Künstliche Intelligenz: Warum ChatGPT und Kollegen nicht die Weltherrschaft übernehmen
Eine Erdung
von Oliver Gorus
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„Schockierend“. „Furchteinflößend“. „Beängstigend“. So lauten die häufigsten Kommentare, wenn Menschen den Stand der Dinge bei der Entwicklung der künstlichen Intelligenz (KI) erleben. In den Social Media kursieren zurzeit kurze, schnell produzierte Video-Clips von KI-Charakteren, die von KI erzeugte Texte mit KI-Stimmen vortragen – inklusive KI-generierter Mimik und synchronen Lippenbewegungen. Das Ganze wirkt sehr realistisch, fast wie ein echter Mensch, nur irgendwie noch immer merkwürdig.
Außerdem beschäftigt sich die Internetgemeinde schon seit Wochen immer und immer wieder mit den Texten, die die KI „ChatGPT” in Konversationen ausgibt, und mit den Bildern, die KI wie „Midjourney” auf Auftrag produziert. Auch Sie können ChatGPT & Co damit beauftragen, einen Text zu schreiben, und Sie können Midjourney & Co damit beauftragen, ein Bild auszugeben.
Also etwa: „Hey, ChatGPT, schreibe doch bitte einen Text für die libertäre Zeitschrift ‚eigentümlich frei‘ über den Stand der Dinge bei der Entwicklung der künstlichen Intelligenz.“ Oder: „Hey, Midjourney, produziere bitte ein Bild, in dem Ronald Reagan mit bloßen Händen die Berliner Mauer einreißt, und zwar fotorealistisch.“
Die Leute versuchen damit umzugehen, was daran zu erkennen ist, dass diskutiert wird, wie man ChatGPT dazu bringt, woken Unsinn zu schwafeln, oder wie man an Fehlern erkennt, dass ein Foto kein „echtes” Foto, sondern ein von einer KI „erdachtes“ oder „erträumtes“ Bild ist.
All diese „Dienste“ von KI-Entitäten werden im Internet sozusagen als „Intelligence as a Service” (IaaS) bereitgestellt. Das ist das neue an der gegenwärtigen Entwicklung. KI ist nichts mehr für Geheimdienste und Großunternehmen oder die chinesische Regierung, sondern das Internet demokratisiert auch das. Die Demos zeigen jedermann, was die KI heute schon mühelos kann. Jeder kann es ausprobieren. Und die Leute sind davon aufgewühlt.
Was könnte passieren?
Ich gebe zu, dass ich selbst zwar diese Angstreflexe nicht habe, aber verstehen kann, was die Leute schockiert, was ihnen Angst einflößt und was sie beängstigt: Es ist ein Gefühl von Ohnmacht.
Was ist, wenn Sie und ich die Werke von KI nicht mehr von wirklichen Menschen unterscheiden können? Wenn wir nicht mehr wissen können, ob eine Person, die wir auf dem Bildschirm als Nachrichtensprecher oder als Experte erleben, eine künstliche Person oder eine aus Fleisch und Blut ist? Was ist, wenn in Spielfilmen Charaktere mitspielen, die künstlich erzeugt wurden und gar nicht von „echten“ Schauspielern gemimt werden? Oder wenn plötzlich Elvis, Marlon Brando, Greta Garbo oder Grace Kelly wiederauferstehen und in neuen Filmproduktionen zu sehen und zu hören sind? Können wir überhaupt noch unseren Augen und Ohren trauen? Was ist Fiktion und was ist Realität? Was ist Traum und was ist Wachsein?
Was ist, wenn die KI dazu verwendet wird, um uns zu täuschen? Ja, schlimmer noch: Was ist, wenn die KI selbst beginnt, uns zu täuschen? Was ist, wenn KI uns manipuliert, wenn sie von unserem Diener zu unserem Herrscher wird? Was ist, wenn wir nicht mehr die Krone der Schöpfung sind? Was ist, wenn uns Menschen in der Disziplin der Gottgleichheit ein neuer Star den Rang abläuft und uns nur noch die Silbermedaille bleibt?
Verstärkt wird das Gefühl der Machtübernahme dann noch von den eindrucksvollen Demonstrationen von Boston Dynamics, die Androide und andere Roboter herstellen, die verblüffende Fähigkeiten aufweisen und sich wie biologische Wesen bewegen. Stellen Sie sich eine KI im „Körper“ eines solchen Androiden vor. Er könnte viel stärker und intelligenter als jeder Mensch auf Erden sein. Ein Übermensch!
Und dann? Wird uns die KI dann beherrschen und versklaven?
Schauergeschichten
Ich glaube, dass diese Ängste natürlicher Teil eines Gewöhnungsprozesses sind. Und zwar exakt der gleichen Gewöhnungsprozesse, die wir Menschen schon zig Mal in unserer Geschichte erlebt haben, nämlich immer dann, wenn technologische Sprünge uns aus unseren Gewohnheiten herausgerissen, die Konventionen, was möglich ist und was nicht, gesprengt und uns schlichtweg erstmal überfordert haben.
Schockiert und voller Angst waren sicher bereits die ersten Menschen, die ihrem Kollegen gegenüberstanden, der machtvoll und mutig einen brennenden Ast hochhielt und somit für alle sichtbar das Feuer „beherrschte“. Genauso erging es sicher den Menschen, die dem ersten gezähmten Wolf an der Seite seines Herrchens begegneten.
Wenn wir in die neuere Zeit springen, haben die Menschen solche magischen, Angst einflößenden Momente beispielsweise bei der durch die Dampfmaschine ausgelösten technologischen Revolution erlebt: Eben noch war der Schauermann ein ganz normaler ehrbarer Beruf, dessen Aufgabe es war, Frachtschiffe im Hafen zu be- und entladen. Niemand konnte sich vorstellen, dass die Fähigkeiten dieser starken Männer durch irgendetwas ersetzt werden könnten. Aber die dampfbetriebenen Lastkräne machten diesen Beruf in kürzester Zeit scheinbar obsolet: Ein Dampfkran ist viel, viel stärker als ein Mensch und kann die Ladung eines Schiffes viel schneller löschen. Werden also im Hafen Menschen überhaupt noch gebraucht? Und weiter: Werden die Maschinen die körperliche Arbeit generell überflüssig machen?
Die Gedanken damals waren ganz ähnlich wie heute: Bedeutet die Tatsache, dass menschliche Eigenschaften durch Technologie ersetzt werden, dass der ganze Mensch ersetzt wird?
In Wahrheit war es dann so, dass durch den Siegeszug der Dampfschiffe und durch die gesamte, durch die Dampfmaschine getriebene Entwicklung der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert der Warenaustausch auf der Welt stark zunahm. Es wurden im Endeffekt nicht weniger, sondern viel mehr Schauerleute gebraucht als zuvor – Kräne hin oder her. Noch in den 1950er Jahren beschäftigte ein einzelnes Unternehmen im Mannheimer Binnenhafen über 2.000 gut bezahlte Schauerleute, genannt „Sackträger”.
Es kommt also meistens ganz anders, als man denkt. Die Entwicklung der Technologien hat die Menschheit insgesamt nicht arbeitslos gemacht – im Gegenteil, mit dem Einsatz von Technologie nahm in der Geschichte die Vielfalt der Berufe sogar zu.
Aber die diffuse Angst, dass die jeweils neue Technologie den Menschen in seinem Menschsein bedroht, ihm die Arbeit wegnimmt, ihn betrügt und seine Welt insgesamt zu zerstören droht, ist dennoch real.
Kulturelles Lernen
Und diese Angst lässt sich instrumentalisieren. Ob reale oder eingebildete Bedrohungen oder Statusverluste: Machthungrige Demagogen können die Angst der Menschen vor technologischer Veränderung ausnutzen. Die Maschinenstürmer des 19. Jahrhunderts zeigten, wie gewaltbereit Technologieangst Menschen macht. Die Maschinenstürmer kämpften mit offener Zerstörungswut gegen die „Freiheit der Kapitalisten, die Gebräuche des Gewerbes zu zerstören“, wie der marxistische Historiker E. P. Thompson es ausdrückte. Die Drahtzieher dabei waren aber eher gut ausgebildete und gut verdienende Handwerker, die die Technikfeindlichkeit als Druckmittel benutzten, um sich Vorteile zu verschaffen.
Das demonstriert auch die grundsätzliche Rückwärtsgewandtheit und Technologiefeindlichkeit des marxistischen Gedankenguts, wie wir es heute wieder in den tonangebenden grünsozialistischen Milieus erleben, die systematisch Ängste schüren, um sich dadurch Machtvorteile zu verschaffen
Aber diese geschürten Ängste erweisen sich dann regelmäßig als Luftnummer. Als die Dampflok „Adler“ am 7. Dezember 1835 zum ersten Mal in nur neun Minuten die sechs Kilometer von Nürnberg nach Fürth fuhr, also mit sage und schreibe 40 Sachen, waren 200 Ehrengäste dabei – niemandem platzte wegen der extremen Geschwindigkeit der Kopf, keiner holte sich wegen der irrwitzigen Fahrtwinde eine Lungenentzündung, und niemand wurde von der vorbeirauschenden Landschaft wahnsinnig.
Und auch heute werden ChatGPT und Konsorten nicht die Weltherrschaft übernehmen. Die Menschheit wird nicht versklavt werden. Kein Maschinengott wird den Himmel erobern. Wir haben bereits längst gelernt, mit Kunstfiguren in Kunst und Kultur zu leben und sie in unsere tägliche Realität einzubeziehen – die Traumfabrik Hollywood und die Weltliteratur bezeugen das. Wir haben alle Sinne, die Muskelkraft, die Stimme, das logische Denken und das Rechnen und viele weitere körperliche Eigenschaften durch Technologie ersetzt und verstärkt, wir können fliegen, tauchen, schnell von A nach B an jeden Ort auf der Erde gelangen und in Echtzeit mit der ganzen Welt kommunizieren – alles durch Technologie. Und wir sind dennoch Menschen geblieben.
Nein, wir werden auch diesmal wieder kulturell dazulernen, wir werden insbesondere lernen, mit künstlichen Charakteren und Androiden zusammenzuleben, wir werden die damit verbundenen juristischen Probleme lösen, der eine oder andere wird sich in eine KI verlieben, wir werden viele Jobs an die KI verlieren und noch mehr Jobs dadurch neu hinzugewinnen, der Wohlstand wird überall dort steigen, wo der Staat seine klebrigen Finger heraushält und findige Unternehmer werden mithilfe von künstlicher Intelligenz viele, viele Probleme lösen.
Und ja, Machthungrige und Betrüger werden die KI zu ihrem Vorteil ausnutzen und andere Menschen täuschen und übervorteilen. So ist er, der Homon sapiens. Nichts hat sich geändert.
Kommentare
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