Kampf um die Meinungshoheit: Intellektuelle und Experten. Die moderne Priesterschaft?
Das eigene Denken. Die eigene Urteilskraft.
von Andreas Tiedtke (Pausiert)
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Wer macht sich eigentlich noch seine eigenen Gedanken? Was wir mit Denken erkennen können, geben uns die philosophisch trainierten Intellektuellen vor – wie Erfahrungen zu interpretieren sind, das sagen uns die Experten. Wozu also selbst denken? „Listen to the experts!“, heißt es so schön, also „Hören Sie auf die Experten!“. Oder „Follow the science!“, also „Folgen Sie der Wissenschaft!“. Oder „Trust the authorities!“, also „Vertrauen Sie den Behörden!“. Aber warum? Der Mensch besitzt eine eigene Urteilskraft. Er kann durch eigenes Denken und die Interpretation seiner Erfahrungen zu einer eigenen Haltung zu sich und der Welt gelangen. Wer fordert, dass die Menschen den Intellektuellen, Behörden und Experten glauben oder vertrauen sollen, der hindert sie unter Umständen am eigenen Denken. Und das ist es im Prinzip, was Herrschaft ausmacht: Die Herrschaft über die Einstellungen und Überzeugungen der Menschen zu sich und der Welt.
Denken und Beobachten
Schon Dante Alighieri (1265–1321) erkannte in „De Monarchia“ (ca. 1316), dass es eine „höhere Einsicht“ des Denkens gibt, für die „unwiderlegliche Gründe“ kennzeichnend seien, und eine „niedere Einsicht“ der Erfahrung. Und Dante war bewusst, dass „diejenigen leichter und vollkommener zu dem Besitz philosophischer Wahrheit gelangen, die nie etwas hörten, als diejenigen“, die bereits mit „falschen Meinungen“ angefüllt sind. Auch Immanuel Kant (1724–1804) und Ludwig von Mises (1881–1973) unterschieden die A-priori-Wissenschaften, in denen es um das logische Denken geht, und die Erfahrungswissenschaften (a posteriori), in denen es um die Interpretation von Erfahrungen geht. Zu den apriorischen Wissenschaften zählen die Praxeologie, zu der auch die Ökonomie gehört, sowie die Logik und die Mathematik, zu den Erfahrungswissenschaften zählen die klassischen Naturwissenschaften und alle historischen (empirischen) Sozialwissenschaften, wie Wirtschaftsgeschichte (= empirische Volkswirtschaft) oder die empirische Soziologie, empirische Verhaltensbiologie und so weiter.
Die Methode, die die empirischen Sozialwissenschaften nutzen, bezeichnete Ludwig von Mises als „eigentümliches Verstehen“. „Eigentümlich“ insofern, weil die Interpretationen sogenannte persönliche Bedeutsamkeitsurteile enthalten, die nicht nach einem unpersönlichen Standard testbar sind. Typisch für diese Wissenschaftsbereiche ist, dass es unterschiedliche „Expertenmeinungen“ gibt. Auch die Klimawissenschaften und die Wissenschaften, die sich mit dem Verlauf von Krankheitswellen befassen, verwenden teilweise diese Methoden, und zwar insoweit sie sich nicht nur des Instrumentariums der klassischen Naturwissenschaften bedienen, also dem Beschreiben von konstanten, isolierbaren Zusammenhängen zwischen messbaren Größen. Und Messen heißt Vergleichen mit einem objektiven (unpersönlichen) Standard (Kilogramm, blau, gasförmig et cetera). Sobald sie Korrelationen von Daten interpretieren, die sie aus komplexen historischen (das heißt unumkehrbaren) Phänomenen mit Rückkoppelungen (Klima, Verlauf von Krankheitswellen et cetera) herrühren, kommen persönliche Bedeutsamkeitsurteile ins Spiel, die nicht nach einem unpersönlichen Standard testbar sind. Und weil das so ist, gehen in diesen Bereichen die Expertenmeinungen auseinander, ja widersprechen sich sogar, sodass es notwendig wird, zwischen „guten“ und „schlechten“ Experten zu unterscheiden, will man sich auf eine Seite schlagen. Man muss die Experten, die zu anderen Auffassungen kommen, „canceln“, „shadowbannen“, diffamieren, ausgrenzen und so weiter, wenn man im öffentlichen Diskurs die Meinungshoheit über eine bestimmte Position erlangen und erhalten will.
In der Praxeologie, der Logik und der Mathematik, also den Wissenschaften des logischen Denkens, gelangt man zu unwiderlegbaren Ergebnissen. Natürlich sind Denkfehler (non sequitur, „daraus folgt nicht“, performative Widersprüche et cetera) möglich, aber sind diese ausgeräumt, verfügen doch alle Menschen über dieselbe logische Struktur des Verstandes. Es gibt keine chinesische Mathematik, die zu unterschiedlichen Ergebnissen käme wie die europäische oder amerikanische. Sicherlich, die Axiome, also die Grundannahmen, mögen angreifbar sein, aber das logische Schließen ist es nicht. Mit der Praxeologie, der Lehre von der Logik des Handelns, steht den Menschen seit Ludwig von Mises eine ausgearbeitete Grundlagenwissenschaft für alle Sozialwissenschaften zur Verfügung, die keiner kennt. Und das mit gutem Grund, denn politisch entschied man sich anstelle des apriorischen Denkens für die Methode des „freien“ Interpretierens von Beobachtungen für die Sozialwissenschaften, kann man hier – so meint man – doch zu nahezu beliebigen und daher auch willkürlich aussuchbaren Interpretationen beziehungsweise Ergebnissen gelangen. „Folgen Sie den Experten!“
Hätte man die Praxeologie als Grundlage dieser Wissenschaften, könnte man Aussagen wie „Der Mindestlohn wirkt“ oder „Herrschaft einer (größeren) Gruppe über eine andere (kleinere) Gruppe“ sei gut für das „Gemeinwohl“, von vornherein (a priori) als falsch widerlegen. Oder auch dass Menschen anderen etwas „schulden“ könnten, etwa Gehorsam, ohne dass sie sich hierzu verpflichtet haben. Oder dass Menschen Fehler machen (Fehler sind nicht beabsichtigt, also nie Teil des Handlungsplans; Fehler passieren wegen der Ungewissheit der Zukunft, aber sie sind nicht gewollt).
Die Intellektuellen geben sozusagen den „erkenntnistheoretischen Rahmen“ vor, in welchem die Experten dann zu den persönlichen Relevanzurteilen gelangen. Nur empirische Wissenschaften seien wirkliche Wissenschaften, nur das, was in sinnlich wahrnehmbaren Tests falsifiziert werden könne, sei wirklich Wissenschaft. Dabei nutzen sie freilich auch die Mathematik und – teilweise – die Logik, aber vor der Praxeologie hütet man sich – soweit diese den heutigen Intellektuellen überhaupt bekannt ist. Dass dem Materialismus selbst eine metaphysische Annahme zu Grunde liegt, die sich mit Messen nicht beweisen lässt, irritiert sie nicht. Denn sie können mit dem Beschreiben von konstanten, isolierbaren Zusammenhängen zwischen messbaren Größen nicht beweisen, dass nur Messbares real oder „wissenschaftlich“ wäre.
In der Praxeologie beispielsweise verwendet man bei den Präferenzskalen (der Ordnung von Vorlieben) Ordinalzahlen (erstens, zweitens, drittens), und diese enthalten keinerlei quantitative Informationen darüber, „wie sehr“ erstens gegenüber zweitens vorgezogen wird, und es gibt keinen objektiven Standard für Nutzen, sondern nur Milliarden „subjektive Standards“, nämlich die Vorlieben der Einzelnen. Und dass Menschen Vorlieben haben, also erstens gegenüber zweitens vorziehen, folgt zwar bereits aus der Praxeologie, ist aber auch Teil der Erfahrungswelt. Und dazu braucht es auch keinesfalls einen „freien Willen“, wie er so oft postuliert wie auch bestritten wird, dazu ist es völlig ausreichend, dass der Mensch einen „eigenen Willen“ besitzt.
Die Aufklärung in der Sackgasse
Kant und Mises erkannten beide, dass die Aufklärung in eine Sackgasse geraten war. Die Menschen hätten nicht den Mut und die Entschlusskraft, sich des eignen Verstandes zu bedienen. Ihre Vormünder hätten sie verängstigt, „verhausvieht“, wie Kant schrieb (wörtlich: „Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten…“), man habe sie in den geistigen „Gängelwagen“ gesperrt, ihnen Angst gemacht vor dem eigenen Denken. Früher gab die offizielle Priesterschaft vor, was man selbst erkennen darf und „was die Welt im Innersten zusammenhält“, heute heißt es: Vertrauen Sie den Experten, der Wissenschaft, offiziellen Quellen und so weiter. Aber kommen Sie bloß nicht auf die Idee, selbst zu denken! Glauben Sie der – ja, letztlich – Intuition der (richtigen!) Experten, aber hören Sie bloß nicht auf Ihre eigene Intuition (falls Ihnen diese nicht bereits abhandengekommen ist).
Nach dem marxistischen Materialismus brauchen Sie sich mit dem Denken erst gar keine Mühe zu geben, denn das Bewusstsein bildet sich ja sowieso aus den Produktionsverhältnissen heraus. „Es gibt im Marxismus kein eigenständiges Geistesleben, sondern dieses ist stets der Reflex der jeweils herrschenden Verhältnisse im Bereich der Produktion des physischen Lebensunterhalts“, schreibt der Ökonom und „Austrian“ Antony P. Mueller.
Fazit
Wie kommen wir also heraus aus diesem – offensichtlichen – Dilemma? Nun, was Kant tat, war, die Regierung, die „gütigste Oberaufsicht“ mehr oder weniger indirekt zu bitten, das eigene Denken zuzulassen, also davon Abstand zu nehmen, den Menschen vorgefertigte Haltungen zu sich und der Welt „in die Köpfe einzutrichtern“. Er gab der Hoffnung Ausdruck, dass es sich dereinst auch auf die Grundsätze der Regierung auswirken werde, dass der Mensch „mehr als Maschine“ sei, und die Regierung es schließlich „ihr selbst zuträglich finden“ würde, diesen Menschen seiner Würde gemäß zu behandeln. Ausgeschlossen ist das nicht, es gab und gibt immer wieder Schismen zwischen Sonderinteressengruppen von Machthabern. Selbst in kleinsten Familien gibt es Streit, es ist abwegig, eine generelle Homogenität der Interessen der Machthaber anzunehmen. Auch wenn diese das Beherrschen einer Gruppe Menschen durch eine andere prinzipiell gut zu finden scheinen, so gibt es doch zig unterschiedliche Ausprägungen, wie sehr oder wie tückisch die Menschen beherrscht werden müssten, wie detailliert man sie kontrollieren sollte, wie viel man ihnen belassen sollte und so weiter. Und es gab sogar Menschen, die zu politischer Macht gelangten und die sich tatsächlich für die Freiheit im Denken und Handeln ihrer Mitmenschen einsetzten, wie etwa Ludwig Erhard, auch wenn seine Errungenschaften für die Freiheit der Individuen von der nachfolgenden Nomenklatura weitgehend wieder kassiert wurden.
Eine andere Möglichkeit ist, dass eine kleine Gruppe von Menschen beginnt, eine „Neuerung“ zu übernehmen, wie Ludwig von Mises meinte. Die Neuerung wäre – im Kant’schen Sinne – das eigene Denken und – in Sachen der Erfahrung – das eigene Urteil. „Aller Fortschritt der Menschheit vollzog sich stets in der Weise, dass eine kleine Minderheit von den Ideen und Gebräuchen der Mehrheit abzuweichen begann, bis schließlich ihr Beispiel die anderen zur Übernahme der Neuerung bewog“, schrieb Ludwig von Mises. Es gilt hier also im Kleinen zu beobachten, ob sich ein „Bewusstseinssprung“ hin zum eigenen Denken und eigenen Urteil ergibt.
Bewusstseinsentwicklungen in der Gesellschaft scheinen sich ja nicht so durchzusetzen, dass erst die Masse der Menschen etwas Neues versteht oder begreift und dann erreicht dies schließlich die Minderheiten bis hin zum Individuum. Sondern es sind kleine Gruppen, ja herausragende Individuen, bei denen etwas Neues ins Bewusstsein gelangt, Geister wie eben Dante, Kant oder Mises.
Halten wir also die Augen offen, ob sich im Kleinen etwas tut. Ideen sind nämlich sehr „viral“, das heißt, ihre Verbreitung kann sehr rasch erfolgen, wenn einmal die hergebrachten Eindämmungsmaßnahmen durch die vorgesetzten, alten Ideen und Glaubenssätze nicht mehr funktionieren.
Quellen:
Dante Alighieri: De Monarchia. Über die Notwendigkeit der Monarchie, 2002, Jacob Ney (Herausgeber und Bearbeiter), S. 30; 24.
Leben wir in einem aufgeklärten Zeitalter? – zu Immanuel Kants 218. Todestag (Andreas Tiedtke, Misesde.org)
Die materialistische Geschichtsauffassung als Methode der „erkenntnistheoretischen Kriegsführung“ gegen das eigene Denken im Ringen um die Meinungshoheit (Antony P. Mueller, Misesde.org)
Ludwig von Mises, Liberalismus (1927), S. 48.
Kommentare
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