Geopolitik: Der Weg in eine multipolare Weltordnung
Von der Souveränität der Herrschenden zur Souveränität des Individuums
von Andreas Tiedtke (Pausiert)
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Prolog
In meinen vergangenen Kolumnen habe ich ausführlich erklärt, wie erkenntnistheoretische Kriegsführung, die so alt ist wie die Geschichte der Zivilisation, dazu genutzt wird, Herrschaft zu „legitimieren“, und wieso Herrschaft a priori in einem handlungslogischen Sinne nicht gerechtfertigt werden kann, wenn der Beherrschte nicht zustimmt. Denn nur durch die Zustimmung des Betroffenen wird die Herrschaft zu einer rechtlichen, ansonsten bleibt sie eine auf Macht basierende Herrschaft. Diese beruht nicht auf Legitimität, sondern auf der Androhung von Zwang und letztlich Gewalt.
Die Narrative zur Begründung von Herrschaft, mögen sie nun in religiösen Vorstellungen wurzeln oder im postmodernen Szientismus, sind dabei an sich leicht durchschaubar. Allein, die erkenntnistheoretische Kriegsführung richtet sich nicht nur gegen das eigene Denken, also die „angeborene“ Logik, und das Urteilsvermögen, also die Intuition, sondern sie setzt auch an bei unbewussten, infantilen und emotionalen Denk- und Reaktionsmustern: Angst vor Ausgrenzung, Schuld und Scham, Gefühle von Ungenügen und dergleichen. Der Mensch wird verzwergt vom Individuum mit eigenem Willen, vom Mikrokosmos der eigenen Erfahrungen und Präferenzen zu einem Zahnrädchen im biologisch-mechanistischen „Volksgeschehen“. Wer vorgibt, das Beste für „die Menschheit“ zu wollen, der meint nicht das Beste für den Menschen.
Diese erkenntnistheoretische Kriegsführung, die die Haltung des Menschen zu sich und zur Welt bestimmt und ihn – im besten Falle – zur willigen Unterordnung bringen soll, ist zwar mit den Mitteln der Interpretation von Erfahrung, also dem szientistischen herrschenden Empirismus, nicht so leicht zu durchschauen, aber durch logisches Denken kommt man eben doch darauf. Darum nicht nur die pseudo-wissenschaftliche Verklärung des Menschen in der Gesellschaft, sondern auch die Androhung der „Exkommunikation“ für den Fall, dass einer im Diskurs die herrschenden Narrative verwirft oder gar angreift. Aber letzten Endes kommt der Mensch durch eigenes Denken darauf, dass Macht nicht Recht ist und Herrschaft als die Unterwerfung friedlicher Menschen unter fremdes Wollen nicht gerechtfertigt werden kann. Er kommt darauf.
Zentralisierung und „Weltregierung“
Die Profiteure von Herrschaft sind nicht nur die politischen Akteure und ihre Anhänger, sondern auch die Sonderinteressengruppen, die von Monopolen, Subventionen, Regulierungen, Besteuerung und so weiter profitieren. Vom Geldmonopol im Fiat-Geldsystem bis hin zu „geistigen Monopolen“, mit denen sich Innovationen verhindern lassen, wie etwa durch das Anmelden oder Aufkaufen von „machtgedeckten“ Titeln. Dabei ist die Zentralisierung der Herrschaftsmacht ein wichtiger Punkt, sie scheint zumindest der letzte Trend gewesen zu sein: Dieser ging in Richtung „Imperium“, also das Prinzip der allumfassenden Herrschaft.
Hierin verbirgt sich das große Dilemma der Möchtegern-Weltenfürsten: Bei Dezentralisierung besteht für die Unterworfenen – zumindest in Abwesenheit eines „eisernen Vorhangs“ – die Möglichkeit, auszuweichen und sich unter die Herrschaft einer gnädigeren Oberaufsicht zu begeben. Die Selbstbestimmung der Regionen war in der Tat schon ein Schritt weg vom Prinzip Imperium. Nicht mehr der Pantokrator, der Weltenherrscher, führte das Schicksal aller, sondern die Regional-Fürsten oder Patrizierfamilien in Reichsstädten waren weitgehend souverän und vom Kaiser unabhängig. So gab es über Jahrhunderte zig deutsche Staaten bis in das 19. Jahrhundert hinein, bis 1871 mit der Reichsgründung wieder das „Prinzip Imperium“ die Oberhand gewann.
Und dies zeigt die andere Seite des Dilemmas: Zentralisierung. Jetzt gab es zwar nicht mehr zig deutsche Staaten, sondern ein zentralisiertes Reich. Aber das brachte das geopolitische Dilemma mit sich, das andere, die bislang führend waren im „Game of Thrones“, also im Ringen um die Vorherrschaft, um ihre Stellung als Hegemon, also als Erster unter Gleichen bangten. Selbst in kleinsten Familien gibt es Streit, aber der „Krieg der königlichen Cousins“ war verheerend. Königin Viktoria war die Großmutter Kaiser Wilhelm II. und König Georg V. des Vereinigten Königreichs. Und sie war die Großmutter der Frau des russischen Zaren Nikolaus II., Alix von Hessen-Darmstadt (Alexandra Fjodorowna), also sozusagen die „Schwieger“-Großmutter des Zaren. Zudem hatten König Georg V. und Zar Nikolaus II. mit König Christian IX. von Dänemark einen gemeinsamen Großvater. Zar Nikolaus II. und Kaiser Wilhelm II. waren also beide Cousins König Georg V. Nicht einmal im engen Familienkreis konnte ein Frieden zwischen solch mächtigen Imperialisten gewahrt werden.
Die Logik des „Prinzips Imperium“ ist nämlich, wenn schon nicht die ganze Weltenherrschaft unmittelbar errungen werden kann, dann doch der Hegemon zu sein, der Erste unter Gleichen, der den Ton angibt. Denn auch wer unter einer Vorherrschaft steht, ist letztlich nicht souverän. Das ist die Logik der Herrschaft: Entweder man ist Herrscher oder Beherrschter.
Das heißt, es gibt ein permanentes Hauen und Stechen darum, wer letztlich die zentralisierte Macht ausübt. Die Clique der Machthaber ist nicht nur elitär, sondern auch wechselhaft. Das Problem des Prinzips „Macht als Mittel der gesellschaftlichen Strukturierung“ ist, dass es stets einen noch Mächtigeren geben könnte, der – wer weiß – vielleicht schon am eigenen Stuhl sägt. Ludwig von Mises soll einmal sinngemäß gesagt haben: Der größte Feind eines Sozialisten ist ein anderer Sozialist an den Hebeln der Macht, der nicht sein Freund ist.
Von den Vereinten Nationen zur Souveränität des Individuums
Das Dilemma der Herrschaft ist also nicht nur, dass ein gigantischer Apparat von Nöten ist, um den Menschen das passende Selbst- und Weltbild hierzu zu geben, sondern auch, dass, selbst wenn es klappt, die Masse der Menschen im Sinne einer zentralisierten Herrschaft erfolgreich zu beeinflussen, andere Machthaber widerstreitende Interessen haben. Zwischen den Herrschern gibt es keine Harmonie. Das verwundert wenig, denn das Prinzip der Harmonie gehört zur freiwilligen Kooperation, zum friedlichen Handeln und damit zum Prinzip des Rechts und nicht zum Prinzip der Macht. Geht es nur um Macht, dann gilt: Der Stärkere hat Recht. Was falsch ist, denn der Stärkere hat nicht Recht, sondern er besiegt und unterwirft andere. Das ist etwas grundlegend anderes als Recht.
Dieses Dilemma zentralisierter Herrschaft ist nicht wirkungslos. Bitte bedenken Sie, dass es bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts in den beiden großen Imperien USA und Russland noch Sklaverei beziehungsweise Leibeigenschaft gab. Die Masse der Menschen wurde freier und wohlhabender, auch wenn es immer wieder zu Rückschlägen kam und kommt.
Es gab bestimmt mehrere Motive zur Gründung der Vereinten Nationen, aber eines davon war, dem Hauen und Stechen der Machthaber Einhalt zu gebieten. Der amerikanische Jurist Anthony D’Amato beschreibt die Regel des Völkerrechts, dass Eroberungskriege wechselseitig ausgeschlossen wurden, als die dramatischste Veränderung in jüngerer Vergangenheit. Zumindest die Machthaber billigen sich wechselseitig also ihr Bestehen zu, könnte man meinen. Da Macht und Recht aber zwei Paar Stiefel sind, kommt es immer wieder zu Handlungen, die diese völkerrechtlichen Verpflichtungen konterkarieren. Und zwar nicht nur zu offensichtlich völkerrechtswidrigen Kriegen, sondern es wird aufgerüstet, es werden Bündnisse geschmiedet und es wird psychologische Kriegsführung betrieben. Man vertraut nicht darauf, dass sich der andere an die Regeln hält. Denn Machthaber sind angeleitet von der Idee, das am Ende nur Macht zählt, egal was rechtlich vereinbart wurde. Papier ist eben geduldig.
Zudem bedeutet die Souveränität der Staaten oder Nationen, wie sie derzeit in der UN-Charta niedergelegt ist, keine Souveränität der Bürger. Das ist nicht ungeschickt, denn Nationen oder Staaten können selbst nicht handeln, sondern nur Menschen können das. Die wirklichen Souveräne sind also die Menschen, die die Nationen und Völker jeweils anführen. Sie sind es, denen Souveränität zukommen soll, nicht aber den Beherrschten in den Staaten. Die Herrschaft über die Beherrschten soll gerade gesichert werden, nicht aufgebrochen. Die Mikro-Eroberungskriege gegen die Beherrschten durch Zwangsabgaben, Militärzwang, erzwungene Monopole und dergleichen sind gerade nicht von dem „Verbot“ der Eroberungskriege erfasst.
Anthony D’Amato spricht deshalb eine weitere Idee für das internationale Recht an, und zwar den Einzelnen den Status der Rechtspersönlichkeit im internationalen Recht zu verleihen, die ihre „Menschenrechte“, also letztlich ihre Freiheit zur friedlichen und freundlichen Kooperation und ihren Besitz an ihrem Körper und ihren Sachen, selbst durchsetzen und verteidigen wollen. Das würde bedeuten, den einzelnen Menschen die Souveränität zuzugestehen, die sich die Machthaber bis jetzt nur einander zugestehen.
Das Völkerrecht, wie wir es heute kennen, basiert nicht auf einem universellen friedlichen Prinzip, das für alle gleichermaßen gilt, sondern die jeweils Beherrschten in den Staaten sind von dem Prinzip der Souveränität ausgenommen. Das Völkerrecht bleibt damit ein „Recht der Starken“ und ist somit im praxeologischen Sinne Unrecht aus der Perspektive der Beherrschten, weil ihre Zustimmung fehlt.
Ein im vorbeschriebenen Sinne konsistentes Völkerrecht müsste die Souveränität des Individuums respektieren. Die Ausübung von Zwang wäre dann nur noch gerechtfertigt in den Fällen der Verteidigung oder Vergeltung beziehungsweise Wiedergutmachung, wie dies die Charta der Vereinten Nationen in Artikel 51 für ihre Mitglieder bestimmt.
Multipolare Weltordnung
Eine wirkliche Weltregierung oder eine monopolare Weltordnung hat es im Prinzip nie vollständig gegeben, und wie wir oben gesehen haben, aus gutem Grund, denn das Prinzip Herrschaft ist mit bestimmten Dilemmata verbunden.
Zwar gibt es kein allumspannendes Imperium, aber es gibt Staaten mit geopolitischen Hegemonialinteressen. Da das Prinzip „Weltregierung“ mit den beschriebenen Schwierigkeiten verbunden ist, trägt jeder Trend zu Zentralisierung sein Ende und seine Umkehr bereits in sich. Imperien und Hegemonial-Mächte sind instabile Gebilde, auch wenn sie viel Schaden anrichten können.
Bei einer eventuell aufkommenden multipolaren geopolitischen Ordnung eröffnen sich Chancen für die Souveränität der Individuen. Strebt man selbst keine Hegemonie an – und meint das auch ernst –, so wäre die Basis die wechselseitige Zusicherung der Selbstbestimmung und der Freiheit zur Selbstverteidigung in einem weiteren Sinne. Kommt es hier zu einer wirklichen Änderung im Denken und Handeln, gibt es keine grundsätzlichen Grenzen, wie multipolar eine solche Ordnung sein kann. Ein Europa der 1.000 Liechtensteins? Wieso nicht der 10.000? Oder wieso nicht der souveränen Bürger? Um ein universelles Prinzip zu sein, müsste das Prinzip des Nicht-Angreifens beziehungsweise der Respekt vor der Souveränität des anderen für alle Menschen gleichermaßen gelten, nicht nur zwischen den Machthabern.
Wollte man weiterhin alleine auf Macht setzen statt auf Recht, bräuchte man sich letztlich mit einer multipolaren Ordnung keine ernsthafte Mühe geben, weil es am Ende ja eh nur darauf ankommt, wer der Stärkere ist. Der Kampf um den „Eisernen Thron“ oder den „Ring der Macht“, also den Stuhl des Pantokrators, ginge unvermittelt weiter. Solange es Herrschaft gibt und die Masse der Menschen nicht souverän ist, gibt es auch Streit darum, wer Herrscher ist. Nur wenn man dem Prinzip der Herrschaft den Rücken kehrt und den Prinzipien des Friedens und der Souveränität aller Geltung verschafft, kann es dauerhaften Frieden geben. Denn wenn es niemanden mehr zu beherrschen gibt, gibt es auch nichts, worum sich Herrscher streiten könnten.
Quellen:
Der Krieg der königlichen Cousins (Hamburger Abendblatt)
Der Kompass zum lebendigen Leben (Andreas Tiedtke)
Kommentare
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