03. März 2023 07:00

Demokratietheorie – Teil 2 Alle Macht dem Volk? Alle Macht den Räten?

Vox populi, Vox diaboli

von Stefan Blankertz

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Dass die gegenwärtig als moralisch einzig akzeptable Form der Herrschaft etablierte parlamentarisch-repräsentative Demokratie in Praxis und Theorie erhebliche Schwächen zeigt, gibt fast jeder umstandslos zu. Gern wird auf Winston Churchill verwiesen, der 1947 sagte, Demokratie sei die schlechteste Regierungsform – bis auf alle anderen. Nun, das sagte ein Mann, der einem Weltreich vorstand, in dem einem verschwindend kleinen Teil der in ihm lebenden Völkern das Wahlrecht zustand, und der, als 1943 aufgrund des Agierens seiner Regierung bei einem der nicht wahlberechtigten Völker eine Hungersnot ausbrach, sich für unzuständig erklärte.

Die meisten, auch und gerade die grundsätzlicheren Vorschläge zur Reform der (parlamentarisch-repräsentativen) Demokratie haben das Ziel, die Demokratie demokratischer zu machen, also die Herrschaft des Volkes zu stärken; wobei es sich in Wirklichkeit immer darum handelt, die Mehrheit stärker dazu zu befähigen, die Minderheit zu unterdrücken. Diese Vorschläge lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: Die eine Richtung geht davon aus, dass die Beteiligung der Wähler an den Entscheidungen intensiviert werden solle. In diese Kategorie fallen alle Vorschläge zur sogenannten direkten Demokratie mit bindenden Volksentscheiden. Die andere Richtung will die Mandats- und Amtsträger stärker den Weisungen der Wählermehrheit unterwerfen; diese Kategorie der Vorschläge lässt sich unter der Überschrift des Rätesystems zusammenfassen.

Der zunächst scheinbar einfachste und naheliegende Weg, die Wählermeinung stärker zur Geltung zu bringen, besteht in einer Reduzierung des beherrschenden Einflusses der Parteien auf die Politik, weil diese verfälschend auf die Meinungsbildung wirken. Schon einer der Urväter der Demokratietheorie, Jean-Jacques Rousseau, fürchtete die Parteienbildung und bezeichnete sie als das Ende jeder Republik. Unter den Gründungsvätern der USA warnte James Madison vor dem Überhandnehmen des Einflusses von Parteien. Doch wie wäre eine Reduzierung des Parteieneinflusses zu bewerkstelligen? Man müsste ein demokratisches Grundrecht, die Assoziationsfreiheit (Versammlungs- und Organisationsfreiheit), aufheben. Zudem: Wie sollte ein Kandidat seinen Wahlkampf ohne einen hinter ihm stehenden Apparat bewältigen und finanzieren können? Und was wäre ein solcher Apparat anderes als eine Partei?

Volksentscheide dagegen sind sowohl organisatorisch möglich als sie auch in vielen Demokratien eingesetzt werden. Sie ließen sich ohne Probleme weiter ausbauen. Den Aspekt, dass Mehrheiten weder laut Theorie noch laut Empirie dazu tendieren, gute Entscheidungen zu treffen, sondern im Gegenteil eher Irrtümern erliegen und darüber hinaus Minderheiten drangsalieren, heilt die direkte Demokratie nicht, nein, sie verschärft diesen Aspekt. Doch stellen sich der direkten Demokratie auch praktische Probleme: Da im politischen Alltag ständig Modifikationen der einmal begonnenen Unternehmungen notwendig sind, müssen entweder ständig Wahlen stattfinden (die dann den Entscheidungsprozess über Gebühr in die Länge ziehen können) oder es bleibt viel Spielraum der Politiker, die Dinge auf ihre Weise zu interpretieren. Der Schweizer Anarchist David Dürr hat errechnet, dass die direkt-demokratische Mitwirkung des Wahlvolks an der Legislative im Promille-Bereich liegt; von der Exekutive ganz zu schweigen.

Rätesysteme, in denen die gewählten Vertreter an den Auftrag der Wähler gebunden sind, haben es nicht besser als die direkte Demokratie; bei näherem Hinsehen sind sie nur eine formal andere Variante als die Volksabstimmung. Meist sind Vorstellungen des Rätesystems mit korporatistischen Strukturen verbunden: Berufsgruppen, Institutionen, Organisationen und Unternehmen werden durch Körperschaften bestimmt, in denen Räte den jeweiligen Wählerwillen ausführen. Was auch immer der Vorteil einer solchen weniger zentralen Form der gesellschaftlichen Organisation sein möge – im Alltag der Entscheidungen haben es die Räte nicht einfacher als die durch Volksentscheid beauftragten Politiker: Entweder müssen sie bei jeder notwendigen oder wünschenswerten Modifikation des ursprünglichen Auftrags erneut die Wähler befragen oder sie greifen auf die beiden problematischen Säulen der parlamentarischen Demokratie zurück, nämlich Repräsentation und freies (nicht an einen Auftrag gebundenes) Mandat – die beiden problematischen Säulen, die das Rätesystem heilen sollten.

Was geschieht, wenn in einer Volksabstimmung oder via gebundenem Rätemandat die Wähler eine Entscheidung treffen, die nicht etwa nur widersinnig oder auch in der Konsequenz katastrophal ist, sondern ganz und gar undurchführbar? Als Kalauer fällt mir der alte Spruch kommunistischer Parteien ein: „Mieten runter, Preise runter, Löhne rauf“. Wähler sind zwar vor den Konsequenzen ihrer Entscheidungen nicht geschützt, sie müssen sie schließlich selber ausbaden, aber das führt sie nicht dazu, weise Entscheidungen zu fällen. Zwei Faktoren sind hier im Spiel. Der eine Faktor besteht darin, dass die Konsequenz einer Entscheidung nicht jedem bekannt sein muss. Der andere Faktor besteht darin, dass sie in einer unbestimmten Zukunft eintritt.

Aus den Denklaboren der sogenannten Public-Choice-Schule der politischen Ökonomie stammt eine Modifikation der Fragen, die den Wählern vorgelegt werden sollen: Zu jeder Entscheidung möge die Konsequenz – vornehmlich die fiskalische – mitgeteilt werden. Es ist in der Diskussion dieser Vorschläge meiner Übersicht nach nie erwähnt worden, dass die Voraussetzung dieser Vorschläge die Existenz eines Rätesystems ist, denn es macht keinen Sinn, über eine Entscheidung nebst fiskalischer Konsequenz abzustimmen, wenn die gewählten Mandatsträger dann etwas völlig anderes durchführen. Aber nicht nur dies: Dieser Vorschlag, die Wähler verantwortlicher entscheiden zu lassen, setzt voraus, dass die fiskalische Konsequenz einer Entscheidung objektiv festliegt und nicht selber Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen den politischen Akteuren ist – eine für die meisten Entscheidungen völlig unrealistische Voraussetzung.

Allerdings beleuchtet der Vorschlag, über Entscheidung plus Konsequenz abstimmen zu lassen, gleichsam gegen die Intention derer, die den Vorschlag unterbreiten, das Hauptproblem der Demokratie: Gesetzt, die Mehrheit entscheidet, dass ein kostenintensives Unterfangen umgesetzt werde, und zwar in vollem Bewusstsein dieser hohen Kosten. Jeder aus der Mehrheit ist bereit, die entsprechenden Mittel aus den Steuern zur Verfügung zu stellen. Doch sie zwingen via Staatsgewalt der Minderheit diese hohen Kosten ebenfalls auf. Wenn, wie es in einer freien Gesellschaft ohne Staatsgewalt gegeben wäre, nur diejenigen die Kosten tragen müssten, die aktiv zugestimmt haben, wäre es für jeden natürlich teurer: Wir sehen also ganz deutlich, dass der Sinn und Zweck der Demokratie die Ausbeutung der idealtypischen Minderheit (de facto meist der Mehrheit) ist: Alle zahlen, einige haben den Nutzen. Das ökonomische Prinzip dahinter lautet, die Kosten auf möglichst viele zu verteilen, den Nutzen auf wenige konzentrieren; das ergibt den höchsten Ausbeutungsgewinn.

Im Sinne einer gerechteren Gesellschaft und einer besseren Entscheidungsstruktur muss das Ziel nicht die Ausweitung, sondern die Einschränkung der Demokratie im Sinne der Mehrheitsherrschaft sein. Darauf komme ich nächste Woche in meiner Freitagskolumne zu sprechen.


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