12. Mai 2023 08:00

Politische Theorie Rettet uns der Staat vor der Herrschaft?

Ein Märchen nimmt Kontur an

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: akg-images / Doris Poklekowski Pierre Bourdieu (1930–2002). Französischer Soziologe und Sozialphilosoph

Eine neue Sau wird durchs Land getrieben: die des libertären Autoritarismus. Noch findet die Treibjagd nur hin und wieder Aufmerksamkeit. Doch ich prophezeie: Dies ist die Zukunft der Erzählung, mit der die herrschende Meinung (Meinung der Herrschenden) der Delegitimierung ihrer selbst zu entgehen trachtet.

Libertär, freiheitlich – das ist das Label, das zunächst die antiautoritären Sozialisten und Kommunisten in Europa nutzten, um sich von der Okkupation der von ihnen benutzten Begriffe durch die marxistischen Gewaltherren in Russland 1917 und danach überall in der Welt abzugrenzen. Das ist das Label, das die antiautoritären Rechten und Konservativen in den USA nutzten, als dort die Rechten und die Konservativen nicht nur ihren Frieden mit dem Staat schlossen, sondern den Staat sogar zu ihrem Gott erkoren. Libertär, egal wie man es dreht und wendet, hat in keinerlei Hinsicht das Potenzial, in Richtung Autoritarismus getrimmt zu werden. Warum kommen sie dennoch mit der Erzählung durch?

Um mir das klarzumachen, gehe ich von zwei Denkern aus, zwischen denen ungefähr hundert Jahre Geschichte liegen und die eine nur schwache Verbindung – wenn es überhaupt eine gibt – zueinander haben: Friedrich Engels und Pierre Bourdieu.

Friedrich Engel entwickelte (ganz im Gegensatz zu seinem Freund Karl Marx) die Erzählung, dass die Herrschaft seinen Ausgangspunkt im Tausch nehme, aus dem Reiche und Arme hervorgehen. Die Reichen schaffen sich, um ihren Schutz zu organisieren, den Staat. Doch es bleibt festzuhalten, dass Engels die Quelle der Herrschaft außerhalb und vor dem Staat sah: Der Staat sei ein sekundäres Phänomen. Mein marxistischer Lehrer, der Ethnologe Christian Sigrist, nannte dies die Erzählung eines Besoffenen, der schon die zu seiner Zeit gesicherten geschichtlichen, ethnologischen und ökonomischen Erkenntnisse außer Acht gelassen habe. Engels, das war Ende des 19. Jahrhunderts. Doch genau seine Erzählung wurde im Marxismus dogmatisiert: Herrschaft sei ein gesellschaftliches Verhältnis, das außerhalb der Sphäre des Staats entstehe und fortbestehe. Die Frage laute vielmehr, ob der Staat der Herrschaft diene oder ihr widerstehe. Halten wir für dieses historische Stadium fest: Engels formulierte die Utopie, der Staat solle, anstatt den Reichen zu dienen, ihren Einfluss begrenzen und den Armen zu ihrem Recht verhelfen.

Gehen wir nun zum Ende des 20. Jahrhunderts. Pierre Bourdieu war ein Soziologe, der redlich um ein Verständnis von Staat und Gesellschaft rang. In seinen Vorlesungen Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre warnte er seine Studenten davor, dem Staatsdenken zu verfallen. Er meinte damit: Hütet euch vor der Anziehungskraft der Gewalt. In diesen Vorlesungen sagte er, dass es ihm leidtue, er sie aber mit einem Thema, und zwar der Kommission langweilen müsse. Das hörte sich in der Tat langweilig und unspektakulär an. Heute hören sich diese Passagen wie die Prophetie eines Genies an: Kommissionen sind das Herzstück des Staats. Sie verwandeln mit einem, wie es Bourdieu ausdrückte, alchemistischen Kunststück Partikular- in Allgemeininteressen. Der Prozess der Entscheidungsfindung in einer staatlich inthronisierten Kommission bedeutet, dass ein anfangs partikulares Interesse nach der Verabschiedung durch die Kommission dem Allgemeininteresse entspricht. Ich erläutere dies hier deshalb, um die Ungeheuerlichkeit deutlich zu machen, die Bourdieu nur wenig später beging. Durch einen für mich noch nicht aufgeklärten Vorgang erkor Bourdieu Mitte der 1990er Jahre den Neoliberalismus zum Übel aller Übel. Wenn man (wie in diesem Fall wohl kaum anders möglich) unter Neoliberalismus die Ökonomie Milton Friedmans und die Politik vor allem von Margaret Thatcher und Ronald Reagan versteht, dann war das zu einer Zeit, in welcher Neoliberalismus praktisch bereits schon wieder völlig an Einfluss verloren hatte. Der Neoliberalismus bilde, so schwadronierte Bourdieu, eine staatenlose Internationale, die sich anschicke, den guten Staat zu zerstören. Dieser späte Bourdieu kurz vor seinem Tod dementierte all das, was er zuvor erarbeitet hatte. Und dennoch ist es genau diese Erzählung, die heute sowohl die Sozialwissenschaften als auch Feuilleton und Journalismus beherrschen. Das gefällt den Herrschenden.

Die Erzählung Bourdieus deutet die Utopie Engels zur Realität um: Der Staat sei nicht der Ausdruck der Herrschaftsverhältnisse, sondern er begrenze die Herrschaft. Dies macht deutlich, dass laut der Erzählung der Herrschenden die Herrschaft nicht im Staat residiere, sondern außerhalb von ihm, und dass der Staat die Herrschaft mehr schlecht als recht eingrenze. Wer also den Staat reduzieren wolle, wer ihn delegitimiere, werde mithin der Herrschaft lange Leine lassen. Damit erhält der Ausdruck des autoritären Libertarismus eine immanente Rationalität.

Indem ich mir diese Herleitung vor Augen führe, wird mir deutlich, dass die Entgegnung, libertär bedeute freiheitlich und sei von daher naturgemäß dem Autoritarismus (der Herrschaft) zuwider, nicht hinreicht. Mir schwant, dass der Begriff des autoritären Libertarismus das Zeug dazu hat, allgemeine Zustimmung zu erheischen. Die Aufgabe aller Kräfte, die auf Freiheit setzen, kann nur darin bestehen, dem Märchen, dass die Herrschaft in der freien, gegenseitigen und gemeinschaftlichen Sozialität gründe, gegenüber welcher der Staat die Werte der Gerechtigkeit und der Freiheit repräsentiere, entgegenzutreten.


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