Spaziergang durch das Zentrum von Grevenbroich: Es hat sich viel verändert!
Eine Stadt wie jede andere?
von André F. Lichtschlag (Pausiert)
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Wir Ü50er haben entscheidende Vorteile: Wir sind in einem anderen Land aufgewachsen. Wir haben eine andere Zeit erlebt. Wir erkennen eine Entwicklung. Wir können vergleichen.
Fürs Gemüt ist dieser Vorteil eher eine Bürde. Denn was wir sehen, ist oft niederschmetternd. Manches kann man im Kleinen, im Lokalen noch besser erkennen als im großen, nationalen oder gar globalen Zusammenhang.
Ich zum Beispiel bin in einer Mittelstadt im Rheinland aufgewachsen: in Grevenbroich. Die etwas älteren Leser wissen um den Ort vielleicht durch einen netten Kollegen von mir, den hiesigen Lokaljournalisten Horst, der Mitte der Nullerjahre überregionale Bekanntheit erlangte. Weisse Bescheid?
Die Landeshauptstadt Düsseldorf liegt 20 Kilometer entfernt. Ich bin in einem der eingemeindeten „Vororte“ groß geworden und in Grevenbroich-Zentrum zur Schule gegangen. Heute lebe ich in einem anderen der Stadtteile und meine Kinder gehen in Grevenbroich-Zentrum zur konkurrierenden Schule. Dort wird jetzt die kleine Helga von den Lehrern Hans genannt, wenn sie sich gerade danach fühlt. Das war zu meiner Zeit anders.
Die Vororte beziehungsweise Stadtteile oder Dörfer haben sich kaum verändert. Eigentlich ist da alles immer noch so wie in den 80ern, außer dass die früher sechs bis acht Kneipen pro Ort meist bis auf eine letzte verschwunden sind.
Zum Feiern, zum Einkaufen, zum Schwimmen, zur weiterführenden Schule, zum Krankenhaus, zu Verwaltungsangelegenheiten fuhr man von jeher nach Grevenbroich-„City“. Die Dörfer ringsum waren und sind reine Wohnorte mit Bäckereien, Metzgereien, Eisdielen, Hausärzten, Blumenläden und kleineren Supermärkten in fußläufiger Nähe. All das blieb fast auf idyllische Weise unverändert.
Doch der Besuch im Stadtzentrum hat sich stark verändert. Die Leute sehen schon anders aus als damals, irgendwie ärmer, heruntergekommener, depressiver. Einkaufen im Zentrum fand in einer kleinen Fußgängerzone statt – und in zwei Einkaufszentren an deren Rändern. Das eine bot in den 80ern in der oberen Etage auch Squash- und Badmintonplätze, Bowlingbahnen, Gastronomie (unter anderem einen legendären Irish Pub), Kino, Disco und einen künstlichen „Dorfplatz“ mit Musik (zuweilen live) – wovon alles verschwunden ist bis auf das Kino, das Ende des Jahres schließen soll. Die obere Etage des Einkaufszentrums ist tatsächlich komplett verrammelt und verwaist. In der unteren Etage, wo sich einst zahlreiche Geschäfte und Boutiquen befanden, sind ebenso wie in besagter Fußgängerzone und im anderen, kleineren Einkaufszentrum sehr viele Schaufenster leer. Letzte Boutiquen wurden durch Ramschläden ersetzt.
Dabei ist die Einwohnerzahl der Stadt Grevenbroich seit den 80ern mehr oder weniger konstant geblieben – bei knapp 70.000. Nur das Durchschnittsalter ist stark gestiegen. Und der Ausländeranteil. Shopping in Grevenbroich ist heute ein seltsames Erlebnis. In und vor den wenigen verbliebenen Geschäften der Innenstadt sieht man kaum noch Menschen – und wenn, dann meist Rentner und Frauen mit Kopftuch.
Wohlgemerkt: Wie sprechen hier nicht von einem verwaisten Dorf in der Steppe Mecklenburg-Vorpommerns, sondern von einer Mittelstadt tief im Westen, einem Wohnort im direkten Einzugsgebiet der Modestadt Düsseldorf. Das Zentrum der Stadt Grevenbroich war in der Zeit meiner Jugend geprägt von pulsierenden Geschäften, Restaurants und Freizeitmöglichkeiten. Heute ist es beherrscht von einem grotesken Verwaltungswasserkopf. Kaum zu glauben, wie viele Ämter so eine kreisangehörige Stadt inzwischen beherbergt. Was früher in einzelnen Zimmern des Rathauses Platz fand, sitzt jetzt in eigenen, in den letzten Jahren neu gebauten oder aufwendig renovierten riesigen Gebäuden überall im Zentrum verteilt. Bauamt. Tiefbauamt. Gewerbeaufsicht. Ordnungsamt. Arbeitsagentur. Job-Center. Und so weiter und so fort.
Wer wundert sich da, dass viele Mitschüler meiner Kinder als Berufswunsch „Beamter“ äußern? Sie sehen auf dem Weg zur Schule nur Behörden. Überall Beamte. Jeden Tag.
Bürokratie und Sozialismus zehren von der Substanz. Die wuchernde Verwaltung hat sinnbildlich jedes Leben erstickt. Hatte nicht der russische Mathematiker Igor Schafarewitsch in jeder sozialistischen Entwicklung einen Todestrieb vermutet? Wovon zeugen Kinder, die nicht mehr Erfinder, Verkäuferin, Kfz-Mechaniker oder Ärztin werden wollen, sondern Bürokrat? Wovon zeugt ein Gang durch Grevenbroich, das seine besseren Zeiten hinter sich hat? Gibt es Hoffnung?
Margaret Thatcher war etwas optimistischer als Schafarewitsch. Sie meinte, das Problem beim Sozialismus sei, „dass ihm am Ende das Geld anderer Leute ausgeht“. Der Blick ins Zentrum meiner Stadt zeigt, dass dieser Zeitpunkt nicht mehr allzu weit entfernt liegen kann.
Und dann kommt eine neue Stunde null, zwangsläufig, eine neue Zeit des Schaffens, des Aufbaus. Auch in Grevenbroich. Oder doch eher anderswo?
Kommentare
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