter Dosierung längst wieder in den Kreislauf unseres Zusammenlebens geträufelt wird: Über den Umweg der Vermonsterung werden Menschen, die keiner kennt, von denen aber jeder weiß, dass sie „der Feind“ sind, zu Unmenschen erklärt. Ohne Not wird erneut an ein Recht geglaubt, sie ihres Leibes und Gutes enteignen zu dürfen, während in dem Glauben an das Recht schon jetzt hörbar die „demokratische Pflicht“ anklingt. Wer die Pflicht verweigert oder anzweifelt, ist ein Kollaborateur, ein Gefährder, ein Demokratiefeind. Und längst weiß jeder wieder, egal, ob bewusst oder unbewusst, dass es keine Satire, sondern ebendieses Gift ist, wenn WDR-Satire von einer Frau berichtet, die mit 800 Ratten in einer Wohnung gehaust hätte, wo es doch normalerweise so sei, dass auf eine Ratte 800 Wohnungen kämen.
Und wenn mir alldem zum Trotz dennoch ein Fitzelchen Glaube daran geblieben ist, dass jeder Glaube und jede Glaubensbereitschaft in Sachen Schauermären an einem gewissen Punkt und jeder Propaganda-Walze zum Trotz von der uns umgebenden Wirklichkeit überwältigt wird, dann hat mir ein 80-jähriger Bauer hier im Südwesten (!) Frankreichs diesen an einem Morgen vergangener Woche bei minus sechs (!) Grad gründlich ausgetrieben mit der Bemerkung, er wüsste wirklich nicht, wie das weitergehen solle für seinen Enkel, jetzt, wo wir aufgrund des Klimawandels keine Winter und überhaupt keine Jahreszeiten mehr hätten. Früher, die Alten, die hätten noch Winter gehabt und Frühling und Sommer und Herbst – und jetzt: alles vorbei. Im Fernsehen sagen sie …
Die Bibel ist auch in dieser Hinsicht aktuell mit dem Rat, sich nicht auf Menschen und auch nicht auf Staaten zu verlassen.
Kommentare
Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.
Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.