14. April 2023 08:00

Zur Strategie des Widerstands – Teil 5 Für eine neue Theorie der Freiheit

Das historische Dilemma zwischen Liberalismus und Anarchismus überwinden

von Stefan Blankertz

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Das große historische Unglück der Freiheit sehe ich darin, dass die beiden Träger der Idee und der Praxis der Freiheit, Liberalismus und Anarchismus, in zwei feindliche Lager aufgespalten sind und darin trotz einiger Versuche der Zusammenführung weitgehend verharren.

Zweifellos war der Liberalismus die große befreiende Kraft in der neueren Geschichte Europas, die Quelle des Fortschritts und Wohlstands auf der ganzen Erde: Selbständigkeit, Eigenverantwortung, freier Handel, Autonomie der frei gewählten Gemeinschaft – all das war revolutionär und wurde zur Grundlage eines neuen Denkens. Doch als der Anarchismus Mitte des 19. Jahrhunderts entstand, hatte sich der Liberalismus mit der Staatsgewalt weitgehend arrangiert. Man wollte Vorteile für die eigene Klientel mittels der Möglichkeiten erreichen, die diese zur Verfügung stellte. Die Einwände gegen den Kolonialismus hielten sich leider in engen Grenzen. Wenn es um nationale Befreiung ging, so bevorzugten Liberale große Einheiten mit zentralisierter Staatsgewalt; Föderalismus und regionale Autonomie galten bestenfalls als romanisch, den meisten Liberalen aber als reaktionär. Proudhon, der Vater des Anarchismus, zeigte es an der Bewegung zur Zwangsvereinigung Italiens per Waffengewalt auf: Da leben mindestens zehn Nationen, sagte er, die mal besser, mal schlechter miteinander auskommen. Warum wollt ihr sie in eine Nation zwingen? Lasst sie sich föderieren, wo sie wollen, und ansonsten lasst sie in Ruhe. Die liberalen (und neu entstehenden sozialistischen) Kräfte fielen über Proudhon her, als habe er ein unanständiges Wort gesagt.

Auch später hielten selbst große und radikale Liberale wie Milton Friedman, F. A. Hayek und Ludwig von Mises daran fest, dass sie als Berater der Herrschenden irgendetwas ausrichten würden können. Dabei wussten sie aufgrund ihrer theoretischen Analysen nur zu genau, dass es bei der Staatsgewalt stets um die Realisierung ökonomischer Interessen auf Kosten anderer geht und nicht darum, den Bürgern beste Chancen für Freiheit und Wohlstand zu eröffnen. Weil Miltons Sohn David Friedman Anarchist war, fand der Vater ein paar nette Worte; Ludwig von Mises übte sich zeitlebens in Ablehnung.

Diese Ablehnung ist sogar völlig verständlich. Da auf der Seite der Liberalen sich niemand als Koalitionspartner anbot, schielten die Anarchisten zunehmend in die Richtung der zwar revolutionären, aber extrem etatistischen Sozialisten und Kommunisten. Proudhon und auch noch Michail Bakunin hatten das strikt abgelehnt; doch innerhalb der revolutionären Situationen Anfang des 20. Jahrhunderts setzten viele Anarchisten die Hoffnung darein, dass die Bolschewisten irgendwie etwas zum Guten bewegen würden. Schnell wurden sie eines Besseren belehrt, denn die Bolschewisten hassten nichts mehr als ihre anarchistischen Konkurrenten.

Leider konnten die Anarchisten diese Erfahrung nach dem Zweiten Weltkrieg nicht weitergeben, da sie durch Verfolgung und Krieg dezimiert, zu sehr geschwächt und durch die herben Niederlagen demoralisiert waren. Ich selber habe miterlebt, wie Augustin Souchy, der deutsche Anarchosyndikalist, vor linksanarchistischem Publikum der Spaltung angeklagt wurde, wenn er über die Verfolgung von Anarchisten auf Kuba durch Che Guevara und Fidel Castro berichtete. In der Zeit der Studentenrevolte der 1960er Jahre gab es eine positive Bezugnahme auf die anarchistische Tradition, aber gekappt um die Inhalte der klassischen Anarchisten. Auf einmal sollte Anarchismus nur noch für eine Militanz stehen, bei gleichzeitigem Festhalten am staatskommunistischen Inhalt des Marxismus: Die linken Studenten nutzen den vermeintlich militanteren Ansatz der Anarchisten, um die Phase des Sozialismus zu kappen, den der Marxismus-Leninismus zwischen bürgerlicher Gesellschaft und der Erreichung des kommunistischen Utopias gesetzt hatte. Aber auch jene Militanz war unterstellt und hält einer Lektüre selbst von Bakunin nicht stand: Dieser riet zur Vorsicht, war tendenziell gegen den Einsatz von Waffengewalt und bestand vor allem darauf, dass die Revolution im anarchistischen Sinne niemandem eine Vorschrift würde machen dürfen.

Wir haben in Liberalismus und Anarchismus also jeweils hervorragende Theorien der Freiheit, die durch ihre jeweiligen praktischen Optionen konterkariert wurden und die sich in der politischen Praxis auf einander entgegengesetzten Seiten wiederfanden. Ist eine Überwindung dieser Spaltung möglich?

Die notwendige Bedingung dafür wäre meines Erachtens, dass nicht die Theorie der Praxis folgt, sondern sich von falschen politischen Optionen fernhält. Der Vordenker der Neuen Linken, Theodor W. Adorno (übrigens alles andere als ein Kollektivist, aber das nur am Rande), sagte sinngemäß: Falsche Praxis ist keine. Wenn Liberale sich an der Staatsgewalt beteiligen, weil das angeblich das praktisch einzig Realistische sei, ist das keine Praxis der Freiheit, sondern Verrat an der Freiheit. Wenn Anarchisten sich linker Militanz anschließen, weil angeblich nur damit der staatlichen Repression entgegenzutreten sei, ist das keine Praxis der Freiheit, sondern Dienst an ihrer abermaligen Unterdrückung.

Die libertäre Alternative würde heißen: Die anarchistische Kritik an der Staatsgewalt und die liberale Theorie des freien Handels als Grundlage für Frieden, Freiheit und Wohlstand ergeben erst zusammengenommen eine vollständige Theorie der Freiheit. Eine solche libertäre Theorie der Freiheit als Grundstein für eine Praxis hat Aussicht auf Erfolg – sicherlich nicht kurzfristig, aber zumindest mittelfristig. Die Staatsgewalt setzt zurzeit alles daran, die schlimmsten Albträume der echten Liberalen und Anarchisten in die Praxis umzusetzen, die Gesellschaft völlig aufzulösen und die Menschen in jeder Lebensäußerung zu Verwaltungsobjekten zu machen. Der Mensch aber wird, wie Jean-Jacques Rousseau sagte, frei geboren. Und wenn er sich in Ketten wiederfindet, rebelliert er.


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