Was ist Sünde?: „Wer von euch ohne Sünde ist …
… der werfe den ersten Stein!“
von Markus Krall
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Wer kennt nicht das Bibelwort, mit dem Jesus die selbstgerechte, die Sünderin verurteilende Masse beschämt nach Hause schickte? „Urteilt nicht, auf dass ihr nicht verurteilt werdet“ ist ein weiterer Hinweis darauf, dass man mit der Sünde der anderen vorsichtig umgehen sollte, denn wir Menschen neigen nun mal dazu, den „Splitter im Auge des anderen zu sehen, den Balken in unserem eigenen Auge aber nicht“. Papst Franziskus machte sich die Attitüde zu eigen, als er mit Blick auf Homosexuelle in der Kirche statierte: „Wer bin ich, sie zu verurteilen.“
Die leicht Genervten werden jetzt die Frage aufwerfen: Warum kommt er uns hier mit so einem abgeranzten, altmodischen, nun wirklich aus der modernen Zeit gefallenen Konzept einer abgehalfterten Kirche daher? Ist er immer noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen?
Dennoch macht es unbedingt Sinn, sich mit der Sünde als Phänomen auseinanderzusetzen, auch und gerade für mich als libertären Streiter. Man kann sich auch mit ihr befassen, ohne zu verurteilen, denn es gibt eine feine Trennungslinie, die Sünder und Sünde voneinander unterscheidet. Als Christ kann man den Sünder lieben und die Sünde hassen, obwohl es die oft unterstellte Bibelstelle zu diesem Statement im wörtlichen Sinne gar nicht gibt.
Der eigentliche Grund, warum sie Gegenstand einer sozialphilosophischen Betrachtung sein sollte, ist aber der Umstand, dass die Sünde als Verletzung des gesellschaftlichen Regelwerks auch Implikationen für die Funktionsfähigkeit einer Gesellschaft hat. Man kann dabei zwei Ebenen unterscheiden, die die Theologie des Mittelalters herausgearbeitet hat: die Sünde als eigentliches regelwidriges Tun und die Metaebene der Todsünde als eine Geisteshaltung, die ihren Träger zum sündigen Tun verführt. Wie der geneigte Leser sehen wird, macht es Sinn, diese beiden Sphären getrennt zu betrachten, um ihre gesellschaftlichen Implikationen und Verflechtungen abzuleiten.
Regeln, so zeigt die Erfahrung, lassen sich nur dann in der Breite etablieren, wenn ihre Nichtbefolgung in irgendeiner Weise sanktioniert wird. Wenn das so ist, warum werden wir dann (siehe oben) aufgefordert, uns mit dem Verurteilen anderer Personen zurückzuhalten? Die Voraussetzung für die Sanktionierung ist ein gerechtes Urteil, das aus qualifiziertem Munde kommen sollte. Nicht jeder ist dazu berufen, dann nicht jedem ist die intellektuelle Größe und Weisheit, die Befähigung zur logischen Stringenz und zur Abwägung gegeben, die dafür notwendig ist, dass der „Gerechtigkeit“ Genüge getan werde. Bereits in dem Essay „Was ist Gerechtigkeit?“ haben wir darüber diskutiert, wie diffizil die Definition dieses Begriffes ist. Wahre Gerechtigkeit setzt Gleichheit vor dem Regelwerk, also Gleichheit vor dem Gesetz voraus. Sie setzt außerdem voraus, dass das Regelwerk logisch, konsistent und damit nach Möglichkeit in sich widerspruchsfrei ist. Je mehr Regeln wir uns geben, desto komplexer und komplizierter wird dieses Regelwerk und desto wahrscheinlicher wird es, dass es innere Widersprüche, Inkonsistenzen und Logikbrüche aufweist, die ein gerechtes Urteil unmöglich machen. Das ist der Grund, warum Winston Churchill den klugen Satz prägte: „Wer 10.000 Regulierungen erlässt, zerstört jede Achtung vor dem Gesetz.“ Auf diesem Weg ist unsere Gesellschaft bereits weit vorangeschritten. Nicht nur wird die Achtung vor dem Gesetz auf diese Weise unterminiert, auch wird sichergestellt, dass eine Einhaltung aller Regeln gar nicht mehr möglich ist, weil niemand mehr den Überblick behalten kann. Das ist gewollt, denn es setzt jeden ins Unrecht und macht ihn für die Staatsgewalt kriminalisierbar und damit auch erpressbar. So wird der Mensch vom Subjekt des Rechts zum Objekt der Willkür.
Das kürzeste Regelwerk mit dem Anspruch, das Verhalten der Menschen in einer Gemeinschaft und Gesellschaft zu organisieren, ist der Dekalog, die Zehn Gebote, die Moses nach der Überlieferung der Israeliten auf dem Berg Horeb von Gott selbst in Empfang nahm. Analysiert man ihre Kernbotschaft, so erweisen sie sich als erstaunlich vielschichtig und geeignet, eine Gemeinschaft von freien Menschen in ihrem Verhalten untereinander so zu koordinieren, wie es eine Sozialphilosophie der freien Marktwirtschaft fordern würde, die auf dem Menschenbild des nach Gottes Ebenbild und so mit freiem Willen ausgestatteten Menschen fußt. Die vier gesellschaftlichen Elemente einer derart organisierten Gesellschaft sind Individualität, Eigentum, Familie und Religion – ihre Gesamtheit findet sich im Dekalog klar und vollständig definiert, wenn auch nicht in der oben verwendeten Reihenfolge. Die fünfte Säule einer freien Zivilisation, Kunst, Kultur und Musik, findet sich dabei – logischerweise – nicht im Gesetz, denn sie ist kein Weg des Gesetzes, sondern der Kommunikation zwischen Schöpfung und Schöpfer.
Die Individualität ist verankert in der Gesamtheit des Rechts, das sich auf unser Handeln als Individuen und nicht als Masse bezieht. Dadurch wird das Recht des Individuums als göttliches Vorrecht anerkannt, nicht als ein von Menschen zugebilligtes. Der andere ist ebenso viel wert und von Gott angenommen wie man selbst, aber auch umgekehrt begründet dies den Anspruch des Selbst gegen alle anderen, auch die Mehrheit, als Individuum anerkannt und geschützt zu sein. Das Neue Testament bestärkt und betont dies, indem es die Forderung „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“ als Zusammenfassung der Gebote mit Menschenbezug bezeichnet.
Wurzel dieses Rechts ist die Gottähnlichkeit, realisiert im freien Willen, der Manifestierung des göttlichen Odems im Menschen.
Das Eigentum ist unmissverständlich definiert und mit dem Satz „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut!“ nicht nur gegen die Wegnahme durch Dritte geschützt, sondern bereits gegen das Begehren. Die umverteilende Klasse, die das private Eigentum missachtet und bekämpft, hört das natürlich nicht gerne.
Die Familie, und zwar die Kernfamilie, gebaut um die Ehe aus Mann und Frau, genießt den Schutz des Dekalogs mit gleich zwei Geboten: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau!“ und „Du sollst Vater und Mutter ehren!“ Es stimmt natürlich, dass sich in dieser Formulierung die Umsetzung der Familie als Keimzelle der Gesellschaft in patriarchalischer Form manifestiert, und dies wird von progressiven ideologisierten Theologen unserer Tage als nicht mehr zeitgemäß hinweggewischt, jedoch darf man angesichts der im Chaos mündenden matriarchalischen und genderarchaischen Gesellschaftsform unserer Zeit die Frage stellen, ob das sozial-evolutionäre Gründe hat, die auf gescheiterte gesellschaftliche Experimente in der Vergangenheit schließen lassen. Entscheidend bleibt in jedem Fall die Definition der Familie aus Vater, Mutter und Kindern als gegen die Sünde zu verteidigendes Recht des Menschen.
Die Religion steht, natürlich, im Dekalog, im Gegensatz zu meiner Aufzählung, die nur Menschenwerk ist, an erster und nicht an letzter Stelle. „Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben!“ Der so eifersüchtige Gott hat aber für diesen Anspruch einen Grund: Wer vielen Göttern huldigt, der kann auch vielen Regelwerken folgen. Die Vielgötterei ist die antike Analogie zum als Wertepluralität getarnten Wertenihilismus unserer Tage. Wie und warum die Wertebeliebigkeit, heute verniedlicht als Werteneutralität, scheitert, bekommen wir aktuell mit spätrömischer Dekadenz live und in Farbe vorgeführt.
Die empirische Analyse der menschlichen Geschichte als eine Auseinandersetzung zwischen den Kräften, die sich auf diese Institutionen berufen, und jenen, die sie bekämpfen, fördern sehr klar zutage, dass eine Zivilisation, die den Menschen als freies Wesen akzeptiert und sich damit dem Regelwerk von Individualismus, Eigentum, Familie und Religion anschließt, die einzig funktionierende Gesellschaftsform ist, weil sie das göttliche Naturrecht reflektiert. Das Negativbild finden wir im Sozialismus, der alle vier Elemente bekämpft und daher nicht ein eigenes Zivilisationsbild entwirft, sondern nur ein Negativbild, eine Verneinung und damit – um im religiösen Bild zu bleiben – eine satanische Umkehr. Vergleichen Sie hierzu mein Essay auf Freiheitsfunken „Was ist Sozialismus?“.
Die Sünde ist definiert als individuelle Verletzung des zivilisatorischen Regelwerkes. Ihre Ausübung unterminiert nicht nur die Umsetzung der menschlichen Gerechtigkeit am Ort ihres Geschehens, sondern sie vermindert bei Tätern und Opfern den Glauben an die Verbindlichkeit und damit auch gesellschaftliche Nützlichkeit der göttlichen Handlungsanweisung. Sie untergräbt so die Institutionen, die das Funktionieren der menschlichen Gesellschaft gewährleisten.
Das ist der tiefere Grund für die Sanktionierung der Sünde durch Strafe und gesellschaftliche Missachtung, die Errichtung gesellschaftlicher Tabus und die Erfindung des Konzeptes der Scham. All diese Aspekte unseres Verhaltens sind uns nicht nur durch Erziehung, sondern durch gesellschaftliche und die ihr vorausgehende biologische Evolution intuitiv „in die Wiege gelegt“. Wir kommen mit Scham und Tabuvorstellungen auf die Welt. Sie sind daher nicht einfach soziale Konstrukte. Sie sind, sofern das Ergebnis der sozialen Evolution, zwar von Menschen gemacht, jedoch nicht das Resultat menschlichen Designs im Sinne der Hayekschen Sozialphilosophie.
Das ist der tiefere Grund, warum wir in einem Zeitalter der Schamlosigkeit leben, in dem der Tabubruch zur Tugend erhoben wird. Beides, Schamlosigkeit und Tabubruch, sind Voraussetzungen, um die natürlichen Widerstände der Menschen gegen den Abriss und die Zerstörung der dem menschlichen Grundempfinden entsprechenden Werte- und Moralordnung zu brechen, die wiederum die vom Dekalog in einfachste Worte gefassten zivilisatorischen Errungenschaften reflektiert. Die Sünde hat in diesem Sinne in jedem einzelnen Fall ihrer Ausübung eine Wirkung auf die Gesellschaft, sie entfaltet – wie die christliche und auch die jüdische Theologie uns sagen – kosmische Wirkung im Sinne eines zivilisatorischen Karmas.
Daher kommt dem Richteramt eine so entscheidende und große Bedeutung zu. Die Befähigung, Recht zu sprechen, und den unbedingten, unbeugsamen, absoluten und kompromisslosen Willen, dem Recht zu dienen und es nicht zu beugen, sind der Mörtel, der das ganze Gebäude zusammenhält. In diesem Sinne ist der Satz wahr, dass zwar der Sünder mit seinem Tun ein Glas Wasser vergiftet, der Richter aber, der das Recht beugt, den Brunnen vergiftet. Nie seit der Herrschaft des Unrechts 1933 bis 1945 war diese Wahrheit so virulent wie in diesen Tagen.
Nachdem wir die Sünde auf diese Weise in ihrer Bedeutung und Wirkweise betrachtet haben, können wir uns der Metaebene zuwenden, nämlich der Motivation zur Sünde, der Ausrede, der Versuchung, der Anregung und Rechtfertigung, die sich der Einzelne zulegt, um zu sündigen, ohne von seinem natürlichen Gewissen aufgerieben und von sich selbst bestraft zu werden. Diese Metaebene ist quasi der Maschinenraum, der die Sünde als Ergebnis in großer Menge produziert. Gemeint sind die von der mittelalterlichen Theologie identifizierten „Todsünden“. Sie sind auch deshalb mit dieser Terminologie korrekt charakterisiert, weil ihre Verbreitung und Kultivierung den Tod der freien und wohlhabenden Zivilisation nach sich ziehen und über die am Ende der Entwicklung stehende Barbarisierung in den Massenmord, ja in den Völkermord mündet. So wie der Dekalog das Leben schützt und fördert, so fördert seine Verneinung den Tod. Deshalb nannte Igor Schafarewitsch seine Analyse der Auseinandersetzung mit dem Sozialismus, bei dem die sieben Todsünden zu den sieben Kardinaltugenden erhoben werden, den „Todestrieb in der Geschichte“.
Mit ihnen setzen wir uns in der nächsten Freiheitsfunken-Kolumne – Was ist Todsünde? – auseinander.
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