Der Kampf um die öffentliche Meinung: Excommunicado!
„Erkenntnistheoretische Kriegsführung“ – damals und heute
von Andreas Tiedtke (Pausiert)
von Andreas Tiedtke (Pausiert) drucken
Nicht erst, aber besonders auch in letzter Zeit gelangt man zu dem Eindruck, dass „Cancel Culture“, „Framing“, „Fakten-Checking“ und eine Kultur des Diffamierens und Ausgrenzens immer weiter um sich greifen. Manche Stadtverwaltungen „canceln“ Auftritte von Rednern, wenn sie eine Möglichkeit haben, auf die Vermietung von Hallen einzuwirken; oftmals müssen sich die Redner erst wieder in den Mietvertrag reinklagen. Begleitet wird dies zuweilen von einer Hetzkampagne mancher Leitmedien gegen diese Redner, in denen die Redner – manchmal über verschlungene Umwege – mit „anderweitig Verfolgten“ in Verbindung gebracht werden: Sogenanntes „Kontakt-Shaming“. Begriffe wie „Verschwörungstheoretiker“ fallen oder „rechts“ oder „Schwurbler“.
Begleitet wird diese „mediale Exkommunikation“, der Ausschluss aus dem Kreis der angeblichen „Konsensgemeinschaft“, von „Faktencheckern“, die meinen, den Betroffenen leichtfüßig inhaltlich widerlegen zu können. Amüsant in diesem Zusammenhang ist ein Beitrag der New York Post, in dem diese berichtet, dass der US-Journalist John Stossel einige Videos auf Facebook gepostet hatte, die den „Herzschrittmacher linker Politik“ („the third rail of liberal politics“) betrafen: Klimawandel. Die von Facebook beauftragten „Faktenchecker“ hätten die üblichen Labels wie „falsch“ oder „fehlender Kontext“ angehängt und dagegen habe sich Stossel gerichtlich gewehrt. Facebook habe gemeint, es wasche seine Hände in Unschuld: Das „Fakten-Checking“ sei durch das Recht auf Meinungsfreiheit verfassungsrechtlich garantiert. Die New York Post titelte: „Facebook gibt zu: ‚Fakten-Checks‘ sind in Wirklichkeit nur (linke) Meinung“.
Hier geht es nun nicht um die Positionen, die die jeweiligen Redner vertreten, sondern um die Art und Weise, wie man mit ihnen umgeht. Warum ist das, was sie zu sagen haben, so gefährlich, dass es unzumutbar für die Öffentlichkeit ist, sich ein eigenes Urteil darüber zu bilden? Mangelt es der Öffentlichkeit an Verstandeskraft?
Der Krieg um die öffentliche Meinung scheint so alt zu sein wie die Zivilisation. Schon in der Antike gab es Schismen zwischen mächtigen Sonderinteressengruppen, im ausgehenden Mittelalter bekriegten sich die Guelfen mit den Ghibellinen, später die weißen mit den schwarzen Guelfen, nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Schmähschriften. Schismen über Schismen. Das ist verständlich, denn selbst in kleinsten Familien gibt es widerstreitende Interessen und Streit, aber der rote Faden, um den es hier geht, ist die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins und der Urteilskraft.
So wurde der Ghibellinen-Kaiser Friedrich II. zweimal vom Papst exkommuniziert und zuletzt in Lyon von einem Kleriker-Konzil seines Kaiseramtes enthoben. Damals beanspruchte der Papst das alleinige Hoheitsrecht über die „Erkenntnis Gottes“, also die Idee von der Beschaffenheit der Welt und des Selbst innerhalb der Christenheit (obwohl das Schisma mit der orthodoxen Kirche bereits fast zwei Jahrhunderte zurücklag). Die Tat folgt der Idee, wer also die Ideen der Menschen kontrolliert, der kontrolliert ihr Handeln. Diese Schlussfolgerung der Praxeologie war den Mächtigen anscheinend zu jeder Zeit bekannt. Ein Exkommunizierter war „vogelfrei“, durfte kein Eigentum haben und war aus der Gesellschaft ausgegrenzt, ausgestoßen, dämonisiert. Und auch die Kontaktschuld gab es schon: Es war jedermann verboten, den Ausgestoßenen zu helfen. Das Glück des deutsch-römischen Kaisers war, dass es das Schisma zwischen Guelfen und Ghibellinen gab, die sich die Waage hielten, also keine Machtkonzentration in einem Punkt, beim Papst.
Immanuel Kant erkannte ebenfalls die „erkenntnistheoretische Kriegsführung“ seiner Zeit. Er sprach den Menschen frei von den Priestern und sagte, der Mensch sei – von der Intelligenz her betrachtet – weit genug, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Er brauche die „Priesterschaft“ nicht, die ihm vorgeben möchte, was er zu denken habe. Allein, Kant kam auf den entscheidenden Punkt: Es liegt nicht an den verstandesmäßigen Fähigkeiten, sondern die Menschen wurden emotional eingeschüchtert, verängstigt. Er schreibt, dass die die Menschen von ihrer „gütigsten Oberaufsicht“ „verhausvieht“ wurden. Man mache den Menschen Angst, damit sie es nicht wagen, allein zu denken. In die heutige Sprache übersetzt: Im Wege psychologischer Kriegsführung wurden die Menschen sozusagen „gestockholmt“, verängstigt und verunsichert, damit sie sich weiterhin oder wieder auf die „gütigste Oberaufsicht“ verlassen. Die Aufklärung war nach Kant in einer Sackgasse angekommen, in der die Leute sozusagen keine Gelehrten bräuchten, sondern Therapeuten, um wieder herauszufinden.
Kant rief zwar zu Gehorsam im Tun gegenüber der Obrigkeit auf. Ansonsten wäre er wohl nicht nur zensiert, sondern auch anderweitig „gecancelt“ worden, etwa weggesperrt oder dergleichen. Aber im Denken, so Kant, müsse der Mensch frei von Zwang und äußeren Vorgaben sein. Das würde natürlich dazu führen, dass sich die Menschen bewusstwerden, dass sie beherrscht werden – nicht nur äußerlich durch Anordnungen unter Androhung von Zwang, sondern vor allem geistig durch psychologische oder „erkenntnistheoretische Kriegsführung“.
Auch Karl Marx war die Wichtigkeit der „Lufthoheit“ über die Ideen der Menschen bekannt. Er forderte dazu auf, Kritiker nicht zu widerlegen, sondern zu „vernichten“. „Der rigide Dogmatismus“, schrieb Ludwig von Mises, „der religiösen Gemeinschaften und Marxisten eigentümlich ist, führt zu unlösbaren Konflikten. Er verdammt von vornherein alle Andersdenkenden als Übeltäter, spricht ihnen jeden guten Willen ab und fordert sie auf, bedingungslos zu kapitulieren.“ Dabei geht es, so Mises sinngemäß, bei der Analyse von menschlichem Handeln, Politik und Ökonomie eigentlich um eine „rein intellektuelle Angelegenheit“. Aber eben gerade deswegen, weil der Mensch im Stande ist, Mises‘ Praxeologie (Handlungslogik) verstandesmäßig nachzuvollziehen und den Charakter von Marxismus und Sozialismus – und letztlich von Herrschaft über andere Menschen – mit Denken zu begreifen, soll er daran gehindert werden, die Widersprüche in den Doktrinen aufzudecken und dazu gebracht werden, das jeweilige Dogma – blind – zu glauben.
Ein filmisches Beispiel von Excommunicado – und daher kommt auch der Begriff – stammt aus dem Film John Wick III. Mit – für meinen Geschmack etwas zu viel Action – wird in dieser Parabel dargestellt, wie der Protagonist von allen Seiten verfolgt wird, weil er – nachdem er gegen die Regeln der Obrigkeit verstoßen hat – exkommuniziert wurde. Ähnlich wie Friedrich II. bittet John Wick die Obrigkeit um eine zweite Chance – und diese wird ihm gewährt. Aber da er sich ein weiteres Mal nicht an die Vorgaben der Obrigkeit hält, und mit seiner Tat beweist, dass er die Idee der absoluten Letztentscheidungskompetenz der Obrigkeit im Hinblick auf die Regeln nicht anerkennt, kommt es zu einem Schisma innerhalb der Gruppe der Mächtigen, dessen Fortgang dann wohl im vierten Teil erzählt wird.
Ludwig von Mises‘ Erkenntnistheorie ist Teil der Praxeologie, der Logik des Handelns. Wissen ist für den Handelnden ein Mittel, um Ziele zu erreichen. Nicht-Handelnde „Wesen“ brauchen kein Wissen, da sie nicht bestrebt sind, ihre Unzufriedenheit zu vermindern. Mit Mises‘ Erkenntnistheorie können wir die A-priori-Wissenschaften (Mathematik, Logik und Praxeologie), die klassischen Naturwissenschaften und das eigentümliche Verstehen oder Mutmaßen unterscheiden. Und wir können erkennen, dass beispielsweise Dogmen über die Menschengemachtheit des Klimawandels oder „erforderliche“ Zwangsmaßnahmen bei Krankheitswellen dem Bereich des „eigentümlichen Mutmaßens betreffend komplexe historische Phänomene mit Rückkoppelungen“ zuzuordnen sind und dass diese Dogmen daher a priori – von vornherein – nicht bewiesen werden können, wie ich es beispielsweise in meinem Beitrag „Die staatlichen Corona- und Klimamaßnahmen können wissenschaftlich nicht begründet werden“ dargestellt habe. Zudem folgt aus der Wissenschaft nie, was getan werden „sollte“, denn „Sollen ist Wollen für andere“. Es gibt keine normative Wissenschaft, schrieb Mises, keine Wissenschaft von etwas, das sein sollte. Und gerade weil dies so einfach „nach-gedacht“ werden kann, also an sich eine „rein intellektuelle Frage“ ist, wie Mises meinte, werden von den Proponenten der „herrschenden Meinung“ ihre Erkenntnisse als Dogmen verkauft und Dissidenten medial exkommuniziert.
Viele Intellektuelle heute vertreten ein materialistisches Weltbild. Nur was sinnlich erfahrbar sei, sei dem Wissen zugänglich. Damit wird versucht, A-priori-Wissenschaften wie die Praxeologie zu „verbannen“. Für diese Intellektuellen werde der Geist vom Gehirn erzeugt wie etwa der Urin von den Nieren, meinte Mises. Dabei können sie mit ihrer Methode, der Interpretation messbarer (im weitesten Sinne) Beobachtungen, den Beweis für den menschlichen Geist als Nebenprodukt einer Biomaschine von vornherein nicht erbringen. Das Weltbild der Materialisten ist ein metaphysisches und kein naturwissenschaftliches. Wenn etwas aber naturwissenschaftlich nicht testbar ist und auch nicht a priori wahr, dann handelt es sich lediglich um ein ausgedachtes Konzept.
Das Kennzeichen apriorischen Wissens ist, dass die Negation dessen oder etwas, das im Widerspruch dazu steht, nicht als wahr gedacht werden kann. Dass sich der menschliche Wille nicht allein aufgrund von „biomechanischen“, materialistischen Vorgängen bildet, kann aber sehr wohl als wahr gedacht werden. Und die These der Materialisten lässt sich eben nicht naturwissenschaftlich beweisen: Klassische Naturwissenschaft beschreibt konstante Zusammenhänge zwischen isolierbaren, messbaren Größen. Und messen heißt, vergleichen mit einem objektiven Standard, wie etwa Kilogramm, gasförmig oder blau. Sie können nicht naturwissenschaftlich erklären, wieso jemand diese oder jene Idee hochhält, etwa wieso einer Sozialist ist und der andere nicht. Und selbst wenn – für das Argument – der menschliche Wille sich allein „biomechanisch“ bilden würde, so wäre es dennoch der eigene (!) Wille des Menschen. Es braucht keinen „freien“ Willen, um einen „eigenen“ Willen zu haben.
Dass der menschliche Wille von Vorbedingungen abhängt, die in seiner Phylogenese und Ontogenese begründet sind, heißt nicht, dass die Menschen nicht dennoch diesen ihren subjektiven und unterschiedlichen Willen haben. Unterschiedliche Menschen wollen Unterschiedliches und derselbe Mensch will Unterschiedliches zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Viele Einzelne bilden eine Gesellschaft, aber die Gesellschaft ist selbst kein handelndes Wesen, das zu einer eigenen Willensäußerung fähig wäre. Keine Kuh ist eine Herde! Diejenigen, die die Gesellschaft „optimieren“ wollen, sind selbst nur Einzelne oder eine Gruppe von Einzelnen, also in ihrem Willen und Wollen genauso durch ihre Entwicklungen vorgeprägt wie diejenigen, die sie optimieren möchten. Und „optimieren“ ist ein Werturteil, und Werturteile sind die Werturteile von Einzelnen, sodass sich immer die Frage anschließt: Optimieren für wen? Aus wessen Sicht wäre eine andere Gesellschaft optimaler? Aus der Sicht derjenigen, die diese „gestalten“ wollen, oder aus der Sicht derjenigen, die „geformt“ werden sollen? Eine „Rechtfertigung“ für Herrschaft der einen über die anderen ergibt sich also nicht daraus, dass alle – also sowohl die einen als auch die anderen – einen Willen haben, der sich kausal aus ihrer Evolution ergibt. Denn die Herrscher unterscheiden sich hierin nicht von denjenigen, die sie beherrschen möchten.
Dieser Kampf um die Meinungshoheit im Hinblick auf das Welt- und Selbstbild der Menschen und den Gebrauch ihrer Vernunft, ihres kritischen Verstandes, scheint also so alt wie die Zivilisation selbst. Und Excommunicado ist ein hartes Mittel, das viele fürchten – und das völlig zu Recht. Was wir aber auch immer wieder beobachten, sind die Schismen zwischen mächtigen Sonderinteressengruppen. Das römische Imperium war ein gewaltiges Hauen und Stechen mit Bürgerkriegen, Kaisern und Gegenkaisern, Spaltungen et cetera. Die Zeiten der „Stabilität“ waren wohl auch die Zeiten der größten Tyrannei, denn „Stabilität“ gibt es nicht, wenn die Menschen nicht unterdrückt werden. Die Stabilität wurde erzwungen. Ohne Unterdrückung entwickelt sich die Gesellschaft, also die freiwillige Kooperation, und das führt sowohl ökonomisch als auch im Hinblick auf die Bewusstwerdung des eigenen Selbst und der Welt zu einem Fortschreiten, nicht zu Stagnation.
Es gab immer wieder Schismen, die Machtkonzentrationen aufsprengten. Und damit einher ging eine weitere Entwicklung des menschlichen Bewusstseins. Die Sklaverei und auch die Leibeigenschaft wurden abgeschafft – zumindest in ihren klassischen Ausprägungen –, aber im amerikanischen oder russischen Imperium ist das noch nicht einmal 200 Jahre her. Einer kurzen Phase des Liberalismus im 19. Jahrhundert folgten verheerende Kriege zwischen verschiedenen Gruppen von Machthabern, die ihre Gefolgschaft zur Annahme unterschiedlicher Dogmen gebracht hatten. Und auch wenn heute wegen der globalen Narrative unserer Zeit die Notwendigkeit von „Global Governance“ betont wird, so scheint es doch keineswegs Einigkeit darüber zu geben, wer diese Machtfülle dann besitzen soll.
„Aller Fortschritt der Menschheit vollzog sich stets in der Weise“, schrieb Ludwig von Mises, „dass eine kleine Minderheit von den Ideen und Gebräuchen der Mehrheit abzuweichen begann, bis schließlich ihr Beispiel die anderen zur Übernahme der Neuerung bewog.“ Und Kant hatte die Hoffnung, dass es sich dereinst auch auf die Grundsätze der Regierung auswirken werde, dass der Mensch „mehr als Maschine“ sei, und die Regierung es schließlich „ihr selbst zuträglich finden“ würde, den Menschen seiner Würde gemäß zu behandeln. Und in der Tat könnte es Machthaber geben, die das eigene Denken der Menschen zulassen wollen, oder die Menschen könnten ihre Angst verlieren und selbst mit dem eigenen Denken beginnen, sodass den Machthabern schlicht die Gefolgschaft wegbräche. Es bleibt spannend!
Quellen:
Facebook admits the truth: ‘Fact checks’ are really just (lefty) opinion (New York Post).
Leben wir in einem aufgeklärten Zeitalter? – zu Immanuel Kants 218. Todestag (Misesde.org, Andreas Tiedtke).
Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1843), in: MEW 1, S. 378–391 (Karl Marx).
Human Action, Scholar’s Edition, S. 185 (Ludwig von Mises).
Die staatlichen Corona- und Klimamaßnahmen können wissenschaftlich nicht begründet werden (Misesde.org, Andreas Tiedtke)
Liberalismus (1927), S. 48 (Ludwig von Mises).
Der Kompass zum lebendigen Leben (Andreas Tiedtke)
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