Nietzsche und die Demokratie: „Die moderne Demokratie ist die historische Form vom Verfall des Staates“
Die Feinde der Demokratie sind – frei nach Nietzsche – das Prekariat, das Finanzkapital und die politischen Parteien!
von Reinhard Günzel
Deutsche Demokratische Republik, Demokratische Republik Kongo, Koreanische Demokratische Volksrepublik, Demokratische Volksrepublik Algerien, Demokratische Bundesrepublik Äthiopien, Demokratische Volksrepublik Laos, Demokratische Sozialistische Republik Sri Lanka – Demokratie und immer wieder Demokratie, wohin man auch schaut, und die Liste ist nicht vollständig, es fehlen ein paar kleinere Staaten. Was aber auffällt, ist, dass jemandem aus irgendeinem dieser Staaten, der in Deutschland anklopft oder klopfte, das Tor aufgetan und auf sein Begehren hin aus gutem Grund Asyl gewährt wird – wobei das mit dem Tor nur symbolisch gemeint ist, wir haben keins mehr an der Grenze, die nur zur Markierung des Hoheitsgebiets dient.
Was ist nur los auf der Welt – ist die Demokratie dysfunktional, kann sie ihr Versprechen auf Freiheit und Menschenrechte nicht einlösen, sind ihre Protagonisten in Wahrheit blutsaufende Tyrannen? Auch Deutschlands ranghöchster Maoist und der Chef de Cuisine, ja, alle Politiker aus dem demokratischen Spektrum – nach der Selbstverortung unsere einzig wirklichen und wahren Demokraten, alle links der Mitte, selbstverständlich keine arithmetische, sondern eine definierte Mitte, irgendwo an den Rand der CDU geklatscht – beklagen einhellig, dass „unsere Demokratie“ von Rechten, Nationalisten, Schwurblern, Reichsbürgern, Verfassungsfeinden und anderem Gelichter bedroht sei.
Wer bedroht uns nun wirklich und was unterscheidet „unsere Demokratie“ von der Demokratie obiger Staaten oder gibt es in Wahrheit womöglich gar keinen Unterschied? Um das zu klären, gilt es zunächst mit einem Missverständnis aufzuräumen. Demokratie, die Volksherrschaft, steht hierzulande für Frieden, Freiheit und Wohlstand, in der ein Machtwechsel wie auch Mitbestimmung friedlich, ohne Cäsarenmord möglich sind. Doch all diese Segnungen können sich nur dann einstellen, wenn das Prinzip der Entscheidungsfindung nicht nur, wie gemeinhin angenommen, auf bloßen Mehrheiten beruht, sondern auch durch Minderheitenrechte, die absolut gesetzt sein müssen, eingehegt wird. Und einige Fragen, die die Minderheiten – das sind jene bei Abstimmungen unterlegenen Mitglieder des Parlaments – betreffen, dürfen gar nicht zur Abstimmung gelangen, was bei der Konstituierung in der Verfassung festzuschreiben ist. Das klassische Beispiel hierzu sind Füchse und Gänse im Parlament, die alles Mögliche beraten dürfen, doch niemals die Frage, was zur nächsten Mahlzeit auf den Tisch kommt, selbst wenn den Füchsen der Magen noch so vernehmlich knurrt.
Besonderes Augenmerk gilt der Regierung, die sich sowohl in einem einmaligen Akt eines Ermächtigungsgesetzes, was wir historisch ja bereits hatten, als auch schrittweise über eine Abfolge von Gesetzen, was heutzutage bei Gebrauch eines kritischen Verstandes leicht beobachtet werden kann, der Kontrolle durch das Parlament entziehen kann. Gesetze, die Kompetenzen von den unteren Ebenen auf die Regierungsebene heben, mal bei den Baugesetzen, um Windkraft voranzutreiben, Hass und Hetze, also Unterdrückung nicht genehmer Meinungen, Einsatz des Verfassungsschutzes gegen politische Wettbewerber, Seuchenbekämpfung, um mal auszutesten, wie weit man es bereits treiben kann, und vieles mehr – vordergründig stets, um das Primat der Politik im Interesse des Volkes effektiver einsetzen zu können. In der Praxis handelt es sich jedoch um den Abwurf des demokratischen Ballasts zum flotten Durchregieren oder zwecks alleiniger Führerschaft eines Diktators, was regelmäßig und unweigerlich, mal früher, mal später, aber verlässlich, in Mord und Totschlag mündet.
Zu einer stabilen und erfolgreichen Demokratie gehört daher unbedingt eine Verfassung, die den strikten Schutz von Grundrechten der Individuen beinhaltet, und es gehören auch Institutionen dazu, die über die Einhaltung der Verfassung wachen. Fehlt es nur an einem Teil davon, geht alles unweigerlich den Bach runter, und Sie können dann andernorts um Asyl bitten.
Hält man sich dies vor Augen, kann man unseren hochangesehenen Politikern wohl zustimmen und die Demokratie in Deutschland oder, besser gesagt, unsere freiheitlich demokratische Grundordnung durchaus für bedroht halten. Näher an der Wirklichkeit und treffender wäre aber die Feststellung, dass sie in höchster Gefahr ist, und es sind keineswegs die Covidioten, die das verschuldet haben. Dazu ein kurzer Blick auf Fragen, die in der Bevölkerung gegensätzlich diskutiert werden, bei denen die Politik aber eine breite Diskussion abwürgt und ihr genehme Maßnahmen gegen den mehrheitlichen Willen des Volkes umsetzt.
Beginnen wir mit dem Genderwelsch, das von der überwiegenden Mehrheit des Volkes abgelehnt wird, doch ihm ohne Diskussion seitens der Politik reingewürgt wird. Auch die ungehemmte Einwanderung lehnt die Mehrheit ab, die Politik jedoch ist nicht bereit, diesem Willen zu entsprechen oder eine ehrliche Diskussion zu dem Thema anzugehen. Das Gleiche lässt sich bei den Themen Islam, Cancel Culture, Homophobie, Klima, Krieg in der Ukraine, AfD und Rassismus beobachten. Überall ist es dasselbe: Entweder ihr folgt uns, betet unsere Rosenkränze nach – wenn nicht, haben wir Mittel und Wege, euch das Maul zu stopfen.
Die Repräsentanten und Mandatsträger eines demokratischen Gemeinwesens dürfen keine Entscheidungen treffen, schon gar nicht unumkehrbare wie die massive Förderung einer ungehemmten Einwanderung, wenn nicht zuvor über eine breite öffentliche Diskussion ein Mindestmaß an Übereinstimmung des Wollens seitens der Bürger erreicht wurde. Andernfalls haben wir entweder eine Diktatur der Masse oder aus Koalitionszwängen und Machtkalkül getroffene Entscheidungen, die gegen den Mehrheitswillen des Volkes gefällt werden. Nimmt dieses Gebaren überhand, bietet die Demokratie alsbald für die Gesamtheit der Bürger keinen Mehrwert mehr, sie wird instabil, schwach, zur Beute der Herrschsüchtigen und zerfällt.
Volksentscheide könnten hier Abhilfe schaffen, aber nur in den Fällen, wo es parteiübergreifende Mehrheiten im Volke gibt, die jene Entscheidungen, die nur aufgrund der Machtstruktur der Parlamente mit Fraktions- und Koalitionszwängen erfolgt sind, wieder aufheben. In den übrigen Fällen führen sie zu simplen Mehrheitsentscheidungen ohne Berücksichtigung der Minderheitsinteressen.
Diese Krise der Demokratie beobachten wir nicht nur in Deutschland, sondern sie ist in allen Industrieländern zu sehen, wird sich aber mit zunehmendem Wohlstand auch auf weitere Staaten ausweiten. Zurückzuführen ist sie auf eine grundsätzliche Unzulänglichkeit der parlamentarischen Demokratie, die umso schwieriger behoben werden kann, je größer die Staaten sind. Die Rede ist hier von der systemimmanenten Entkopplung der politischen Entscheidungsgewalt von den Folgen der Entscheidungen. Ein Aus für Verbrenner? Kein Problem, ich flieg ohnehin Helikopter, und für die letzten Kilometer wartet das Elektromobil – also für eine saubere Luft, gegen den Klimawandel, wir müssen nur vorangehen, der Rest folgt uns dann schon.
Es ist die alte abgehobene Denkweise des „Wenn die Leute kein Brot mehr haben, wieso essen sie denn da nicht einfach Kuchen“? Interessiert mich jedenfalls nicht, wir verfolgen höhere, wichtigere Ziele, die müssen sich eben umstellen, wenn sie nicht mehr klarkommen, Punkt, Diskussion beendet.
Auch ausgeklügelte Verfassungen und strikte Einhaltung und Überwachung der Verfassungen durch die Institutionen werden das Problem nicht beheben können. Es lässt sich durch die Bildung kleiner, selbständiger Einheiten, die, so weit nur irgendmöglich, untereinander privatrechtlich organisiert sind, lediglich abmildern. Und darüber hinaus gibt es noch eine Menge von Dingen, die ich von selbst weiß oder die ich selbst für mich entscheide – ganz ohne Staat, der sich hier nur ungefragt einmengt und Unheil anrichtet –, die wieder in meine Befugnis gehören, wie meine Art zu reden, wie ich mich anderen Menschen gegenüber zu verhalten habe (hatten mir bereits meine Eltern beigebracht), ob ich mich impfen lasse, wie ich meine Wohnung beleuchte oder mein Haus beheize, mit wem ich rede oder mich gelegentlich treffe, ob ich an Gott glaube oder nicht, was ich lese oder im Internet anschaue, wie ich meine Kinder erziehe und welche Werte ich ihnen auf dem Weg ins Leben mitgebe, ob ich lieber Auto oder Fahrrad fahre, was ich gern esse oder trinke et cetera. Für all diese Dinge brauche ich keinen Staat mit seiner empörenden, bald apokalyptische Ausmaße annehmenden Anmaßung, in mein Privatleben eindringen zu wollen, mir den Mund zu verbieten, mich zu vereinnahmen und umzuerziehen. Und ich brauche auch keinen Staat, der den Unternehmen vorschreibt, was und wie viel sie produzieren dürfen und was nicht, denn darüber entscheide ich als Kunde.
Nur, wie können wir das erreichen, die Zusammenführung von Entscheidungsmacht und die Folgen tragen? Wie die Irrfahrt des Parlamentarismus beenden, ihn auf das beschränken, wo er dienlich ist?
Es sieht schlecht aus, eine Patentlösung habe ich auch nicht, aber wir müssen zumindest dranbleiben, die Fragen erörtern, anderen den Blick dafür öffnen, was hier abgeht und welche Folgen das haben kann. Es ist unsere ureigenste Aufgabe – von den Fröschen werden wir nicht erfahren, wie der Teich trockenzulegen wäre.
Ja, und natürlich auch mal bei den Vordenkern vorbeischauen, denn auf dem Tisch liegt das Problem schon seit Langem, bereits seit es die Demokratie gibt, und vielleicht können wir von denen noch etwas lernen.
Ich hab’ ja noch ein Versprechen vom letzten Sonntag einzulösen: Nietzsche und die Demokratie. Deshalb jetzt die Frage: Was hatte der hierzu angemerkt?
Beginnen wir mit den Institutionen, die uns ja wie Sandkastenfiguren im lauen Sommerwind zerbröseln, jene Institutionen, die unsere Rechte uminterpretieren, anstatt sie unverdrossen zu verteidigen.
Für Nietzsche ist klar, dass wir selbst daran schuld sind, und so lässt er uns in der Kritik der Modernität wissen: „Unsre Institutionen taugen nichts mehr: darüber ist man einmütig. Aber das liegt nicht an ihnen, sondern an uns. Nachdem uns alle Instinkte abhandengekommen sind, aus denen Institutionen wachsen, kommen uns Institutionen überhaupt abhanden, weil wir nicht mehr zu ihnen taugen.“
Aua, das tat weh, aber dem wäre erst mal nichts hinzuzufügen, auch wenn wir damit noch nicht wissen, wie wir diese Entwicklung umkehren können.
Und zur Demokratie, ausdrücklich zu der seinerzeit sich ankündigenden, der damals kommenden und nicht dem, was zu seinen Lebzeiten unter der Bezeichnung Demokratie bereits existierte, meinte Nietzsche: „Die Demokratie will möglichst vielen Unabhängigkeit schaffen und verbürgen, Unabhängigkeit der Meinungen, der Lebensart und des Erwerbs.“
Das sollte auch heute noch so sein mit der Meinungsfreiheit, Unantastbarkeit der Person und Gewerbefreiheit – doch wie umsetzen?
„Dazu hat sie nötig, sowohl den Besitzlosen als den eigentlich Reichen das politische Stimmrecht abzusprechen: als den zwei unerlaubten Menschenklassen, an deren Beseitigung sie stetig arbeiten muss, weil diese ihre Aufgabe immer wieder in Frage stellen. Ebenso muss sie alles verhindern, was auf die Organisation von Parteien abzuzielen scheint. Denn die drei großen Feinde der Unabhängigkeit in jenem dreifachen Sinne sind die Habenichtse, die Reichen und die Parteien.“
Das sind drei interessante Forderungen und eine damit verbundene Behauptung, die sich in dieser Schärfe so schnell nicht wiederfindet und die schon gar nicht aus dem Elfenbeinturm der akademischen Gelehrsamkeit ertönen wird: Die Feinde der Unverletzlichkeit der Person und des Privateigentums sind das Prekariat, das Finanzkapital und die politischen Parteien!
Einzelne der von Nietzsche benannten Forderungen werden auch heutzutage immer mal erhoben: Markus Krall will alle, für deren Lebensunterhalt die Steuerzahler direkt aufkommen müssen, vom Wahlrecht ausschließen, den Reichen das Stimmrecht zu entziehen ist bei RRG ohnehin mehrheitsfähig, das wird vielleicht noch kommen, wobei hinter der Frage, wer reich sei, bereits die Willkür lauert. Für ein Parteienverbot mal dieser, mal jener Partei finden sich in Deutschland immer Befürworter, für das allgemeine Verbot würden sich nur die Libertären einsetzen.
Aber wie würde ein solcher Staat wohl aussehen, ganz ohne Parteien, ohne Stimmrecht für Kostgänger des Steuerzahlers und die wirklich Reichen, und was würde sich da ändern? Das wäre dann halt ein Staat ohne Parteien und mit starkem Mittelstand, nicht unsympathisch, und er wäre, folgten wir Nietzsche, ein Minimalstaat, mit so wenig Staat und so viel privatrechtlichen Verhältnissen wie jeweils möglich.
Doch auch dieser Staat ist für Nietzsche nur ein Zwischenstadium, denn „die moderne Demokratie ist die historische Form vom Verfall des Staates. Die Aussicht, welche sich durch diesen sichern Verfall ergibt, ist aber nicht in jedem Betracht eine unglückselige: Die Klugheit und der Eigennutz der Menschen sind von allen ihren Eigenschaften am besten ausgebildet; wenn den Anforderungen dieser Kräfte der Staat nicht mehr entspricht, so wird am wenigsten das Chaos eintreten, sondern eine noch zweckmäßigere Erfindung, als der Staat es war, zum Siege über den Staat kommen.“
Oh Nietzsche, du begnadeter Denker, sächsischer Sprücheklopfer, hast so vieles richtig vorhergesehen – gebe Gott, dass du auch hier nicht irrst!
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