Demokratietheorie – Teil 3: Die Bändigung der Lemminge
Weniger Demokratie wagen
von Stefan Blankertz
Dass der Mehrheit das Schlimmste zuzutrauen ist, gesteht sogar die herrschende Demokratietheorie zu. Denn sie statuiert, dass die Reichweite dessen, was die Mehrheit entscheiden dürfe, durch in der Verfassung garantierte Menschen- oder Grundrechte begrenzt werden müsse. Das ist schon ein bezeichnender Umstand: Auf der einen Seite traut man der Mehrheit zu, Menschen- oder Grundrechte gelegentlich beschneiden oder gar aufheben zu wollen, auf der anderen Seite aber traut man in allen übrigen Bereichen der Mehrheit zu, zukunftsträchtige und sinnvolle Entscheidungen zu treffen (auch bezüglich so existenzieller Fragen wie Krieg und Frieden, Wirtschaft, Umweltschutz und so weiter). Durch welche göttliche oder natürliche Fügung diese Trennung der Entscheidungsfindung durch die Mehrheit in einen guten und einen schlechten Part erklärlich ist, hat meines Wissens noch niemand veröffentlicht.
Die Geschichte und Gegenwart der Demokratie zeigt allerdings, dass Verfassungen dann, wenn die idealtypische Mehrheit (de facto meist eine kleine Minderheit) entschlossen ist, die Menschen- oder Grundrechte zu beschneiden oder gar aufzuheben, nicht das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt wurden. Viele demokratische Staaten haben darum eigene Gerichte installiert, die solche Beschränkungen der Rechte durch die von der Mehrheit gewählte Regierung überprüfen sollen. Aber allein die Tatsache, dass Beschränkungen der Rechte überprüft werden sollen, zeigt, dass der Geltung der Rechte enge Grenzen gesetzt sind: Sie gelten eben doch nicht bedingungslos, wie uns die Demokratietheorie vorgaukelt. Da die Rechtsbeschneidung durch die regierende Mehrheit meist mit einer absoluten Notwendigkeit begründet wird, verweigern die Verfassungsgerichte tatsächlich nur selten die Zustimmung zu einer Rechtebeschränkung. Wenn sie die Zustimmung verweigern, geraten die unter schweren Druck der regierenden Mehrheit und ihrer Medien; die Verfassungsrichter werden dann als undemokratisch beschimpft, als unpatriotisch, als Hindernis bei der Ausübung der Macht im Sinne des für das ganze Volk Besten. Nur wenige Richter halten einem solchen Druck lange stand.
Viele demokratische Staaten haben mehrere Kammern oder wählen die Parlamente nicht im Ganzen, sondern jeweils nur einen Teil der Abgeordneten. Auch diese Maßnahme soll eine Bremse sein, um es einer gegenwärtigen Mehrheit nicht zu leicht zu machen, sich ungehindert durchzusetzen. Und auch diese Maßnahme kann nicht anders interpretiert werden, als dass von der Mehrheit erwartet wird, schlechte, zumindest überhastete Entscheidungen zu treffen und der Minderheit zu schaden. Darauf komme ich gleich zurück.
Die stärkste Bremse für die regierende Mehrheit stellt die Bürokratie dar. Die Bürokratie ist zwar von einer regierenden Mehrheit in der Vergangenheit eingerichtet worden und ein Teil ihres Personals wurde von einer früheren regierenden Mehrheit ins Amt befördert (der größere Teil allerdings kommt durch die Karriereleiter nach oben), aber das Personal der Bürokratie wird höchstens an der obersten Spitze mit der Wahl einer neuen Partei, einer neuen Koalition oder eines neues Präsidenten ausgetauscht. Die Behäbigkeit der Bürokratie ist richtigerweise Gegenstand von Kritik und auch Spott, denn diese Behäbigkeit führt zu verschleppter Anpassung an neue Umstände und zu einem Mangel an Innovationsfreudigkeit. Gleichwohl hat diese Behäbigkeit auch eine gute Seite: Sie schützt die Bevölkerung und besonders diejenigen Teile der Bevölkerung, die der Regierung nicht zugestimmt haben, vor Veränderungswut und Fehlentscheidungen der jeweils neu Gewählten.
Wie man zu der Behäbigkeit der Bürokratie steht, hängt entscheidend davon ab, ob man den gegenwärtig Regierenden inhaltlich zustimmt oder nicht. Gehen wir aus rein illustrierenden Zwecken von der ungeeigneten Rechts-Links-Achse der Politik aus, so ist man als Linker bei einer rechten Regierung heilfroh, wenn Bürokraten und Richter der Regierung so viele Steine wie möglich in den Weg legen, man beklagt genau dies aber, wenn eine linke Koalition an die Regierung kommt – und umgekehrt.
In den letzten Jahren hat sich für die politische Bremswirkung der Bürokratie der Begriff „Deep State“ eingebürgert. Allerdings wird der Begriff meist so eingesetzt, dass er es erschwert, das Problem der Demokratie zu benennen. Dies hängt an zwei Punkten im Deep-State-Begriff. Zum einen wird die Bremswirkung des Deep State (also der Bürokratie) als Demokratie-Defizit angeprangert, so als ob die Lösung darin bestünde, die Bürokratie der kompletten Kontrolle durch die Regierenden zu unterwerfen. Spätestens, wenn dann die andere Partei an den Drücker kommt, wünscht man sich hingegen einen sehr starken Deep State und beklagt, dass die neue Regierung ungebührlichen Einfluss auf die Bürokratie (oder auf die Gerichte) nehme. Der andere problematische Punkt im Deep-State-Begriff ist die Unterstellung, dass das Personal der Bürokratie aus persönlicher Bosheit sich untereinander verschwöre, um der als das reine Gute verkörpernden Mehrheitsregierung das Leben schwer zu machen. Die Bremswirkung der behäbigen Bürokratie ist dagegen gar kein Ergebnis der Entscheidung von einzelnen Bürokraten oder der Bürokraten als Gesamtheit, sondern des bürokratischen Systems. Genauso wichtig ist freilich die Einsicht, dass die Bremswirkung des Deep State die jeweils nicht regierende Opposition vor der übergriffigen Regierung schützt. Denn die Regierung kann der Opposition schaden – und tut es.
Ich komme hier auf das Thema des Schadens zurück. Da Regierungstätigkeit nicht auf die zustimmenden Personen begrenzt ist, also nicht auf freiwilliger Kooperation beruht (im Gegensatz zu Tätigkeiten auf dem freien Markt), ist es ihr inhärent, Einzelpersonen und Personengruppen zu schaden. Entgegen der Demokratietheorie heilt die Regel, dass die Mehrheit die Tätigkeit der Regierung regeln solle, das Problem des Schadens nicht. Vielmehr ist es für den, dem geschadet wird, völlig einerlei, ob die Zufügung von Schaden durch einen Kriminellen, durch einen Diktator oder durch einen von der Mehrheit gewählten Präsidenten erfolgt. Ich konnte auch zeigen, dass selbst Demokraten nicht davon ausgehen, dass Mehrheiten sich per se freundlich und rücksichtsvoll gegenüber der Opposition verhalten – ganz im Gegenteil: Die Demokratietheorie geht davon aus, dass die Mehrheit durch Regeln daran gehindert werden muss, die Opposition zu unterdrücken. Dass sie die Opposition auch ausbeutet, das ist etwas, dass die gängigen Demokratietheorien nicht erkennen.
Nun wird gegen diese Kritik gern eingewandt, irgendwer müsse schließlich entscheiden, und da sei es doch besser, wenn die Mehrheit entscheide, als dass man der Willkür Einzelner unterworfen werde. Allerdings konnte ich zeigen, dass die Mehrheit nicht weniger willkürlich entscheidet als jeder einzelne Diktator. Aber vor allem ist darauf zu verweisen, dass es eine gut funktionierende Alternative zur Demokratie gibt: den freien Markt. Auf dem freien Markt entstehen Unternehmen und Organisationen, die hochkomplex und innovativ sind, die Probleme lösen statt schaffen, die die Balance halten zwischen dem Bewahren des Bewährten und der Neuerung des Überlebten und die auf nichts anderes angewiesen sind als auf die freiwillige Kooperation. Und obwohl dieser freie Markt seit Langem unter der Knute der Politik steht, die ihn knebelt und hindert, wo es nur geht, versorgt er uns alle und schafft Wohlstand, Sicherheit und Schutz der natürlichen Ressourcen ohne Ende.
Die Antwort auf das Problem der Demokratie: weniger Demokratie, dafür mehr Markt wagen.
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