02. April 2023

Außenpolitik Chinas Multipolarität ist eine Illusion

Über das chinesische Streben, selbst Hegemon zu werden

von Stephan Unruh

Mit dem Kollaps der Sowjetunion begann, insbesondere im Ostblock, aber auch im Rest der Welt, eine Zeit der Freiheit und des wachsenden Wohlstands. Plötzlich konnte jeder mit jedem Handel treiben anstatt nur innerhalb seines Blocks – entsprechend folgte ein gewaltiger Wohlstandsaufschwung in Osteuropa, Ost- und Südostasien und sogar in Afrika. Zeitgleich aber ging die vermeintliche Stabilität des Kalten Krieges, das Gleichgewicht des Schreckens, verloren. Doch das berühmte „Ende der Geschichte“ ist nicht eingetreten – im Gegenteil: Anstatt ewigen Friedens erleben wir das genaue Gegenteil – mehr Konflikte und neue Herausforderer.

Die einzig verbliebene Supermacht USA hat auch das ihrige kräftig dazu beigetragen, dass sich Völker, Nationen und Gesellschaften von der „Pax americana“ abwenden (obwohl immer noch das Gros der Menschheit davon träumen dürfte, es in die USA zu schaffen). Immer unverschämter und rücksichtsloser wie zugleich auch immer aggressiver und immer unversöhnlicher hat Washington seine eigenen Interessen durchgesetzt, und inzwischen schreckt man nicht einmal mehr vor offenem Terrorismus zurück. Nicht zuletzt deshalb haben die USA an vielen Orten der Welt den Wunsch entstehen lassen, das US-amerikanische Joch abzuschütteln. Ganz Südamerika verspürt schon seit Jahrzehnten keine Lust mehr, nur der Hinterhof zu sein. Afrika hat dank chinesischer Avancen zu neuem Selbstbewusstsein gefunden, die arabischen Scheichs suchen nach einem Ausweg aus dem Kreislaufhandel Öl für US-Dollar und US-Dollar für US-Waffensysteme – Russland leidet ohnehin seit mehr als 30 Jahren an postimperialer Depression, die es glaubt, nur durch neue imperiale Impulse überwinden zu können.

An all diesen Orten kommt die chinesische Idee, dass es doch eine Vielzahl von Machtblöcken und -zentren geben könnte und auch sollte, gut an. Tatsächlich ist eine solche Vorstellung, historisch betrachtet, eine seltene Ausnahme und in erster Linie ein Übergang, zudem widerspricht sie auch der chinesischen Ideengeschichte.

In der Geschichte finden sich selten Situationen, in denen eine Vielzahl von gleichberechtigten Mächten miteinander konkurrierten – vielmehr waren es meist zwei Blöcke, die sich gegenüberstanden und in denen es jeweils einen Hegemon, gegebenenfalls noch einige Randmächte gab. Die gesamte Existenz des Römischen Reiches hindurch stand Rom immer eine andere große Macht gegenüber: erst die Karthager, dann die Parther, schließlich die Sassaniden. Ostrom schließlich rang zunächst mit den Arabern, dann mit den Osmanen. Im antiken Griechenland führte Sparta den einen und Athen den anderen Block an. Das 18. Jahrhundert war vom Ringen der Franzosen und Engländer um die globale Vorherrschaft bestimmt – der Siebenjährige Krieg war quasi der Gipfel, auch wenn Großbritannien hier Preußen als seinen Festlandsdegen nutzte. Selbst das so zersplitterte Heilige Römische Reich Deutscher Nation war zunächst jahrhundertelang vom Gegensatz zwischen Welfen und Staufern geprägt, anschließend von dem Hegemonen Habsburg und schließlich von der Dualität zwischen Preußen und Österreich, hinzu kam die lange andauernde Auseinandersetzung zwischen weltlicher und geistlicher Macht und in Bezug darauf, wer den Vorrang gegenüber der anderen haben sollte. Die europäische Pentarchie des 19. Jahrhunderts war eine gewaltige Ausnahme. Immerhin währte das Konstrukt fast ein Jahrhundert lang (1815–1914), was aber nicht zuletzt der Tatsache geschuldet war, dass das britische Imperium sehr geschickt Zünglein an der Waage spielte und stets verhinderte, dass eine Kontinentalmacht zu groß und zu mächtig wurde.

Noch deutlicher wird es, wenn man in andere Bereiche blickt: Damit Strom fließen kann, braucht es einen Plus- und einen Minuspol, die Himmelsmechanik kennt Zenit und Nadir.

In der Biologie gibt es Mann und Frau (sowie ein paar statistisch irrelevante und nicht fortpflanzungsfähige Mutationen) – 795 Geschlechter wird man hingegen vergebens suchen. Und in der ostasiatischen Philosophie gibt es Yin und Yang – Yeng, Yung und Yong wird man nicht finden.

In der chinesischen Staats- und Machtvorstellung gibt es sogar nur und ausschließlich die Unipolarität als anzustrebenden Zustand. Die Übersetzung Zhong Guo als „Reich der Mitte“ ist überaus poetisch und lässt in deutschen Ohren schnell eine falsche Vorstellung von Ausgleich und Harmonie aufkommen. Harmonie ist zwar nicht ganz falsch, aber die chinesische Vorstellung davon ist eben ein Zentrum in der Mitte, wo sich Macht und (gute) Herrschaft konzentrieren.

Genau diese Vorstellung des chinesischen Kaiserreichs, als dessen einzig legitimen Nachfolger sich die Kommunistische Partei Chinas sieht, herrscht auch in Peking – Multipolarität ist lediglich der erste Schritt im Übergang hin zur Erneuerung eines chinesischen Imperiums. Peking hat sicherlich nicht die Absicht, mittel- bis langfristig irgendwelche anderen Mächte als gleichberechtigt zu akzeptieren – schon gar nicht vor seiner Haustür. Die Konzepte „Made in China 2025“ und „Die Zweikreisläufe“ machen das deutlich. Gerade in Letzterem wird klar formuliert, dass für Länder wie Indien, Indonesien oder auch die südamerikanischen Staaten im „chinesischen Jahrhundert“ allenfalls ein Platz als Lieferanten von Rohstoffen und vielleicht noch von günstigen Arbeitskräften angedacht ist.

Es bleibt zu hoffen, dass sich die USA und China rechtzeitig fangen und es schaffen, den immer stärker und schneller heraufziehenden Konflikt irgendwie in Richtung einer neuen stabilen (und einigermaßen friedlichen) Dualität zu lenken – ohne dabei allerdings einen neuen Eisernen Vorhang herabzulassen. Im Augenblick deutet wenig daraufhin.


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