Was ist Kapitalismus?: Das freie Wechselspiel von Angebot und Nachfrage
Massenwohlstand als kapitalistische Frucht
von Markus Krall
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Der Kapitalismus hat einen schlechten Ruf.
Kaum ein Begriff wird so sehr missverstanden, so sehr beschimpft und als Schimpfwort benutzt, so sehr verdreht und aggressiv verleumdet wie der Kapitalismus. Das fängt schon bei der Wahl der Attribute an, mit denen er in der Regel von den Propagandisten des Sozialismus verknüpft wird. Das geschieht mit dem Ziel, eine Art verbaler Kontaktschuld herzustellen.
„Manchester-Kapitalismus“, „Raubtier-Kapitalismus“ und „ungezügelter Kapitalismus“ sind nur eine kleine Auswahl davon. Verbunden werden diese Attribute mit schrecklichen Geschichten von der Armut im 19. Jahrhundert, der Ära, in der sich diese üble Sache ganz ungehindert entfalten durfte, und fertig ist die propagandistische Melange.
Diesen Ruf hat der Kapitalismus völlig zu Unrecht. Die meisten dieser Geschichten erweisen sich bei näherer Betrachtung als erlogen und erdichtet und die Wahrheit ist: Ohne den Kapitalismus würden wir immer noch im Feudalzeitalter leben, in dem 98 Prozent der Menschen bitterarm waren, und zwar so arm, dass sie eine Lebenserwartung hatten, die bei unter der Hälfte dessen liegt, was wir heute für selbstverständlich halten.
Es war keineswegs der Sozialismus, die Sozialdemokratie oder der Sozialstaat, der die Menschen aus dieser Armut befreit hat, wie man uns von Kindesbeinen an erzählt. Ohne den Kapitalismus wäre der Sozialstaat nichts weiter als ein Sandkasten irgendwelcher im Kopf verdrehter Spinner, weil sie gar nicht über die Ressourcen verfügen könnten, die die Erfüllung solcher Träume erst möglich machen.
Um das zu verdeutlichen, brauchen wir eine doppelte Perspektive auf das Phänomen Kapitalismus, eine historische und eine wirtschaftstheoretische.
Beginnen wir mit der historischen Frage. Unsere Wahrnehmung des Kapitalismus im 19. Jahrhundert, geschmäht als eben dieser „Manchester-Kapitalismus“, beruht im Wesentlichen auf den Erzählungen linker Autoren. Oliver Twist, das arme Straßenkind als Prototyp seiner Zeit, ist eines der bekanntesten Beispiele. In Wahrheit hat der Kapitalismus die Armut im 19. Jahrhundert nicht erzeugt, sondern vom Feudalismus geerbt und innerhalb von zwei Generationen weitestgehend abgeschafft. Am Ende dieser Ära, vor Beginn des Ersten Weltkrieges gab es in Europa und Nordamerika, den Heimatländern des Kapitalismus, einen blühenden Mittelstand, eine breite Mittelschicht, für die sozialer Aufstieg, Bildung und berufliche Chancen in einem Ausmaß wie nie zuvor in der Geschichte vorhanden waren.
Die Verarmung, die dann folgte, war nicht das Resultat der freien Marktwirtschaft (ein anderer Namen für Kapitalismus), sondern sie war das direkte Resultat staatlichen Handelns und staatlicher Planwirtschaft in Form der Kriegswirtschaft von 1914 bis 1918. In den darauffolgenden Zwanzigerjahren hatten sich diese falschen Rezepte in der Politik bereits so verfestigt, dass man sie rückblickend als große Verarmung gegenüber einem vorherigen goldenen Zeitalter bewerten muss.
Alle Statistiken über die entscheidenden Variablen der sozialen Frage, von der breiteren Verteilung des Einkommens und der Vermögen über die Lebenserwartung, die Ernährung, die Alphabetisierung und Bildung für die breite Masse der Menschen, die Gesundheitsversorgung bis hin zur Bekämpfung der Altersarmut, zum Umfang des Welthandels und des technischen Fortschritts und zu vielen anderen Faktoren, zeigen, dass es der Menschheit nach 100 Jahren Kapitalismus der angeblich so schlimmen „Manchester“-Sorte um Zehnerpotenzen besser ging als zuvor. Das 19. Jahrhundert war das wahre Jahrhundert des zivilisatorischen Fortschritts im Sinne des Massenwohlstands, und das hat weder der Sozialismus noch sein kleiner Bruder, der Sozialstaat, bewirkt. Das bewirkte der Kapitalismus, und zwar nur er.
Man könnte dem entgegenhalten, dass die Bismarck’schen Sozialreformen daran doch zumindest einen Anteil hatten, aber selbst das ist Unsinn. Bereits lange vor diesen „Reformen“ hatte sich der Lebensstandard der abhängig arbeitenden Menschen und ihrer Familien gegenüber dem Stand zu Beginn des 19. Jahrhunderts deutlich verbessert. Ihr Anteil am geschaffenen Produktivitätsfortschritt wuchs langsam, aber stetig. Der Grund lag in der relativen Verschiebung der Knappheiten zwischen Kapital und Arbeit. Zu Beginn der Industriellen Revolution (die ohne den Kapitalismus nicht stattgefunden hätte, weil nur er die Anreize für die dafür nötigen Innovationen setzen konnte) war Kapital sehr knapp und Arbeitskraft im Überfluss vorhanden. Im Marktprozess wird aber der Produktionsfaktor mit der höheren relativen Knappheit besser bezahlt als der mit einer geringeren relativen Knappheit. Das ergibt sich einfach aus Angebot und Nachfrage als Ergebnis des produktiven Grenznutzens der beiden Faktoren.
Wie Karl Marx immerhin korrekt beobachtet hat, ist der Kapitalismus durch die Effizienz seiner Produktion und seines Wirtschaftens in der Lage, einen enormen „Mehrwert“ zu produzieren, mit anderen Worten, neues Kapital zu schaffen und zu akkumulieren. Es findet volkswirtschaftlich also eine Art Ansparprozess des Kapitals statt. Ob das zu einer relativen Änderung der Knappheiten führt, hängt davon ab, was schneller wächst: der Kapitalstock (und mit ihm die Produktivität) oder die Zahl der Arbeitskräfte durch Bevölkerungswachstum.
Die Bevölkerung ist im 19. Jahrhundert in Europa ebenfalls sehr stark gewachsen, aber eben nicht annähernd so schnell wie der Kapitalstock. Damit sank der Preis des Kapitals relativ zum Preis der Arbeit. Arbeitskraft verknappte sich und die Arbeitgeber, also die Kapitalisten, waren als Opfer ihres eigenen Erfolgs gezwungen, um die Arbeiter zu konkurrieren. Sie mussten attraktiver werden. Heute redet jedes Unternehmen davon, für gute Mitarbeiter ein attraktiver Arbeitgeber sein zu wollen, insbesondere für die immer knapper werdende Ressource hochqualifizierter Mitarbeiter. Das ist das Resultat eines ökonomischen Gesetzes der relativen Knappheit von Produktionsfaktoren, und dieses Gesetz war auch schon im 19. Jahrhundert gültig. Daher ist es ein Unsinn zu behaupten, die Verbesserungen im Lebensstandard seien das Ergebnis irgendwelcher Entscheidungen von Politikern gewesen.
Man kann auch nicht sicher sein, dass Bismarck in der Sache nicht Klientelpolitik betrieben hat. Mit den Steinschen Reformen nach der militärischen Niederlage Preußens gegen Napoleon 1806 in der Schlacht von Jena (Gewerbefreiheit, Emanzipation der Juden, Bildungsreform mit Schulpflicht und Befreiung der Bauern) setzte ein stetiger Strom von Menschen vom Land in die Städte ein, weil dort ein besseres Leben winkte als auf dem Land, wo die Bevölkerungsexplosion nicht von einer Produktivitätsexplosion abgefedert wurde. Nach unseren Begriffen mögen die Menschen damals in den Städten unglaublich arm gewesen sein. So haben sie das selbst aber nicht gesehen, denn relativ zu den Verhältnissen auf dem Lande ging es ihnen dort immer noch viel besser.
Die Tatsache der Landflucht beweist es: Denn sie hätte nicht stattgefunden, wäre es anders gewesen. Damit konkurrierte aber die aufsteigende Industrie mit der Landwirtschaft um billige (und später nicht mehr so billige) Arbeitskräfte, ein Umstand, der den Junkern, also den Großgrundbesitzern in Preußen nicht gefiel. Sie hatten eine starke Lobby im 1871 neu gegründeten Deutschen Reich und Bismarck stand ihnen politisch nahe.
Seine Sozialreformen verteuerten die Arbeitskraft für die Industrie und verschoben so die relative Konkurrenzposition um Arbeitskraft zugunsten der Junker und der Landwirtschaft, die auch ansonsten kräftig mit Protektionismus und anderen staatlichen Interventionen gepäppelt wurde. An der langfristigen Besserstellung der Arbeiter änderte das nichts.
Dass diese Maßnahmen keinen wirklichen Einfluss auf den Wohlstand der Arbeiter hatten, erkennt man auch daran, dass es in den USA im 19. Jahrhundert keine analogen staatlichen Maßnahmen gegeben hat und das Wirtschaftswachstum und der Aufstieg der Arbeiterschicht aus der Armut dennoch nicht langsamer vonstattenging als bei uns.
Dafür, dass der in seiner Struktur dem Sozialismus ähnliche Feudalismus dem Kapitalismus die ungeheure Armut vererbt hatte, kann der Kapitalismus nichts. Ja, es gab im 19. Jahrhundert deshalb noch ungeheure Armut, aber sie hatte rein gar nichts mit dem Kapitalismus zu tun. Das ist eine Mär, erfunden von einem Chor entthronter Feudalausbeuter im Gleichklang mit sozialistischen Feudalnostalgikern, deren Gesellschaftsbild in Theorie und Praxis dem Feudalstaat frappierend ähnlichsieht.
So viel zur Historie.
Kommen wir zur wirtschaftstheoretischen Frage. Für die mit den Mechanismen der arbeitsteiligen Marktwirtschaft Vertrauten ist sie schnell und einfach zu beantworten.
Der Kapitalismus ist eine Form des Wirtschaftens, die die Effizienz der durch Geld ermöglichten Tauschwirtschaft mit der wissenschaftlichen Methode neuen Erkenntnisgewinns, die die Aufklärung hervorgebracht hat, kombiniert. Diese wissenschaftliche Methode zeichnet sich durch Systematik, Skeptizismus, Reproduzierbarkeit der Ergebnisse (intersubjektive Vergleichbarkeit), Anwendung der Logik und der Mathematik und empirische Überprüfbarkeit aus.
Die wissenschaftliche Methode ist eine notwendige, aber noch nicht hinreichende Bedingung für technischen Fortschritt. Die notwendige Zutat findet sich in der Anreizstruktur der freien Tauschwirtschaft (die bereits vor dem Kapitalismus existierte) und die den Typus des findigen und erfindungsreichen Unternehmers hervorbrachte, der sich als Forscher und Tüftler mit wirtschaftlichem Interesse verstand, ein Professor, der aus dem Elfenbeinturm ausgebrochen ist und sich daran machte, die Welt zu verändern.
Indem man mithilfe des Patentwesens seine Forschungsergebnisse von einem freien Gut zu seinem Eigentum machte, wurde der Anreiz gesetzt, viel mehr Mühe und Aufwand in die Forschung und Entwicklung neuer Produkte zu investieren. So konnte das Wissen auf eine exponentielle Wachstumskurve gesetzt werden, und dieses Wissen verbesserte die Produktivität, schuf neue Produkte, die vorher undenkbar waren (wer hätte sich 1850 ein Auto oder gar ein Flugzeug vorstellen können, wer hätte 1930 einen PC oder ein Smartphone auch nur in seiner Phantasie entstehen sehen?), und ganz nebenbei machten sie den Erfinder-Unternehmer unvorstellbar reich. Er tat etwas, was früher nur der ausbeutenden Klasse der Feudalherrscher vorbehalten war: Er akkumulierte Kapital.
Im Gegensatz zur Feudalklasse konsumierte er es aber nicht mit Tand und Schund und Führen von Kriegen, sondern er reinvestierte es, um noch mehr Güter zu erfinden, zu produzieren und noch reicher zu werden. Diese Kapitalakkumulation darf nicht verwechselt werden mit dem Anhäufen von Geld. Kapital und Geld sind zwei völlig verschiedene Dinge, die oft miteinander verwechselt werden, weil in einem funktionierenden Kapitalmarkt Geld und Kapital ineinander transformiert, also getauscht werden können.
Den Unterschied macht man sich am besten klar, indem man sich die Bewertung von Technologie-Start-ups ansieht. Erfolgreiche Ventures sind oft ein Vielfaches ihres Umsatzes wert und ein noch viel größeres Vielfaches ihres bilanziellen Buchwertes. Das, was in der Bilanz als Buchwert steht, wurde in der Regel für Geld gekauft oder entwickelt, aber das, was das Unternehmen am Markt wert ist, ist eben das Kapital. Es kann niedriger, gleich oder höher sein als der investierte Geldwert, je nachdem, wie erfolgreich der Unternehmer gewirtschaftet hat. Der Erfolg des Kapitalismus besteht also nicht in dem Wachstum des Geldes oder gar der Geldmenge, sondern nur und ausschließlich im Wachstum des produktiven Kapitalstocks. Die Verwechslung der Begriffe Geld und Kapital ist wahrscheinlich auch eine der Ursachen für die völlig unsinnige Behauptung, eine wachsende Wirtschaft brauche auch eine wachsende Geldmenge und daher müsse es Papiergeld geben und eine Zentralbank, die für stetigen Nachschub an frischem Geld sorgt.
Dieses frische Geld schafft kein Kapital, noch viel weniger Wohlstand. Was es tut, ist lediglich die Signalfunktion der Preise zu verzerren, auf diese Weise Ineffizienzen in das System einzuführen und dafür zu sorgen, dass das Wachstum des Kapitalstocks und damit der Wirtschaft hinter dem zurückbleibt, was möglich und wünschenswert wäre.
Der Unterschied liegt in den handelnden Personen: Der erfolgreiche Unternehmer weiß Dinge, er steht für den Kapitalismus, deshalb ist er erfolgreich. Der Zentralbanker und der Politiker hingegen maßen sich nur an, Dinge zu wissen, von denen sie keine Ahnung haben. Sie stehen für den Sozialismus. Deshalb versagen sie.
Kapitalismus ist ein System des Erfolgs. Er setzt Anreize für die Menschen in der richtigen Weise, er schafft Wohlstand, er schafft die Armut ab. Er steht für Zivilisation, für Fortschritt, dafür, dass wir nach den Sternen greifen. Per aspera ad astra.
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