Nietzsche, ein Libertärer?: „Dort, wo der Staat aufhört …
… da beginnt erst der Mensch“
von Reinhard Günzel
Gegen die Vereinnahmung durch die Nationalen Sozialisten post mortem konnte er sich nicht mehr wehren, auch nicht dagegen anschreiben, dass Goebbels, mangels eigenen Vermögens dieser Deutschlandverderber, einen Übermenschen hervorzubringen, bei der Umwertung aller Werte auch gleich den Untermenschen ersann, eine unmenschliche Zuschreibung, die noch ein ganzes Ende entfernt von Schwurblern, Covidioten und Klimaleugnern ist, eher in die Nähe der Ratten weist, die es in ihre Löcher zurückzutreiben gilt, was ja den Ungeimpften vor nicht zu langer Zeit angedroht wurde. Nun gibt es Menschen, die haben andauernd Pech im Leben, einige noch nach dem Tode, und Friedrich Nietzsche, scharfsinniger Denker und gebürtiger Sachse, hatte in beiden Fällen Pech, zeitlebens zunehmend von einer Krankheit geplagt, die ihm sein Wichtigstes zerstörte, den scharfen, überragenden Geist, und nach dem Tode von jenen vereinnahmt, mit denen er am wenigsten gemein sein wollte. Manch einen trifft das Schicksal schwer, so Nietzsche und seinen Freund Wagner, denn die Vereinnahmung ihrer Werke im Dritten Reich machte nicht nur deren Rezeption den nachfolgenden Generationen schwer, auch Nietzsche und Wagner waren beschädigt, Kontaktschuld eben, noch Jahrzehnte nach ihrem Ableben. Die roten Sozialisten der DDR mochten ihn vordergründig deshalb nicht, bis auf eine kleine Periode, als man glaubte, sich alles, was sich irgendwie verwerten ließ, aneignen zu können. Es hielt aber nicht lange an, man verwarf ihn wieder.
Nietzsche kannte diese Typen, bundesdeutsche Akademiker und andere Hüter des offiziellen Denkens und Gedenkens eingeschlossen. Für ihn waren sie „Moralische Stechfliegen. — Jene Moralisten, denen die Liebe zur Erkenntnis abgeht und welche nur den Genuss des Wehetuns kennen — haben den Geist und die Langeweile von Kleinstädtern; ihr ebenso grausames, als jämmerliches Vergnügen ist, dem Nachbar auf die Finger zu sehen und unvermerkt eine Nadel so zu stecken, dass er sich daran sticht. In ihnen ist die Unart kleiner Knaben rückständig, welche nicht munter sein können ohne etwas Jagd und Misshandlung von Lebendigem und Totem.“ Hier hat der Meister doch schon gleich mal in seiner unnachahmlichen Trefflichkeit die ganzen Twitterblasen mit ihrer Cancel Culture umfassend beschrieben und man stoße sich auch nicht an den „kleinen Knaben“, leben wir doch längst in einer hochgradig infantilen Epoche.
Nietzsche, von Haus aus Dichter, Philologe und auch Philosoph, hat keine systematischen Abhandlungen zur Philosophie geschrieben und kein abgeschlossenes Lehrgebäude hinterlassen. Er bevorzugte den Aphorismus, in der Literatur das, was die Formel in den Naturwissenschaften ist, die kurze pointierte Zusammenfassung ganzer Abhandlungen. Seine Aphorismen sind sprachgewaltig, einprägsam und taugen auch heute noch für Bekundungen aller Art.
Nietzsche, der zum Leidwesen der Systematiker sich nicht in irgendwelche Schubladen allgemeiner Denkrichtungen einordnen lässt, war gewiss ein unabhängiger Denker, ein Freigeist – aber war er auch ein Libertärer? Ich meine, dass man sicher manches, was sich mit unseren heutigen Denkmustern nicht immer deckt, finden lässt. Manches erscheint uns heute auch abseitig und unwichtig, aber, wer seinen Zarathustra über den Staat als das kälteste aller Ungeheuer reden lässt, der verdient es, genauer gelesen zu werden.
Los geht’s mit Nietzsche zu Parteien, Demokratie, Sozialismus und Staat, und beginnen wir mit Letzterem, dem kältesten aller Ungeheuer, einem, zumindest unter Libertären, bekannten Ausspruch seines Zarathustra, dem er gleich noch eine ganze Suade hinterherschiebt – zu Kaisers Zeiten straffrei, zumindest wurde Nietzsche diesbezüglich nicht belangt, fällt das heutzutage sämtlich unter Herabwürdigung und Delegitimierung des Staates.
Zu Nietzsches Lebzeiten waren die Steuersätze im Deutschen Reich verschwindend niedrig und es gab auch keine Mehrwertsteuer, weshalb wohl auch niemand geglaubt hätte, dass der Staat sich einmal der Hälfte des Einkommens bemächtigen würde. Und auch den ÖRR gab es nicht, aber Nietzsche gelang damals schon das Kunststück, beider schonungslos und prophetisch in einem Satz habhaft zu werden: „Aber der Staat lügt in allen Zungen der Guten und Bösen; und was er auch redet, er lügt — und was er auch hat, gestohlen hat er’s.“ Und zur Allmacht des Staates, als oberste und letzte Instanz in allen Dingen, die Bemerkung: „‚Auf der Erde ist nichts Größeres als ich: der ordnende Finger bin ich Gottes‘ — also brüllt das Untier.“
Nein, wenn Nietzsche alles war, staatsgläubig war er mit Gewissheit nicht, denn „dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch“.
Nietzsches Bemerkungen über den Staat sind von erstaunlich aktueller Gültigkeit, doch selbst heutzutage, wo der Bürger ohnmächtig mit ansehen muss, wie seine Sprache und Kultur verhunzt, seine wirtschaftlichen Grundlagen des Wohlstands absichtlich zerstört werden und sein Land Schritt für Schritt in einen Krieg hineingezogen wird, sind seine Ansichten zum Staate, bei aller, hie und da zu vernehmenden Kritik, in Deutschland noch nicht mal ansatzweise mehrheitsfähig, aber auch das weiß Nietzsche zu erklären, denn „irgendwo gibt es noch Völker und Herden, doch nicht bei uns, meine Brüder: da gibt es Staaten …Und nicht nur Langgeohrte und Kurzgeäugte sinken auf die Knie!“
Im heutigen Verständnis waren moderne politische Parteien zu Lebzeiten Nietzsches noch relativ jung, begannen erst Schritt für Schritt an Bedeutung zu gewinnen, denn vor der Reichsgründung 1871 waren die meisten politischen Vertretungen ständisch verfasst. Doch auch hier, obwohl alles noch im Werden und das Ende nicht absehbar war, zeigte sich sein schonungsloser Blick und eine messerscharfe Charakterisierung, gültig von Anbeginn und den Gang der Dinge für die kommenden Generationen vorhersagend, denn „das gewaltigste Wasser, das sie vorwärts treibt, ist das Bedürfnis des Machtgefühls und der demagogische Charakter und die Absicht, auf die Massen zu wirken, ist gegenwärtig allen politischen Parteien gemeinsam: sie alle sind genötigt, der genannten Absicht wegen, ihre Prinzipien zu großen Alfresco-Dummheiten umzuwandeln und sie so an die Wand zu malen.“ Wer denkt da nicht gleich an die Umfallerpartei oder die Ära Merkel und aktuell an die Metamorphose einer Naturschützerpartei zu einer Partei, die riesige Mengen an Beton und Stahl in Feld und Wald versenkt und sich darüber hinaus zu einer Partei weg vom absoluten Pazifismus hin zu einer Partei von Kriegsbefürwortern gemausert hat? Klar, „Soweit geht die décadence im Wert-Instinkte unsrer Politiker, unsrer politischen Parteien: sie ziehn instinktiv vor, was auflöst, was das Ende beschleunigt.“
Was Nietzsche hier nicht erwähnt, ist „Politik als Beruf“, doch der Broterwerb des Abgeordneten auf Kosten des Steuerzahlers war zu seinen Lebzeiten noch nicht gegeben. Die Abgeordneten nahmen ihre Mandate ehrenamtlich wahr, und während uns heutzutage der sich immer stärker offenbarende intellektuelle Verfall in der Politik beunruhigt, wir die vielen Berufslosen in den Parlamenten beklagen, jene Spezies, die außerhalb der Politik ihr Leben als Sozialfall fristen müsste, hätte Nietzsche mit diesen katastrophalen Entwicklungen überhaupt kein Problem – ganz im Gegenteil, er hielt sie sogar für wünschenswert. Unter der Überschrift: „So wenig als möglich Staat!“ schrieb er fest, dass es keine Verhältnisse geben könne, die eine Betätigung der begabtesten Geister in der Politik rechtfertigen würden, denn „ein solcher Verbrauch des Geistes ist im Grunde schlimmer, als ein Notstand. Es sind und bleiben Gebiete der Arbeit für die geringeren Köpfe, und andere als die geringen Köpfe sollten dieser Werkstätte nicht zu Diensten stehen.“
Na also, wenn das kein Trost in unserer heutigen Lage ist!
Die Sozialdemokratie erwähnt Nietzsche nicht. Er behandelt Sozialismus und Demokratie jeweils für sich. Für ihn ist „der Sozialismus der phantastische jüngere Bruder des Despotismus, er begehrt eine Fülle der Staatsgewalt, wie sie nur je der Despotismus gehabt hat, ja er überbietet alles Vergangene dadurch, dass er die förmliche Vernichtung des Individuums anstrebt: als welches ihm wie ein unberechtigter Luxus der Natur vorkommt und durch ihn in ein zweckmäßiges Organ des Gemeinwesens umgebessert werden soll. Er braucht die allerunterthänigste Niederwerfung aller Bürger vor dem unbedingten Staate, wie niemals etwas Gleiches existiert hat; so kann er sich nur auf kurze Zeiten, durch den äußersten Terrorismus, hie und da einmal auf Existenz Hoffnung machen. Deshalb bereitet er sich im Stillen zu Schreckensherrschaften vor und treibt den halb gebildeten Massen das Wort ‚Gerechtigkeit‘ wie einen Nagel in den Kopf, um sie ihres Verstandes völlig zu berauben und ihnen für das böse Spiel, das sie spielen sollen, ein gutes Gewissen zu schaffen.“
Ein beachtlich scharfer Blick in die Glaskugel, denn zu Nietzsches Lebzeiten war der Sozialismus nur als Programm einer Arbeiterpartei und als intellektuelle Debatte greifbar, doch das, was er hier skizziert, sollte ein paar Jahrzehnte später in etlichen Ländern grausige Wirklichkeit mit zig Millionen Toten werden – die Gulags und andere „Besserungsanstalten“ nicht zu vergessen.
Und der Sozialismus auf parlamentarischem Wege?
Das Individuum in seinem Eigenheim mit Verbrenner als unberechtigter Luxus der Natur, das es mit Cancel Culture und Genderwelsch umzubessern gilt, bis hin zur Niederwerfung vor dem Klimagötzen unter Aufsicht der Gleichstellungsbeauftragten – es läuft doch immer auf das Gleiche, von Nietzsche Vorgeahnte hinaus.
Aber „der Sozialismus kann dazu dienen, die Gefahr aller Anhäufungen von Staatsgewalt recht brutal und eindringlich zu lehren und insofern vor dem Staate selbst Misstrauen einzuflößen.“
Leider, so richtig diese Schlussfolgerung auch ist, irrt hier Nietzsche, es hat nicht funktioniert, der Mensch ist vergesslich, Unangenehmes wird verdrängt.
Kehren wir zurück zum Ausgangspunkt, die Entscheidung in Bezug auf die Frage, ob Nietzsche ein Libertärer war, steht noch aus.
Bisher ist klar, dass für Nietzsche der Staat das kälteste aller Ungeheuer, der übelriechende Götze mit seinen übelriechenden Götzendienern war und dass alles falsch an ihm ist; mit gestohlenen Zähnen beißt er, der Bissige. Falsch sind selbst seine Eingeweide und der Mensch beginnt dort, wo der Staat aufhört. Und sein Zarathustra weiß noch weit mehr gegen den Staat und seine Diener und Apologeten, jene Horde aneinander emporkletternder Affen, die sich wechselseitig in Schlamm und Tiefe zerren, vorzubringen, und da wundert es fast, wenn sich Nietzsche dann doch zu einem – so wenig als möglich – Staat bereitfindet.
Sein Verriss des Sozialismus, zu finden im ersten Band von „Menschliches, Allzumenschliches“, ist eine ebenso kurze, wie weitsichtige und meisterhafte Analyse dessen, was sich zu seinen Zeiten erst anschickte, an den Toren zur Macht zu rütteln, dabei sein Medusenhaupt noch sorgfältig verbergend.
Nietzsche, der gern Werte auf ihren Inhalt hin abklopfte und sich sehr für Musik und Dichtkunst interessierte, war in erster Linie ein Libertärer, vielleicht ein Libertärer, der gern über Werte nachdachte, aber eben ein kompromissloser Libertärer. Das lässt sich hier bereits feststellen, dabei haben wir noch gar nicht die neuzeitliche Gretchenfrage gestellt, eine der vielen unter den möglichen, aber heute mal nicht zum Klima, sondern: „Sag Nietzsche, wie hältst du’s mit der Demokratie?“
Dazu ausführlich in meiner nächsten Kolumne kommenden Sonntag.
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