Was ist der Staat?: „Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer …
… Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: ‚Ich, der Staat, bin das Volk‘“ (Friedrich Nietzsche)
von Markus Krall
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Diskutiert man über Institutionen, so kann man beobachten, dass die Denkfaulheit oder die Denkverweigerung umso größer ist, je mehr und je länger sich die Menschen an eine Sache gewöhnt haben. Sie können sich ein Leben ohne diese Sache gar nicht mehr vorstellen. Es übersteigt schon ihre Phantasie, sich diese Sache auch nur kleiner zu denken. Das gilt vor allem dann, wenn diese Institution auf so vielfältige Weise in unser Leben eindringt, wie dies der Staat tut.
Wir neigen dann dazu, den Staat mit vielen Dingen gleichzusetzen, weil uns unser Leben lang erzählt wurde, dass er mit ihnen identisch ist oder dass es diese Dinge ohne ihn gar nicht geben könne. Das reicht von der „Gesellschaft“ als solcher, die in den Köpfen mit Staat gleichgesetzt wird, da er sich vorgeblich aus ihr konstituiert über das Volk (früher sprach man Staatsvolk, bevor es politisch genehmer wurde, von Bevölkerung zu fabulieren) bis zu Elementen, die wir für zivilisatorisch unverzichtbar halten. Daher sprechen wir vom „Sozialstaat“, vom „Rechtsstaat“ oder vom „Verfassungsstaat“.
Entsprechend hoch sind unsere Erwartungen an den Staat. Der Staat soll für Gerechtigkeit sorgen, vor allem für soziale, er soll uns beschützen, er soll Straßen, Schulen, Flughäfen, Kindergärten, Infrastruktur und neuerdings auch Wohnungen bauen, er soll Gesetze machen, Recht sprechen, wehrhaft sein, er soll Krisen lösen, das Geld herausgeben, also drucken und verwalten, Bösewichte einsperren … Die Liste ist endlos. Sie ist auch nie fertig, denn die Liste der Ansprüche, die an den Staat gestellt werden, wird täglich länger. Rechte von Gruppen werden freihändig definiert und ihre Umsetzung sodann an den Staat delegiert. Wechselnde Koalitionen von Interessengruppen helfen sich gegenseitig, für ihre Forderungen Mehrheiten zu organisieren, die die Minderheit der daran nicht beteiligten mittragen, finanzieren und tolerieren soll.
Deshalb ist der Staat jetzt auch zuständig für das Gendern, den Kampf gegen Rechts durch die Unterstützung der „Zivilgesellschaft“, die Gleichstellung aller 94 Geschlechter, die Lösung der imaginierten Klimakrise, die Energiewende und für alle Vorschriften, die unser Leben regeln, von der Wiege bis zur Bahre.
Worüber wir uns dabei in aller Regel keine Gedanken machen, sind die Fragen: Was ist dieser Staat überhaupt? Woher kommt er? Wie ist er entstanden? Hat er wirklich eine Existenzberechtigung? Wenn ja, was sind seine wirklichen Aufgaben und welche sind in Wahrheit angemaßt? Wenn nein, gibt es Alternativen zum Staat oder zu der Staatsform, in der wir leben?
Das mit dem „wir“ stimmt allerdings nicht so ganz. Es gibt ein kleines gallisches Dorf, wo man sehr wohl darüber nachdenkt. Seine Bewohner nennen sich „libertär“ und sie verfügen auch über ein Gegenstück zum Zaubertrank des Miraculix, nämlich die tabulose Anwendung der Logik und der Vernunft zur Beantwortung solcher Fragen. Manche von ihnen machen das so radikal, dass man sich fragt, ob sie als Kind in den Kessel mit dem Zaubertrank gefallen sind und man kann auch die Beobachtung machen, dass die Römer, also Vertreter des übermächtigen totalen Staatskonzeptes, nämlich des übergriffigen gefräßigen Imperiums, deshalb regelmäßig aus den Latschen kippen.
Diese Libertären dürfen sich mit Fug und Recht als die Erben der Staatstheoretiker fühlen, denen wir die Demokratie, die Gewaltenteilung, die Herrschaft des Rechts und die Abschaffung der feudalistischen Tyrannei zu verdanken haben. All diese Dinge sind nämlich in Wahrheit nicht Ausdruck des Staates, sondern sie sind Instrumente zu seiner Einhegung, Kontrolle, Begrenzung und also in gewisser Weise seiner Bekämpfung. Gerade die Dinge, die die meisten Leute am Staat für das Beste halten, sind so gesehen die Gitterstäbe, mit denen man versucht hat, ihn einzusperren und zu zähmen.
Jean-Jacques Rousseau, ein eher links orientierter Philosoph der Aufklärung, sah die Wurzel des Staates im sogenannten „Gesellschaftsvertrag“ („Contrat social“), bei dem sich die Menschen freiwillig zusammenschließen, um den Staat zu gründen, der ihnen dann all die schönen Dinge zur Verfügung stellt, die man weiter oben aufgelistet findet. Diese Theorie ist ebenso irrig wie seine Behauptung, dass der zivilisatorische Fortschritt eine Ungleichheit unter den Menschen befördere, die der Staat korrigieren müsse. Denn durch einen Gesellschaftsvertrag ist der Staat mitnichten entstanden, weder in der Geschichte noch in den Phasen revolutionärer Umbrüche, bei denen man eigentlich unterstellen könnte, dass die Menschen („das Volk“) noch am ehesten die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Stets war es eine kleine Minderheit, die allen anderen ihren Willen und ihre Vorstellungen von Staatlichkeit aufdrückte und die dabei in der Regel nie vergaß, auch an sich selbst und ihren Vorteil zu denken.
Nein, der Staat erhob sich aus dem Dunkel der Geschichte nicht am Lagerfeuer einer sich liebenden Sippe, deren Mimikry der Staat so gerne übt, wenn er sich fürsorglich und maximalinvasiv in unsere Privatsphäre einmischt. Er ist vielmehr das Resultat von Gewalt oder genauer gesagt von gewalttätigen Geschäftsmodellen mafiaähnlicher Strukturen. Bewaffnete nomadisierende Räuberbanden haben irgendwann herausgefunden, dass es für sie lukrativer und nachhaltiger ist, wenn sie das Geschäftsmodell „rauben, ermorden, vergewaltigen, plündern“ durch das Geschäftsmodell „Schutzgelderpressung“ ersetzen, ohne allerdings das in ihren Genen so tief verankerte ursprüngliche Gewaltmodell ganz abzulegen. Der Grund ist einfach der, dass die Drohung mit diesem alten Geschäftsmodell die Schutzgelderpressung effizienter und einfacher macht. Regierung durch Angst ist so alt wie die Menschheit. Das ist der Grund, warum Krieg immer die Existenz eines Staates voraussetzt.
Und damit das Ganze nicht so kriminell daherkommt, nennen wir es nicht Schutzgeld. Das tut die Mafia, die ein Konkurrenzmodell zum Staat ist, ja auch nicht. Sie nennt es „Versicherung“. Der Staat nennt es einfach „Steuern und Abgaben“. Diese Genese des Staates war dem heiligen Augustinus von Hippo, einem der größten Kirchenlehrer, auch völlig klar, als er treffend formulierte: „Nimm vom Staat das Recht weg, was bleibt dann als eine große Räuberbande?“ Die Anwesenden fanden es wohl eher nicht so lustig, als Papst Benedikt XVI. am 22. September 2011 im deutschen Bundestag sprach und ihnen diese Mahnung unter die Nase rieb. Die gemeinsame historische Wurzel und die Seelenverwandtschaft der Geschäftsmodelle von Staat und Mafia hat Klaus Kinski etwas flapsiger zu formulieren gewusst, als er uns das Bonmot schenkte: „Wenn wir die Regierung durch die Mafia ersetzen würden, hätten wir halb so viel Korruption und doppelt so viel Spaß!“
Die mordenden Horden als die eigentlichen Staatsgründer – das ist wohl die hässliche Wahrheit, der wir ins Gesicht sehen müssen. Die Vertreter des Gewaltmonopols (sic!) haben dann in der Geschichte schnell gelernt, dass es effiziente Techniken gibt, die relative teure Gewalt durch andere Techniken der Willensmanipulation zu ersetzen. Das war die Geburtsstunde des Priestertums, der Protzarchitektur zur Demonstration von Macht, der Bürokratie und der Propaganda, die den Herrscher mit einem religiösen Narrativ zum Gott erklärte. Das zur Steuer erklärte Schutzgeld wurde so zum Eintrittsobolus für den Himmel.
Der moderne Personenkult von Hitler über Stalin bis Mao und Kim ist die Fortsetzung dieser Technik mit anderen Mitteln. Der Herrscher wurde dabei immer getragen von einer herrschenden Klasse. Das ist die eine Einsicht, an die Marx sich wohl korrekterweise herangerobbt hat, wenngleich er mit seiner Diktatur des Proletariats nur den Schleier der Diktatur einer gierigen, kleinen, brutalen, banal-bösen revolutionären Elite verbrämt hat.
Wir sehen also weit und breit keinen Contrat social, kein Ringelpietz mit Anfassen für eine freiwillige Staatsbildung, in der alle glücklich und zufrieden sind. Der Staat und die Regierung waren und sind das Ergebnis einseitig ausgeübter Gewalt. Kein in einem Land geborener Neubürger wird gefragt, ob er das für sich auch so will, ob er es so entschieden hätte, wenn er die Wahl hätte. Trotzdem unterstellt jeder implizit, dass es doch so sei.
Wenn der Staat Vertragscharakter hat, dann ist es in der Praxis meistens eher ein Vertrag zulasten Dritter. In der Oligarchie oder im Feudalstaat drückt sich dies in der direkten Umverteilung von unten nach oben durch die Adelsklasse aus, die die produktiven Teile der Bevölkerung, nämlich Landwirtschaft, Handwerk und Industrie, für ihren Lebensunterhalt plündert. Der im absolutistischen Frankreich des 17. Jahrhunderts entstandene Merkantilismus, eine frühe Form ökonomischer Kreislauftheorie und Herrschaftslehre, bezeichnet den Adel daher auch korrekterweise als „Classe Distributive“, als (um-) verteilende Klasse. Insofern unsere politische Klasse ihre vornehmste Aufgabe in der Umverteilung sieht, steht sie also in interessanter Tradition.
Die Aufklärung hat aber nicht nur die großen Staatstheoretiker hervorgebracht, die uns Demokratie, Gewaltenteilung, Checks and Balances und vor allem den Rechtsstaat mit der Gleichheit aller vor dem Gesetz beschert haben. Sie brachte auch eine Gegenströmung von angemaßten Gesellschaftsingenieuren hervor, von Hobbes bis Descartes, die dem Staat ein Eigenleben, ja, eine eigene Seele zubilligen und die sein vermeintliches Wohl über das des Individuums stellen. Verbrämt wird das mit dem Postulat, dass das Wohl vieler über dem Wohl des Einzelnen stehe. Die Kernfrage ist aber, ob dieser konstruierte Gegensatz nicht ein künstlicher ist und im Widerspruch zur Menschenwürde steht, denn das Wohl der vielen kann immer nur die Summe des Wohls der im Volk vertretenen Individuen sein. Situationen, die Opferbereitschaft erfordern, wie zum Beispiel der Krieg, sind in aller Regel solche, die es ohne den Staat gar nicht geben würde. Dennoch fordert Hobbes das Aufgehen des Menschen in der Masse, das Primat des Staates, der ein Gebilde aus eigenem Recht sei, ein Organismus, bestehend aus den Zellen der in ihm dienenden Menschen, aber durch ihre Interaktion mehr als die Summe seiner Teile, mit eigenem Kopf, eigenem Willen. Diesen nannte er Leviathan. Führt man sich vor Augen, zu welchen Verbrechen dieser Leviathan sich im 20. Jahrhundert verstiegen hat, so erfüllt einen das Grauen. Er ist das sozialistische Tier, das sich in Form des nationalen wie des internationalistischen Sozialismus, also des Kommunismus, an der Menschheit vergangen hat.
Also weg mit dem Staat? Hinfort mit dem System des Raubes? Leider ist dieses Utopia an Voraussetzungen geknüpft, die auf unserem Planeten zurzeit nicht erfüllt sind. In allen Regionen der Welt hat sich die Staatenbildung in der einen oder anderen Form durchgesetzt, ein lokaler staatenloser Zustand würde von den Staatsgebilden um ihn herum als Machtvakuum begriffen und gefüllt, also besetzt werden. Es braucht daher ein Minimum an Selbstorganisation, um einen Zustand des Minimalstaates nach außen verteidigen zu können, damit die nach innen gewonnene Freiheit nicht einfach durch eine neue Räuberbande wieder einkassiert wird.
Wie erreicht man das? Indem die Menschen eine krisenhafte Entwicklung und Zuspitzung dafür nutzen, ja instrumentalisieren, sich einen wirklichen, den Namen auch verdienenden Gesellschaftsvertrag in Form einer Verfassung zu geben, die die Autonomie des Individuums maximiert. Dieser neue Verfassungsstaat muss eine strikte Trennung der Gewalten garantieren. Legislative, Exekutive und Judikative dürfen sich in keiner Weise gegenseitig beeinflussen. Es braucht klare Begrenzungen der Staatsaktivität, idealerweise in Form einer Deckelung der Staatsquote, eines Verbots direkter Steuern und eines Verbots des Staates, sich in wirtschaftliche Belange einzumischen, ja, überhaupt sich Daten und Informationen über die wirtschaftlichen Daten seiner Bürger zu beschaffen.
Eine solche Ordnung trennt Staat und Geld, indem sie privates Geld im Wettbewerb ermöglicht und dies garantiert. Um den auch in einer Demokratie endemischen Vertrag zulasten Dritter, nämlich die Ausbeutung der Minderheit der Leistungsträger durch die Mehrheit der Leistungsempfänger zu verhindern, muss das Wahlrecht in jeder Legislaturperiode durch den Verzicht auf staatliche Transfers und Subventionen neu verdient werden. So kann niemand an einer Umverteilungsentscheidung zu seinen eigenen Gunsten beteiligt werden, denn das wäre ein korrupter Interessenkonflikt. Diese Ordnung gibt der kapitalistischen Marktwirtschaft Verfassungsrang und macht den Sozialismus illegal. Dieser Staat ist Dienstleister. Er stellt innere und äußere Sicherheit und eine funktionierende Rechtsordnung, basierend auf den individuellen Rechten und dem Eigentum, bereit. Das wars.
Ein solcher Staat braucht eine Identität, ein konservatives Wertegerüst, eine Verwurzelung im göttlichen Naturrecht als Grundlage der Menschenwürde und damit auch eine religiöse Verankerung, denn sonst kann er die Werte nicht schützen, auf denen er beruht.
Ja, es wäre immer noch ein Staat, aber wer die Mechanismen der Freiheit und der Marktwirtschaft kennt, der weiß: Der Wohlstand, den diese Ordnung schaffen wird, wird ein Leuchtturm für die Völker sein. Mehr und mehr von ihnen würden diesem Beispiel folgen, weil es das in Wahrheit attraktivste Gesellschaftsmodell ist. Dann könnte irgendwann der Punkt erreicht sein, an dem die Voraussetzungen für eine staatenlose Gesellschaft erfüllt sind: wenn nur noch Minimalstaaten existieren, die ein Machtvakuum nicht füllen, sondern die es studieren wollen. Die gesellschaftliche Evolution hat den Staat hervorgebracht – die Megastruktur, die alles dominiert. Aber die biologische Evolution hat auch die Dinosaurier hervorgebracht, doch haben letztendlich die kleinen Wesen unter ihren Füßen den Planeten geerbt.
Was sollte die gesellschaftliche Evolution also davon abhalten, die Privatrechtsgesellschaft am Ende doch hervorzubringen?
Kommentare
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