75 Jahre Israel: Ein Staat wie jeder andere
Bitte keine doppelten Standards!
Kein Staat hat eine größere weltweite Fangemeinde, und kein Staat wird gleichzeitig mehr gehasst. Der Staat Israel, der in diesen Tagen den 75. Jahrestag seines Bestehens feiert, polarisiert. Während die Menschen zwischen Metulla und Eilat im Frühling traditionell den Shoa-Überlebenden und den gefallenen Soldaten gedenken und dann wenige Tage später den Unabhängigkeitstag begehen, trauern auf der anderen Seite Palästinenser um den Verlust ihrer Heimat, die die meisten der heute Trauernden nie kennengelernt haben: Nakba -–Katastrophe – nennen die Araber diesen Tag.
Manchmal hat man den Eindruck, dass die internationalen Fangemeinden beider Lager noch um einiges fanatischer sind als die Menschen in der Region. Als handele es sich beim Nahostkonflikt um ein Fußballspiel zweier verfeindeter Teams, bei dem die Anhänger beider Seiten bei jeder Gelegenheit „Foul“ brüllen, bevor sie sich die Mühe gemacht und die Zeitlupenwiederholung angesehen haben. Verloren geht dabei der Blick auf die Menschen, die auf beiden Seiten unter der Situation leiden, allerdings oft auch ihren Teil dazu beitragen, den Konflikt zu perpetuieren.
Ich habe die Israelis im Vergleich zu den Deutschen immer als angenehm offen, freiheitsliebend und debattierfreundlich kennengelernt. Vier Israelis, fünf Meinungen heißt es gerne und bis zum Beginn des Covid-Wahnsinns im Februar 2020, bei dem Israel den Vorreiter spielte, hätte ich diesen Satz auch so unterschrieben.
Doch in den vergangenen drei Jahren zeigte das andere Israel sein Gesicht. So freiheitsliebend Israelis sich im Gespräch manchmal anhören, kennzeichnet gerade viele säkulare Israelis oft eine geradezu religiöse Verehrung des Staates. Zionismus als Ersatzreligion. Da überrascht es auch nicht, dass der einzig nennenswerte Widerstand im Covid-Alltag von Ultraorthodoxen kam, die dem Zionismus kritisch bis ablehnend gegenüberstehen. Wer Gott vertraut, hat es nicht nötig, den Staat und seine Autoritäten anzubeten. „Antisemitische Nazis“, brüllten die Haredim bei ihren Protesten gegen staatliche Covid-Restriktionen der Polizei entgegen, die mit einer Brutalität gegen die Ultraorthodoxen vorging, die den Vorwurf der Haredim zumindest nachvollziehbar erscheinen ließ.
Dabei waren die Viertel der Ultraorthodoxen zu dieser Zeit noch die freiesten Orte in Israel. Am Strand von Tel Aviv standen plötzlich Liegestühle mit der englischen Aufschrift: „Reserviert nur für Geimpfte“. Später redete sich die Stadtverwaltung von Tel Aviv-Jaffa damit heraus, dies sei ein Übersetzungsfehler aus dem Hebräischen. Wenn man weiß, wie gut Israelis im allgemeinen Englisch sprechen, fällt dies schwer zu glauben.
Und während es in den meisten europäischen Ländern zumindest eine Opposition gegen die Corona-Schikanen in den Parlamenten gab, führten die beiden nach außen hin verfeindeten politischen Lager das Land gemeinsam in totalitäre Abgründe. Die Corona-Politik von Benjamin Netanyahu unterschied sich nur in Details von der der Regierung von Naftali Bennett. Die einzige Partei, die bei der Knessetwahl 2021 antrat und offen den Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen zum Wahlkampfthema machte, erhielt 0,4 Prozent.
Nach seinem Wahlsieg sagte Bennett: „Von heute an gilt ein neues Gebot: Impfe deinen Vater und deine Mutter, auf dass sie ein langes Leben haben.“ Die Erlaubnis zum Eintritt in einen Freizeitpark, Kinos und selbst Synagogen erhielten die Israelis vom Impfapostel aus Ra’anana nur noch gegen Vorlage des Grünen Passes. Auf die Spitze trieb es dann die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Zum Holocaust-Gedenktag 2021 waren selbst Überlebende der Shoa nur noch mit Grünem Pass willkommen.
Hunderttausende Israelis demonstrierten zuletzt in Tel Aviv gegen die Justizreform der Netanyahu-Regierung, die, verglichen mit den autoritären Exzessen der vergangenen Jahre, ziemlich banal daherkommt. Ich kann keinen Israeli ernst nehmen, der in den vergangenen zwei Jahren seinen Hintern nicht hochbekommen hat, um gegen den totalitären Wahnsinn zu demonstrieren, aber jetzt in Netanyahus Justizreform den Untergang des Rechtsstaats herannahen sieht. Es ist wie so oft in der Geschichte Israels: Das eine politische Lager demonstriert gegen das andere politische Lager mit teils derart überzogener Rhetorik, dass Menschen im Ausland den Eindruck bekommen, das Ende Israels sei gekommen.
Ohne den Holocaust – da muss man sich nur die Zahlen der verschiedenen Einwanderungswellen seit 1882 anschauen – hätte es wohl nie einen Staat Israel gegeben. Viele Holocaust-Überlebende haben ihre Sehnsüchte und Hoffnungen in diesen Staat projiziert; sich darüber zu mokieren oder zu erheben, verbietet sich. Doch bis heute setzt Israel das Holocaust-Gedenken auch als politische Waffe ein. Ein früherer Premierminister marschierte einst sogar in den Libanon ein mit der Begründung, er wolle ein zweites Treblinka verhindern.
Doch genauso, wie es den Staat ohne Holocaust wohl nie gegeben hätte, gäbe es auch kein Israel in seiner jetzigen geographischen Form ohne Massenvertreibungen von Arabern, vor allem im heutigen Norden des Landes. Dass die meisten alle freiwillig gegangen wären in der Hoffnung, die arabischen Armeen würden die Zionisten ins Meer werfen, ist eine der schamlosesten Lügen, auf die Israel lange Jahre seine Existenz aufgebaut hat.
Ist Israel also schlimmer als andere Staaten? Nein, und hier, denke ich, irren die Israel-Hasser. Israel tut, zu was in einer ähnlichen Situation jeder andere Staat auch fähig wäre. Das spricht nicht für Israel, sondern gegen Staaten. Und man muss schon fair sein: Die heutige nationalistische Radikalisierung der israelischen Gesellschaft ist ohne den palästinensischen Terror während der sogenannten Zweiten Intifada nicht erklärbar. Es waren palästinensische Terrorgruppen wie Fatah, Islamischer Dschihad und Hamas, die gegen das Nichtaggressionsprinzip verstoßen haben. Es sei denn, irgendjemand möchte behaupten, ein Attentäter, der sich in einem vollbesetzten Restaurant in Haifa oder Tel Aviv in die Luft sprengt und dabei selbst Kinder mit in den Tod reißt, handele aus Selbstverteidigung.
Doch oft messen sowohl Freund als auch Feind, wenn es um Israel geht, mit zweierlei Maß. Es macht einen manchmal sprachlos, wenn selbsternannte Freiheitsfreunde, die sonst bei jeder Gelegenheit staatliche Übergriffe anprangern, diese im Falle Israels mit Verweis auf die Ausnahmesituation des Staates entschuldigen. Selbst während der Covid-Jahre war dies spürbar. Gegen China, Italien oder auch die Bundesregierung wurde gekeilt, während über die menschenverachtende Diskriminierungspolitik und die Polizeigewalt des Regimes in Jerusalem oft der Mantel des Schweigens gebreitet wurde. Doch genauso fällt manchmal schwer zu verstehen, mit welcher Verve sich andere wiederum gerade Israel als besonderes Feindbild herauspicken. Man kann dabei oft nur erahnen, dass dies nichts mit grundsätzlicher Kritik an staatlichen Gewaltapparaten zu tun hat.
Den 60. Geburtstag Israels habe ich damals in Tel Aviv noch mit Freunden zu Liedern von Arik Einstein und Shlomo Artzi gefeiert. Ich habe in dem Land mit die schönste Zeit meines Lebens verbracht. 15 Jahre später mögen an diesem Jahrestag so recht keine Emotionen aufkommen. Israel hat sich verändert. Und ich mich auch.
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