Demokratietheorie – Teil 1: Wozu überhaupt wählen?
Über den Widerspruch zwischen Repräsentation und freiem Mandat
von Stefan Blankertz
Die seit rund 200 Jahren etablierte Form der parlamentarischen Demokratie, gepriesen als Krone der Herrschaftslegitimierung und des gesamten Denkens über eine gerechte und soziale Form des Zusammenlebens, beruht auf den beiden Säulen Repräsentation und freies Mandat. Ich werde zeigen, dass beide schon für sich genommen das Wählen zu einem eitlen Vorgang machen und überdies in einem klaren Widerspruch zueinander stehen.
Die tagespolitischen Auseinandersetzungen drehen sich meist um Fehler bei der Durchführung der Wahl (Vorwurf der Wahlmanipulation) oder um den Modus der Wahlen (nicht repräsentative Einteilung der Wahlbezirke oder auch Verhältnis- im Gegensatz zum Mehrheitswahlrecht). Wenn es beim Auszählen von Wahlausgängen darum geht, dass eine Handvoll Stimmen bei einer Gesamtzahl von Wahlberechtigten, die viele Millionen umfasst, die Lächerlichkeit desjenigen Anspruchs deutlich machen könnte, die Mehrheit würde zu einer legitimen Herrschaft führen, geht dies im Spektakel der Tagespolitik leider unter. Aber auch bei einer satten Mehrheit stellt sich selbstredend die ironische Frage, inwiefern eine Mehrheit, die dumme Entscheidungen trifft, besser sein sollte als eine Minderheit, die eine kluge Entscheidung getroffen hätte.
Das Problem, weshalb die Mehrheit das Recht habe, sich durchzusetzen, liegt dabei ziemlich nahe an der Oberfläche. Dies lässt sich daran erkennen, dass die Beteuerungen nach der Wahl meist dahin lauten, die gewählten Politiker würden irgendwie das ganze Volk repräsentieren. Manche mit einer idealtypischen Mehrheit (meist mit einer faktischen kleinen Minderheit) ins Amt entsandten Politiker verkünden es nach einer Wahl sogar lauthals: Nein, sie würden nicht nur ihre Wähler und deren Interessen vertreten, sondern auch diejenigen einbeziehen, die sie nicht gewählt haben. Präsidenten, Kanzler und Minister, sie alle agieren als Repräsentanten des ganzen Volks.
Das ist ein überaus sonderbarer Vorgang, der seine Sonderbarkeit nur dadurch verloren hat, als er in der Demokratie täglich zelebriert wird: Das Wahlvolk ist an ihn gewöhnt. Der Politiker wird also von einem Teil des Volks gewählt, repräsentiert dann aber das ganze Volk einschließlich seiner ärgsten Gegner (und des uninteressierten Rechts sowieso). Da müssten sich, wenn es mit ein wenig Logik zuginge, seine Wähler doch, gelinde gesagt, verarscht vorkommen. Aber nicht nur das: Wenn es dem Politiker möglich ist, die Interessen des ganzen Volks zu erkennen und ihnen entsprechend zu handeln, macht es keinen Sinn, dass er sich der Wahl stellt. Stehen mehrere Kandidaten zur Wahl, die alle über diese sonderbare Gabe verfügen, die Interessen des ganzen Volks zu erkennen und zu repräsentieren, so würde es reichen, dass zwischen ihnen ausgewürfelt werden würde.
Freilich erwartet man von verschiedenen Kandidaten, dass sie nach erfolgter Wahl eine unterschiedliche Politik betreiben, denn ansonsten hätte das Wählen noch weniger Sinn. Das Gerede vom Interesse des ganzen Volks ist leer; es kaschiert, dass jeder Politiker im Sinne einer bestimmten Interessengruppe des Volks handelt. Die Behauptung, ein Einzelinteresse, nur weil es zufällig die absolute oder (meist nur) relative Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen erreicht, sei berechtigt, gegen ein anderes, in der Minderheit befindliches Interesse zu obsiegen, kann so wenig Rationalität beanspruchen, dass kaum jemand sie vorbringt.
Aber in welcher Weise repräsentiert ein gewählter Politiker das Interesse seiner Wähler? Nicht ohne Grund wird hier von Repräsentation und nicht von Auftrag gesprochen. Einen bindenden Auftrag der Wähler gibt es nicht. Auch hier geht die Demokratietheorie davon aus, dass dem Politiker die übersinnliche Gabe zuteilwurde, im Interesse seiner Wähler handeln zu können, ohne mit ihnen Rücksprache zu halten. Die Vorstellung der Repräsentation ist letztlich eine, die im Monarchentum gründet: Der weise Herrscher weiß um die Sorgen und Nöte seines Volks und handelt entsprechend gütig und umsichtig. Gott hat ihm diese Gabe in die Wiege gelegt. Im Fall der Demokratie ist es nicht Gott, sondern die Mehrheit. Wenn schon Gott sich in der Wahl seiner Repräsentanten oft genug irrte (das Alte Testament ist voll von diesen Irrtümern), wie sollte die Mehrheit dann unfehlbar sein?
Noch vertrackter wird es, wenn wir uns die weitere Säule der Demokratietheorie neben der Repräsentation anschauen: das freie Mandat. Mit dem Begriff ist gemeint, dass der gewählte Repräsentant nur seinem Gewissen, mithin weder seinen Wählern noch seiner Partei, verpflichtet sei. Diese Regel der Demokratie hat seinen guten Sinn darin, dass sie den Abgeordneten vor Fraktionszwang schützen soll, denn ansonsten bedürfte es keiner größeren Zahl von Abgeordneten, sondern nur eines Vertreters jeder Partei, die einen ihrem Stimmanteil entsprechenden Proporz an den Entscheidungen erhält. Das wäre eine finanziell durchaus günstigere Variante als die Riesenparlamente, und vermutlich entspricht das auch der Realität, trotz der vielen Abgeordneten. Jeder weiß, dass sie von ihrer Partei abhängig sind, von ihrem Posten her und finanziell sowieso. Ein Abgeordneter, der beständig die Disziplin seiner Partei verletzt, fliegt schneller aus dem Parlament als einer, der beständig gegen die Interessen seiner Wähler handelt. Doch Abgeordnete beteuern oft, dass sie die Interessen ihrer Wähler im Auge haben. Dennoch ermöglicht ihnen das freie Mandat, auch gegen sie zu verstoßen.
Wenn der Abgeordnete oder sonst ein gewählter Repräsentant des Staats ein freies Mandat hat und nur seinem Gewissen verpflichtet ist, bedeutet dies im Klartext, dass er nach der Wahl und bis zur nächsten Wahl im Prinzip entscheiden kann, wie er will. Machen können, was man will, ist bezogen auf einen Herrscher das Willkürprinzip des Diktators (oder früher eben Fürsten beziehungsweise Monarchen). Jemanden zu wählen, der dann machen kann, was er will, macht offensichtlich keinen Sinn. Freilich gibt es eine Grenze der Willkür, das ist die nächste Wahl, in der die Wähler dem Abgeordneten, der seinem Gewissen folgend ihnen entgegengehandelt hat, die Wiederwahl verweigern können. Damit wiederum ist das freie Mandat ausgehebelt.
Logisch gesehen ist ein anderer Aspekt wichtiger: Die Aufforderung an den Gewählten, seine Wähler oder gar das ganze Volk zu repräsentieren, und die Regel, dass er per freiem Mandat nur seinem Gewissen folgen solle, stehen in einem absoluten Gegensatz zueinander, außer man ginge davon aus, dass das Interesse der Wähler und das individuelle Gewissen ihres Repräsentanten immer deckungsgleich seien. Aber wenn beide Aspekte immer deckungsgleich wären, würde es die Regel des freien Mandats nicht geben müssen. Mehr noch: Indem die Regel des freien Mandats gesetzt wird, gibt die Theorie der parlamentarischen repräsentativen Demokratie implizit zu, dass die Mehrheit mitunter von dem abweichen kann, was ein aufrichtiges Gewissen als Recht erkennt. Zugespitzt gesagt: Man kann der Mehrheit nicht trauen.
Die Frage, ob bindende Entscheidungen der Wähler, sei es durch direkte Demokratie (Volksabstimmungen) oder das Rätesystem, das demokratietheoretische Problem lösen und darüber hinaus praktikabel wären, behandle ich nächsten Freitag.
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