19. Mai 2023 08:00

Ideengeschichte Was heißt Sozialismus?

Wider die herrschende Geschichtsschreibung

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Nicku / Shutterstock Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865): Französischer Vertreter des solidarischen Anarchismus

Wenn heute von Sozialismus die Rede ist, ist zwar klar, dass es unter dem Begriff des Sozialismus verschiedene Strömungen gibt, doch ebenso selbstverständlich ist die Annahme, dass sie geeint sind von der Vorstellung, mithilfe des Einsatzes der Staatsgewalt sozioökonomische Gerechtigkeit (oder Gleichheit) herstellen zu wollen und zu können. Dies reicht von kleinen reformistischen Interventionen in die Wirtschaft wie der Verfügung eines Mindestlohns bis hin zu einer revolutionären Enteignung aller Produktionsmittel und der zentralstaatlichen Verwaltung nahezu aller wirtschaftlichen Tätigkeiten. Zudem stimmen Freunde und Feinde aller sozialistischen Richtungen anscheinend darin überein, dass jede Ausprägung des Sozialismus in mehr oder weniger enger Verbindung mit dem Marxismus stehe, da Karl Marx bewiesen habe, dass ein Wirtschaften ohne den Eingriff staatlicher Gewalt in Ungerechtigkeit, Armut, Verelendung und neuerdings auch in Umweltzerstörung münde.

Dies ist nichts anderes als eine Geschichtsschreibung der Sieger, obwohl die Sieger inzwischen selber zu den Verlierern gehören, nämlich die bolschewistischen Sozialisten nach der Oktoberrevolution 1917, die sich dann auch eher als Kommunisten bezeichneten. Doch der Name ihrer Staatsgewalt lautete auf Sozialismus: Union der sozialistischen Sowjetrepubliken. Dass ihre Sicht auf die Geschichte dennoch bis heute prägend blieb und selbst von Gegnern kaum noch infrage gestellt wird, ist bemerkenswert.

Demgegenüber kann ich Karl Marx selber als Kronzeugen aufrufen, der eingestand, dass zumindest in Frankreich der Einfluss Pierre-Joseph Proudhons deutlich stärker als sein eigener war. Anlässlich des Ausbruchs des Preußisch-Französischen Kriegs 1870, der zur Gründung des Deutschen Kaiserreichs führte, schrieb Marx an seinen Freund Friedrich Engels: „Die Franzosen brauchen Prügel. Siegen die Preußen, so die Zentralisation der state power nützlich der Zentralisation der deutschen Arbeiterklasse. Das deutsche Übergewicht würde ferner den Schwerpunkt der westeuropäischen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland verlegen, und man hat bloß die Bewegung von 1866 bis jetzt in beiden Ländern zu vergleichen, um zu sehen, dass die deutsche Arbeiterklasse theoretisch und organisatorisch der französischen überlegen ist. Ihr Übergewicht auf dem Welttheater über die französische wäre zugleich das Übergewicht unsrer Theorie über die Proudhons et cetera.“

Das hätte er nicht geschrieben, wenn Proudhon in der revolutionären Bewegung Frankreichs eine Randfigur gewesen wäre. 1870 – da war Proudhon seit fünf Jahren tot. Der Proudhonismus in Frankreich ist ein bemerkenswertes Phänomen. Denn Proudhon, Ochsenhirt, Schriftsetzer, zeitweilig mit Unterstützung eines reichen Freundes Privatgelehrter, dann kleiner Angestellter, entsprach so gar nicht dem, was man sich unter einem revolutionären Führer vorstellt. Er war kein begnadeter Redner, kein geschickter Verschwörer und auch kein großer Organisator. Sein philosophischer Hauptbezugspunkt ist Georg Wilhelm Friedrich Hegel, und seine Schriften durchzieht eine bisweilen ziemlich anstrengende Dialektik. Aber seine Idee – die Menschen seien in der Lage, ihr Leben ohne Herrschaft zu meistern, besser zu meistern als mit Herrschaft! – vermochte es, die revolutionäre Bewegung zu beflügeln.

1849, als Proudhon wegen Beleidigung des französischen Kaisers Napoleon III. ins Gefängnis kam und darum sein Experiment mit der Volksbank, einer Art Vorläufer des Bitcoins, einstellen musste, sagte er, dass sich sein Sozialismus von allen anderen Schulen des Sozialismus insofern unterscheide, dass er als einzige Bedingung seiner Umsetzung die Freiheit fordere. In einer Skizze der Geschichte des Sozialismus 1867 bescheinigte der russische Anarchist und Nachfolger von Proudhon, Michail Bakunin, dass dieser der einzige Sozialist gewesen sei, der keine Tendenz zur Bevormundung gehabt habe. 1911 nannte der deutsche Anarchist Gustav Landauer Proudhon den „größten aller Sozialisten“.

Am Ende des Preußisch-Französischen Kriegs stand 1871 tatsächlich die Niederlage Frankreichs. Inmitten dieser Niederlage kam es in Paris aber zu einem Aufstand mit der Gründung der „Pariser Kommune“. Sie währte nur wenige Tage, bis der französische Reststaat sie unter der wohlgefälligen Aufsicht der preußischen Sieger niederschlug; aber in ganz Europa heizte sie die revolutionäre Bewegung an. Die Idee, welche die Pariser Kommune antrieb, war genau das proudhonistische Programm des Sozialismus: die Selbstverwaltung vor Ort. Marx kam nun nicht umhin, sie ebenfalls in einer Schrift zu würdigen (und zu behaupten, sie entspreche genau seinen Vorstellungen). Lenin kostete es später Mühe, den dezentralen Kommunalismus, den Marx hier pries, wegzuinterpretieren, um seinem demokratischen Zentralismus unbeschadet das Label marxistisch anheften zu können.

In der zur herrschenden Lehre (Lehre der Herrschenden) gewordenen Nomenklatur wird Proudhon schlicht den Frühsozialisten oder den utopischen Sozialisten zugerechnet: Damit wird seine Sonderstellung innerhalb des Sozialismus, die ihn zum Vater des Anarchismus werden ließ, schlichtweg unterschlagen.

Nach der Oktoberrevolution 1917 schritt allerdings die Identifizierung des Sozialismus mit dem Bolschewismus schnell voran; als weitere sozialistische Strömung galt dann nur noch der gewerkschaftliche Reformismus. Bereits 1921 sagte der führende Anarchist Italiens, Errico Malatesta, pauschal, dass Sozialisten autoritär, Anarchisten dagegen libertär seien. Damit gab er den Begriff des Sozialismus, wie ihn Proudhon vertreten hatte, preis an eine öffentliche Meinung, die gar nicht mehr verstand, was Proudhon, Bakunin, Landauer und all die anderen Anarchisten mit Sozialismus meinten. Sozialisten wollten dem Volk, sagte Malatesta weiter, eine Wirtschafts- und Lebensweise aufzwingen, entweder durch eine demokratisch gewählte Regierung oder durch Diktatur. Mit dem Hinweis auf die demokratisch gewählte Regierung bezeichnete Malatesta die sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Reformisten, mit jenem auf Diktatur den Bolschewismus in Russland. Beide, die reformistischen wie die revolutionären Sozialisten, würden nun genau das tun, was Anarchisten bereits seit 50 Jahren sagten, dass sie es tun würden. Hiermit erinnerte Malatesta an die Analysen, die Michail Bakunin in den 1870er Jahren vorlegte: Darin beschrieb er, wie die Marxisten – egal, ob in der reformistischen oder in der revolutionären Variante – nach einem Sieg die Gewalt des Staats festigen und ausbauen würden; insbesondere sagte er voraus, dass dann die Wissenschaft die Position der Kirche einnehme und die Verwaltung zur Allmacht aufsteige.

Der reformistische Sozialismus war besonders in Deutschland stark und hatte hier einen gewissen Bezug zu Marx, obwohl dieser mit der Sozialdemokratie alles andere als glücklich war. Ein zweiter Schwerpunkt des reformistischen Sozialismus lag in England mit den dortigen Trade Unions, den Gewerkschaften; der Trade-Unionismus machte kaum Anleihen beim Marxismus.

Freilich wird auch die Teilung des Sozialismus in einen demokratischen reformistisch-gewerkschaftlichen und einen revolutionären avantgardistischen Flügel der Geschichte nicht gerecht; denn obwohl den sozialistischen Anarchisten der Ruf voraneilt, wilde Revolutionäre gewesen zu sein, sind die meisten Anarchisten eher vorsichtige Reformisten gewesen in dem Sinne, dass sie eine langsame, umsichtige Ausweitung der Bereiche freiwilligen Handelns in der Gesellschaft anstrebten, in deren Verlauf die Menschen sich ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung und Selbstorganisation wieder aneignen.

In seinem „Aufruf zum Sozialismus“ schreibt Gustav Landauer 1911: „Der selbständige Einzelne, dem keiner in das hineinspricht, was seine Sache allein ist; die Hausgemeinschaft der Familie, der Heim und Hof ihre Welt sind; die Ortsgemeinschaft, die autonom ist; das Amt oder der Gemeindeverband und so immer mehr ins Breite mit einer immer kleineren Zahl Aufgaben die umfassenderen Verbände – so sieht eine Gesellschaft aus, das allein ist der Sozialismus, für den zu wirken sich lohnt, der uns aus unserer Not retten kann.“ Das ist nicht das, was man heute mit Sozialismus assoziiert.

Ich möchte nicht gerade zu einer Rehabilitation des Sozialismus-Begriffs aufrufen – zu sehr sind mit dem Sozialismus die Verbrechen Stalins, Maos und der Nationalsozialisten assoziiert; zu sehr verbinden sich mit dem Sozialismus die Orgien von Regulierungen und Verboten durch vergangene und gegenwärtige sozialdemokratische Regierungen. Aber rückwirkend sollten libertäre Sozialisten nicht zu den Vor- und Mitläufern des Staatssozialismus gezählt, sondern der Tradition des Libertarismus zugerechnet werden. Sie mögen sich in diesem oder jenem theoretischen oder auch praktischen Detail geirrt haben, doch ihre Intention richtete sich darauf, das Areal der Freiwilligkeit auszuweiten.


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