Geistesgeschichtlicher Exkurs: Regression und Repression
Abschied von Kant und Luther
von Carlos A. Gebauer (Pausiert)
von Carlos A. Gebauer (Pausiert) drucken
Jene Weltregion, die ehemals als „Der Westen“ bezeichnet wurde und die sich – in Abgrenzung zu anderen Regionen der Erde – als „frei“ definierte, ist gegenwärtig geprägt von Repression und Regression.
Der evolutorische Rückschritt besteht auf abstrakter Ebene darin, dass dieser „Westen“ geistesgeschichtlich hinter jenen Status zurückfällt, der vielen als gesichert erreicht erschien und der mit den Namen Martin Luther und Immanuel Kant verbunden ist.
Der Einzelne soll sich demnach künftig seines eigenen Verstandes nicht mehr bedienen, sondern sich den ihm autoritär vorgegebenen, Zukünfte modellierenden Experten anvertrauen. In dem autoritären Impetus des Vertrauensbefehls zum solidarisch einheitlichen Folgen in der Masse liegt das repressive Element der kulturellen Regression. Durch den Ordnungsbefehl wird das Individuum wieder eingeordnet in jenes vorreformatorische Gerüst, in dem ihm – bis zu der seinerzeitigen Disruption des historischen Kontinuums durch Martin Luther – verunmöglicht worden war, einen eigenen Eindruck unmittelbar aus den Heiligen Schriften zu gewinnen und eigene, unabhängige Weltbilder zu entwickeln.
Der Einzelne wird somit wieder einer herausgehobenen Priesterkaste kraft des von ihr selbst definierten besseren Wissens unterworfen. Die Disruption des Reformationsjahres 1517 wird 500 Jahre später mit digitaler Staatsmacht rückgängig gemacht. Versinnbildlicht wird der autoritäre Befehl, sich unkritisch zu verhalten und sich im Zweifelsfall gegen die eigene Intuition dem politischen Befehl zu unterwerfen, durch ein Video der Kommissionspräsidentin Ursulas von der Leyen, in dem sie – machtvoll verbreitet durch alle „soziale Medien“ – die Bürger Europas während der aufbrandenden Corona-Geschichte aufrief, nur den öffentlichen Informationen zu folgen. Intensiviert wurde dieser Machtanspruch des Politischen nur kurze Zeit später, als Jacinda Ardern als neuseeländische Ministerpräsidentin der Uno-Vollversammlung sinngemäß zurief, man müsse die inoffiziellen Erzählungen bestenfalls ganz aus den Informationsnetzen tilgen.
Das Gegenstück des positiven Handlungsbefehls zum definierten Wohlverhalten ist also das negative Abschatten von anderen Ansichten und kritischen Theorien. Was lässt sich denen noch entgegenhalten, die das Shadow-Banning, die Cancel Culture und das Mundtotmachen bereits als ein antimodern-digitales Bücherverbrennen bezeichnen?
Der Kampf gegen „Fake News“ trägt zu seiner eigenen Legitimation wie eine Monstranz das heilige Ideal vor sich her, Fehler auszureuten. Doch indem vermeintlich bestmeinend die Fehlerpotenziale des allgemeinen Suchens (und Irrens) eliminiert werden, führt der dadurch erzwungene Mangel an suchender Kreativität in der Gemeinschaft unausweichlich auch zu einer saldierten Verdummung aller Individuen.
Die Kräfte der Befreiung des Geistes, die der Reformation Martin Luthers zu Beginn des 16. Jahrhunderts und der Aufklärung Immanuel Kants zum Ende des 18. Jahrhunderts entsprangen, waren nicht zum Wenigsten auch die wesentlichsten Mitursachen der anschließenden Industriellen Revolution. Die Freisetzung des menschlichen Geistes, seines Suchens und seines Forschens ging aller technischen Innovation voran.
In diesem Kontext wird das Antimoderne zur Ouvertüre für eine neue Verrohrung der menschlichen Lebensverhältnisse. Der menschliche Geist, der mit seiner Kreativität und kulturschaffenden Kraft die Widrigkeiten der Natur bezwang, menschliches Leid diminuierte und ungeahnte Entwicklungspotenziale eröffnete, wird so im Ergebnis aus dem Licht der Aufklärung wieder in das angstmächtige Dunkel der Vormoderne zurückgeführt.
An die Stelle des quirlig suchenden, irrenden und berichtigenden Individuums in der Wahrheitsfindung tritt der stumpf gläubige Befehlsempfänger. Der Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, erlahmt im Bewusstsein des notwendigen Befehlsgehorsams. Der Wert des Einzelnen reduziert sich wieder vormodern auf seine Bedeutung als Mitglied eines vordefinierten Standes. Die Freiheitsverheißungen der virtuellen Techniken mutieren zuletzt zu einer allumfassenden digitalen Unterdrückung. Die hochtechnologische Unterwerfung zwingt den neuen Untertanen am Ende in seine 15-Minuten-Städte. Mobilität, Energie und Heizung werden zu Luxusgütern für Gehorsame. Das pflichtgeimpfte und ernährungsoptimiert geführte Individuum nimmt die handfeste Abschaltung seiner Kraftwerke im Tausch gegen ein diffuses ökologisches Heilsversprechen schweigend hin.
Das wird böse enden, bevor es wieder gut werden kann.
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