13. August 2025 06:00

Buchbesprechung Brief an einen Sohn

„Befreiungsschlag – Hoffnung für eine verloren geglaubte Welt“

von Monika Hausammann drucken

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Bildquelle: Olivier Kessler Unbedingt zu empfehlen: Das neue Buch von Olivier Kessler

Zürich, Enge-Quartier – in seiner Einzimmerwohnung feiert Mike seinen 30. Geburtstag. Allein. Es ist sein erster arbeitsfreier Halbtag in sechs Monaten. Dass er nichts hat, womit er feiern, niemanden, den er einladen könnte, hat denselben Grund wie die Tatsache, dass er seine Zeit und seine Kompetenz nicht in einen Job als IT-Berater oder in eine eigene Firma investieren kann, sondern sein Auskommen in einem Friseursalon fristet: Er hat zu wenige Punkte im Sozialkredit-System. Er ist nur ein Stufe-zwei-Mensch. Die Ende der Zwanzigerjahre, nach einem verheerenden Börsen- und Wirtschafts-Crash und den darauffolgenden sozialen Unruhen eingeführte KI-gestützte Gesellschaftsordnung unter den „Vereinten Nationen“ ist der Preis, den die Mehrheit der Menschen für ein Leben in Frieden und Sicherheit zu zahlen bereit war. Dass Mike in dieser neuen, sicheren Welt nur auf Stufe zwei steht, verdankt er seinen Eltern, die zu den wenigen gehörten, die keinen Fußbreit nachgaben, als es darum ging, Privatsphäre und Abwehrrechte gegenüber dem Staat zugunsten einer Stallvieh-Freiheit aus Kontrolle und Abhängigkeit aufzugeben. Seine Mutter bezahlte mit ihrem Leben, der Vater sitzt im Gefängnis und er selber ... Stufe zwei. Für immer. Hoffnungslos – wäre da nicht Maria, die er seit Schultagen kennt. Schön war sie schon immer, chaotisch, vergesslich, unpünktlich. In all das verliebt sich Mike – und noch mehr in ihren Mut, ihre fraglose Loyalität, ihren unbedingten Willen zu einem Leben, das mehr ist als bloßes Am-Leben-Sein. Sie schafft es, das System auszutricksen und schenkt Mike zum Geburtstag ein Treffen mit seinem Vater im Gefängnis. Das Gespräch zwischen den beiden verändert alles, und es beginnt ein gnadenloser Wettkampf, der Mike, Maria und einer kleinen Gruppe zur Freiheit Entschlossener das Äußerste abverlangt.

„Ich erzähle dir jetzt genau, wie es dazu kam. Es ist eine Geschichte voller Wendungen, voller dunkler Machenschaften, voller Verrat – aber auch voller Hoffnung. Und sie ist wichtig. Denn wenn du sie verstanden hast, wirst du alles in den Händen halten, was du brauchst.“

Würden Sie bei diesem Satz von Mikes Vater an Zahlen denken? An staubtrockene Wirtschafts- und Geldtheorie? Sehr wahrscheinlich nicht – und genau das ist die Stärke von Kesslers Buch: Scharf, klar, sauber geschrieben und packend erzählt, verarbeitet Kessler in „Befreiungsschlag“ Themen, vor denen die Mehrheit von uns unter anderen Vorzeichen wohl Reißaus nehmen würde. Ich habe das Buch an zwei Abenden durchgelesen und fühlte mich blendend unterhalten. Und auch berührt. Denn die Story ist mitreißend und fordernd – aber sie ist auch der Brief eines Vaters an seinen Sohn. Nicht nur an Kesslers eigenen Sohn, sondern an all die Söhne und Töchter da draußen, die die Wahl des Modus ihres Lebens noch vor sich oder noch Zeit haben, ihn zu revidieren. Die Wahl zwischen einem Leben als echtem Menschen in echter Freiheit und damit persönlicher Verantwortlichkeit und einem Leben in scheinbarer Sicherheit als bloße Funktion von Politik und Verwaltung, als Gesellschafts-Massenpartikel im Termitenstaat – abhängig, verwaltet, unzufrieden, unfrei.

Zu dramatisch? Zu schwarz-weiß? Nein – genau richtig. Was einem wie Übertreibung vorkommt, ist bloß die langjährige Gewöhnung an die breiigen Erzählungen des staatlichen Gerechtigkeits-Kitschs. Der Eindruck des Schwarz-Weißen ist der Verinnerlichung von obrigkeitlichen Versprechungen geschuldet, die nie gehalten werden können. Lügen? Hat jemand Lügen gesagt? Dieses ab- und ausschließende Wort in der inklusivsten aller Zeiten, die ihre Wahrheiten täglich neu aushandelt und ansonsten auf Modellierungen und Gefühle setzt? Oh ja, Kessler nennt die Dinge beim Namen – er darf sie beim Namen nennen, denn kaum einer kennt seinen Stoff so gut wie er. Eine Täuschung nennt er eine Täuschung. Eine Mär eine Mär. Nicht im Schlagwort-Modus, sondern konsequent und oft im Gespräch die Wurzeln freilegend und damit im besten Sinne radikal. Eingebettet in das unwiderstehliche Vorwärts der Ereignisse rund um eine Gruppe echt Freier und Frei-sein-Wollender dieser dystopischen Welt im Jahr 2048.

Wunderbar schlüssig und für jeden verständlich werden die liebgewonnenen und einigen wenigen so nützlichen Erzählungen über „die Gesellschaft“ und die Grundlagen ihres Wohlstands und ihrer Freiheit zerlegt. Geld: Eine Erfindung des Staates und nicht etwas, das natürlich überall dort entsteht, wo Menschen freiwillig Handel betreiben? Zentralistische Strukturen: Effizienter als freiwillige Zusammenarbeit? Steuern: Der Preis für eine zivilisierte Welt? Die Ausweitung der Geldmenge (Inflation): Eine gute Sache – ihre Verkleinerung oder Konstanthaltung (Deflation) schlecht? Für wen gut? Für wen schlecht? Die großen Finanzkrisen: Auswüchse des Raubtier-Kapitalismus? Und die sogenannten Rettungen: Die säkulare Erlösung von Staates Gnaden? Zu wessen Gunsten? Freie, unregulierte Märkte ohne staatliche Regulierung: Ein Sturm, der uns alle verschlingt? Ein Mechanismus zur Zementierung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit? Persönliches Sparen und Vorsorgen: Überholt in Zeiten staatlicher Allbarmherzigkeit, Allrettung und Allvorsorge? Oder ist es vielleicht doch so, dass alles ganz anders ist?

Kurzum: Wer das Buch erwirbt oder geschenkt bekommt, darf gespannt sein. Festhalten und Konzentration sind empfohlen – es kommt knüppeldick. Stellenweise humorvoll. Klar wertend, aber nie verurteilend. Was besonders ist – gerade heute: Durch alles hindurch und nie aufdringlich lichtert jene Wahrheit, die älter ist und tiefer reicht als wir alle: dass die Gottabsage der Entscheidung zur Knechtschaft gleichkommt. Jedes Mal aufs Neue. Zu einer Knechtschaft des jeder gegen jeden unter der Tyrannei menschlicher Zivilreligionen, Gottkonzepte und Neo-Orthodoxien. Der Mensch aber ist als Freier geschaffen. Und als solcher nicht gekettet an die Hysterien und Moden von Gegenwärtigkeit und Gefühlen, sondern auf Sinn, auf Größeres, Weiteres hin ausgerichtet. Über sich selbst hinaus in das Du, das Wagnis, das Weite und das ganz Andere und Überzeitliche hinein. Kessler scheint zu wissen, dass, wer beten kann, zäher ist und länger durchhält. Denn seine Helden beten – und halten durch. 

Olivier Kessler: „Befreiungsschlag – Hoffnung für eine verloren geglaubte Welt“, 392 Seiten, Hardcover, Orgshop GmbH


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