Aufarbeitung der Corona-Krise: Zur Ethik der Urteilsformulierung
Warum Richterworte Präzision erfordern
von Carlos A. Gebauer (Pausiert)
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Die juristische Aufarbeitung der „Corona-Krise“ lässt nach Auffassung vieler Beobachter nach wie vor zu wünschen übrig. Ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 16. Mai 2023 (3 CN 6.22) macht deutlich, wie dringend es für die Gesellschaft insgesamt ist, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Die schriftlichen Entscheidungsgründe dieses Urteils sind zwar zur Stunde noch nicht bekannt. Dennoch steht schon jetzt fest, dass das oberste deutsche Verwaltungsgericht die allgemeine Generalklausel des alten Paragraphen 28 aus dem Infektionsschutzgesetz als hinreichende Grundlage dafür betrachtet, auch im November 2020 noch bürgerliche Grundrechte durch Behörden eingeschränkt zu haben.
In jener Generalklausel des Infektionsschutzgesetzes hieß es in breitester Unbestimmtheit, dass die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen treffen dürfe, wenn sie das Vorhandensein von Kranken, Krankheitsverdächtigen oder auch nur Ansteckungsverdächtigen feststelle. Mit anderen Worten: Hatte eine Behörde einen Verdacht, durfte sie das ihr notwendig Erscheinende anordnen. Eine solche Generalklausel ist erkennbar nahe an einer Regel, die schlicht besagt: Erforderlichenfalls ist das Gebotene zu veranlassen. Die rechtsstaatliche Herausforderung, mit einem so weiten staatlichen Freiheitsrahmen umzugehen, ist erkennbar enorm.
Ungeachtet der Frage, wie sich das Bundesverwaltungsgericht in den erwarteten schriftlichen Urteilsgründen zu seiner Entscheidung vom 16. Mai 2023 konkret argumentativ mit dieser Herausforderung auseinandersetzen wird, bleibt zu beachten: Jeder Mensch in Deutschland schwebte noch knapp anderthalb Jahre nach der Geltung dieser Generalklausel in der Gefahr, von dem Parlamentsgesetzgeber einer allgemeinen Impfpflicht mit nur bedingt zugelassenen, modifizierten mRNA-Arzneimitteln unterworfen zu werden. Wie Kai Rebmann auf dem Portal „reitschuster.de“ am 15. Mai 2023 berichtete, nahm das Robert-Koch-Institut am 23. März 2022 – zwei Wochen vor der Abstimmung über eine allgemeine Impfpflicht – zu diesen Impftherapeutika Stellung und gab – wörtlich – „zu bedenken, dass die Impfung eine Infektion und Ausscheidung von SARS-CoV-2 nach erfolgter Exposition nicht grundsätzlich verhindern kann“. Mit anderen Worten: Auch ein etwaiger behördlich unterstellter Ansteckungsverdacht war für die Allgemeinheit mit dieser Impftherapie am Einzelnen überhaupt nicht sicher zu beseitigen. Gleichwohl folgten viele Entscheidungsträger in jener Zeit dem oft beobachteten Prinzip, dass brennende Angst alle nüchterne Überlegung verdrängt.
Über die Radikalität, mit der im politischen Berlin in den Wochen und Monaten zwischen der Nutzung jener infektionsschutzrechtlichen Generalklausel durch die Landesgesetzgeber und dem Anlaufnehmen zu einer gesetzlichen Impfpflicht im Bundestag zur Sache nachgedacht wurde, gibt eine Sachstandsnachricht des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages vom 3. Dezember 2021 beredtes Zeugnis (Aktenzeichen WD 3 – 3000 – 199/21).
Dort wurde die Frage behandelt, wie sich der verfassungsrechtliche Rahmen für eine allgemeine Impfpflicht gegen Covid-19 darstelle. Die Gutachter erläuterten, dass eine solche Impfpflicht denknotwendig in die grundgesetzlich geschützte körperliche Unversehrtheit jedes einzelnen Menschen eingreift. Ein „Mehrwert für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung“ müsse mithin in einem „vernünftigen Verhältnis zur Tiefe des durch die Impfung bewirkten Eingriffs“ stehen. Hierzu seien Prognosen und Bewertungen erforderlich, für die dem Gesetzgeber allerdings ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zustehe. Komme der Gesetzgeber bei seiner dahingehenden Abwägung schließlich zu dem Ergebnis, eine Impfpflicht anordnen zu können, stelle sich die Anschlussfrage, wie eine solche Impfung dann auch gegen den Willen von Bürgern zwangsweise vollstreckt werden könne.
Diesbezüglich wies der Wissenschaftliche Dienst auf die Sanktionsmöglichkeit einer Bußgeldanordnung hin. Die fehlende Bereitschaft, sich mit der Impfarznei behandeln zu lassen, könne also als Rechtverstoß gewertet werden, gegen den eine Geldbuße von bis zu 25.000 Euro zu verhängen sei. Ergänzend wiesen die Berater die Bundestagsabgeordneten darauf hin, dass Paragraph 74 des Infektionsschutzgesetzes allerdings auch einen Straftatbestand enthalte, der Vorsatztaten erfasse und Freiheitsstrafen von bis zu fünf Jahren ermögliche: „Mithin kann, abhängig von der genauen Ausgestaltung der Impfpflicht, auch die bewusste Zuwiderhandlung der Impfpflicht unter diese Voraussetzungen fallen.“
Ob die grammatikalische Fehlerhaftigkeit dieses Satzes (der natürlich richtigerweise von einer bewussten „Zuwiderhandlung gegen die Impfpflicht“ hätte sprechen müssen) das Unbehagen des Verfassers gegen das, was er dort festhielt, indiziert, ist schwer zu beurteilen. Fest steht allerdings, dass hier von einer bis zu fünf Jahren andauernden Gefängnisstrafe für Menschen die Rede ist, die unwillig wären, sich mit einem (nicht abschließend ausgetesteten) Arzneimittel therapieren zu lassen.
Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages ließ es an diesem 3. Dezember 2021 indes nicht bei dem einfachen Hinweis auf Bußgelder, Geldstrafen oder Gefängnisstrafen bewenden. Er beschäftigte sich darüber hinaus auch mit der Frage nach einer „Verwaltungsvollstreckung“. Zu diesem Verwaltungszwang formulierte er unter anderem: „Wenn es sich, wie bei der Impfpflicht, um eine Handlung handelt, die nicht durch einen Dritten vertreten werden kann und die nur vom Willen des Pflichtigen abhängt, kann dieser durch ein Zwangsgeld bis zu einer Höhe von 25.000 Euro zur Vornahme der Handlung angehalten werden. Dies umfasst die Duldung der Vornahme einer Handlung. Das Zwangsgeld kann wiederholt festgesetzt werden. Wenn die Festsetzung eines Zwangsgeldes nicht zur Vornahme der Handlung durch den Pflichtigen führt, könnte diese nach dem Verwaltungsvollstreckungsrecht grundsätzlich auch durch unmittelbaren Zwang vollstreckt werden. Unmittelbarer Zwang ist die Einwirkung auf Personen oder Sachen durch körperliche Gewalt, Hilfsmittel oder Waffen. Kann ein Zwangsgeld bei Pflichtigen nicht eingebracht werden, so ist unter weiteren Voraussetzungen auch einer Ersatzzwangshaft möglich.“
Führt man nun den Ausgangspunkt einer epidemiologischen Gefahrenbekämpfung (also die Spekulation über das Drohen eines Schadens) mit diesem Zwangsinstrumentarium des Gesetzes gedanklich zusammen, dann wird deutlich: Im Extremfall ist es möglich, einen Bürger mithilfe von körperlicher Gewalt, Hilfsmitteln oder Waffen zur zwangsweisen Duldung einer Impfung mit bedingt zugelassenen Impfarzneien zu nötigen, weil die Mitarbeiter einer zuständigen Behörde einen Gefahrenverdacht bejahen. In diesem Spektrum menschlicher Verhaltensweisen hat sich Juristerei zu bewegen.
Es sollte nach allem keiner näheren Erläuterung bedürfen, welche insbesondere ethischen Anforderungen in diesen Kontexten an eine behutsame Urteilsformulierung des Bundesverwaltungsgerichtes gestellt sind. Wird der behördliche Handlungsspielraum nämlich durch eine unbedachtsame Formulierung in der höchstrichterlichen Entscheidung zu sehr ausgedehnt, drohen im Extremfall die Gefahr von Gefängnisstrafen und die Gefahr gewaltsamer Impftherapien, wenn nur ein zuständiger Beamter Angst hat.
Wenn die Weltgesundheitsorganisation in den kommenden Tagen in Genf beschließen sollte, sich künftig für derartiges behördliche Angstempfinden verbindlich globalisiert zentralisiert zuständig zu fühlen und der deutsche Bundesgesundheitsminister dies gegenzeichnet, betreten wir gesundheitsrechtlich eine neue Welt. Ob das deutsche Richterrecht diese Realität dann noch mitgestalten kann, wird nicht zuletzt an den Formulierungen liegen, an denen das Bundesverwaltungsgericht derzeit feilt.
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