31. März 2023

Verfassungsrecht leicht gemacht Wie wird Recht zu Recht?

Ein paar Antworten auf allerlei Fragen

von Carlos A. Gebauer

Wenn man – wie ich das vor knapp zwei Jahren getan habe – einen Modifikationsvorschlag für die eigene Staatsverfassung publiziert, dann wird man immer wieder darauf angesprochen. So weit, so publizistisch gut. Über die Zeit stellt man dann fest, dass nicht alle thematisierten Vorschläge gleichermaßen interessant zu sein scheinen. Das Rundfunkrecht bewegt viele Menschen, ebenso das Geldschöpfungsrecht, die unmittelbare Demokratie und einzelne gemeindliche Sezessionsrechte, die Direktwahl des Bundespräsidenten und einiger Verfassungsrichter. Andere Fragen, wie etwa die Konturierung der Religionsfreiheit, werden selten gestellt. Eine besondere Vielzahl von Reaktionen bezieht sich jedenfalls auf die Abgeordnetenhaftung. Immer mehr Menschen scheinen sich mit dem Gedanken auseinanderzusetzen, ob es gut ist, Volksvertreter im Parlament von jeder rechtlichen Verantwortung für ihr Tun freizustellen und sich nur auf ihr Gewissen als staatssteuerndes Regulativ zu verlassen. Was aber in den Kommentaren der sozialen Medien in aller Regel jedenfalls am emotionalsten vorgetragen wird, ist der Gedanke, das Grundgesetz sei gar keine Verfassung. Immer wieder drehen sich die Gedanken der Leser um just diesen Gesichtspunkt. Das gibt Anlass, der Sache noch einmal näher auf den Grund zu gehen.

Richtig ist, dass die Bevölkerung – oder aber auch das Volk – der Bundesrepublik Deutschland dem Grundgesetz nie selbst in einer Volksabstimmung unmittelbar zugestimmt hätte. Sowohl in der Ursprungsversion des Jahres 1949 als auch im Zuge des DDR-Zusammenbruchs 1989/1990 hat kein Referendum stattgefunden. Wie es hinter vorgehaltener Hand heißt, fürchtete man tatsächlich, die Betroffenen könnten dem Grundgesetz nicht zustimmen und damit eine Verfassungskrise auslösen. Also beließen es die politischen Akteure dabei, selbst als Vertreter zu handeln, einmal im Parlamentarischen Rat und einmal mit den Gesetzgebungskörperschaften der Bundesrepublik Deutschland.

Dass das Grundgesetz alleine damit aber ein Legitimitätsdefizit aufwiese, überzeugt für sich gesehen nicht. Man kann nämlich eine Rechtslage nicht nur dadurch in Geltung setzen, dass man sie auf ein Blatt Papier schreibt und seine Unterschrift daruntersetzt. Auch durch schlüssiges Verhalten – also durch das faktische Leben von Regeln – kann man sich deren Geltung zu eigen machen. Juristen sprechen in solchen Fällen von einem „konkludenten“ Verhalten. Eine bestimmte Verhaltensweise lässt dann keinen anderen Schluss (keine andere „Conclusio“) zu, als dass der Betroffene mit seinen Handlungen einer gewissen rechtlichen Lage zustimmt. Wer in eine Straßenbahn steigt und mit ihr losfährt, der erklärt schweigend, einen Beförderungsvertrag abgeschlossen haben zu wollen. Wer eine Kaufhaustür aufschließt, der erklärt konkludent, dass das Publikum aus Kaufinteressenten eintreten darf. Wer Sperrmüll auf die Straße stellt, der gibt sein Eigentum daran auf, ohne dass er den Mund zu einer entsprechenden Erklärung aufmacht. Die Öffentlichkeit sieht, was geschieht und interpretiert es im allgemein üblichen Sinne.

Eine solche Rechtsbegründung durch praktische Übung liegt meines Erachtens sicher auch darin, dass die Deutschen (jedenfalls früher und jedenfalls überwiegend) seit Jahrzehnten nach den Regeln des Grundgesetzes leben. Wer sich auf Normen des Grundgesetzes beruft, wer Verfassungsbeschwerden einlegt oder sonst innerhalb des Regelwerkes dieser Verfassung handelt, der kann nicht ohne Selbstwiderspruch geltend machen, all dies habe für ihn keine Bedeutung. Es hilft schließlich auch einem Menschen in der Straßenbahn nicht, eingestiegen zu sein und den Zug anfahren zu lassen, gleichwohl aber laut zu erklären, er wolle keinen Beförderungsvertrag abschließen. Auch dort gilt, dass widersprüchliches Verhalten rechtlich unbeachtlich ist. Er muss also bezahlen.

Besonders abwegig erscheint, wegen des Fehlens einer Volksabstimmung über das Grundgesetz die Auffassung zu vertreten, deshalb gelte noch immer die Weimarer Reichsverfassung. Denn auch diese ist nie vom Volk in einer allgemeinen Abstimmung ausdrücklich konsentiert worden. Gleiches gilt für die Reichgründung des Jahres 1871 oder alle sonstigen zuvor stattgefundenen Konstituierungsaktionen auf deutschem Boden. Basisdemokratische Abstimmungen gab es dort nirgendwo. Sollte ich etwas übersehen haben, bin ich für Belehrungen sehr dankbar!

Aber auch der Umstand, dass das Grundgesetz nicht „Verfassung“ genannt wird, ist kein tragfähiges Argument gegen die Annahme, dass es sich um eine Verfassung handelt. Käme es auf den Namen und nicht auf den Inhalt an, könnte man das Strafrecht alleine dadurch in Frage stellen oder gar ganz abschaffen, dass der Bundestag beschlösse, das Strafgesetzbuch in „Verbotskodex“ umzubenennen. Nicht einmal die konsequent unrichtige Bezeichnung eines Gegenstandes ist dazu geeignet, ihn in etwas anderes zu verwandeln: „Falsa demonstratio non nocet“, sagt der Jurist: Fehlbenennungen schaden nicht.

Also haben wir in Deutschland eine Verfassung, die auf den Namen Grundgesetz hört. Viele der Bestimmungen dieser Verfassung sind klug, einige sind überholungsbedürftig, einige verbesserungsfähig. Verfassungskrisen wie die, in der wir uns spätestens seit den Rechtsverkürzungen der Corona-Geschichte befinden, geben Anlass, die Lage neu zu diskutieren. Wohlan!


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