09. Juni 2023 08:00

Erkenntnistheorie Ist zwei mal zwei fünf?

Wahrheit als Instrument der Freiheit

von Stefan Blankertz

von Stefan Blankertz drucken

Artikelbild
Bildquelle: P. Qvist / Shutterstock „Modernes“ Folterinstrument für heutige Konsensverweigerer: Soziale Ausgrenzung

Jeder Aussagesatz erhebt den Anspruch darauf, eine Wahrheit auszudrücken. Sonst wäre er sinnlos und würde nicht gesprochen oder geschrieben werden. Diesen Anspruch erhebt er übrigens auch, wenn er eine bewusste Lüge enthält: Der Leser oder Hörer soll ihn dennoch für wahr halten. Ein Fragesatz zielt immer darauf ab, als Antwort eine Wahrheit zu erhalten. Sonst wäre er sinnlos und die Frage würde nicht gestellt.

Freilich kann der Anspruch auf Wahrheit in einer Aussage enttäuscht werden. Es gehört zur täglichen Erfahrung, dass der Anspruch auf Wahrheit in einer Aussage entweder auf Irrtum oder sogar auf bewusster Lüge beruht. Die unbewusste Täuschung (Irrtum) oder die bewusste Täuschung (Lüge) klärt sich, wenn überhaupt, durch einen Hinweis auf ein der Aussage entgegenstehendes empirisches Faktum oder durch ein ihr logisch entgegenstehendes besseres Argument auf.

Hierbei ist die Bedingung der Möglichkeit von Wahrheit Freiheit: die Freiheit, sich zu irren, ja, sogar die Freiheit zu lügen auf der Seite dessen, der eine Aussage macht; und die Freiheit, den Anspruch auf Wahrheit in der Aussage zurückzuweisen, auf der Seite dessen, an den der Anspruch auf Wahrheit ergeht. Wer mit körperlichem oder psychischem Zwang veranlasst wird, etwas auszusagen, was er selber nicht für wahr hält, der erhebt auch nicht selber den Anspruch auf Wahrheit, sondern gibt nur den Anspruch auf Wahrheit dessen wieder, der den Zwang ausübt. Wer mit körperlichem oder psychischem Zwang veranlasst wird, einer Aussage zuzustimmen, der er selber nicht zustimmt, trägt nicht zur Wahrheitsfindung bei: Er beugt sich vielmehr nur dem Zwang.

Obwohl die Wahrheit ihrem Anspruch nach objektiv und unabhängig von Zustimmung ist, ist die Suche nach Wahrheit ein soziales Ereignis: Den Anspruch auf Wahrheit kann nur erheben, wer frei ist, sich zu irren, ja, sogar zu lügen. Der Anspruch auf Wahrheit darf sich nicht anders umsetzen als durch die frei gegebene Zustimmung dessen, an den der Anspruch auf Wahrheit gerichtet ist.

Obwohl Freiheit als Bedingung der Möglichkeit von Wahrheit (meiner Übersicht nach) in dieser Abstraktion von niemanden in Zweifel gezogen wird, durchzieht die Geschichte der Menschheit die Blutspur der Versuche, der (angeblichen) Wahrheit mit Zwang Geltung zu verschaffen. Jeder weiß, dass ein mit Zwang veranlasster Glaubenssatz nicht den Glauben ausdrückt, sondern den Zwang; dennoch setzen Religionen bis heute Zwang ein, um sich durchzusetzen. Damit geben die Akteure zu, dass es ihnen nicht um Glauben (und somit nicht um Gott) geht, sondern um ihre eigene Herrschaft. Obwohl der Inhalt eines Glaubenssatzes jenseits dessen liegt, worüber der Mensch eine Wahrheit tätigen kann, enthält der Glaubenssatz doch einen formalen Wahrheitsanspruch, nämlich dass derjenige, der ihn ausspricht, wahrhaftig an den Satz glaubt. Bei jemandem, der mit Zwang veranlasst wird, einen Glaubenssatz zu sprechen, weiß man freilich nicht, ob er ihn wahrhaftig glaubt oder ob er sich nur dem Zwang beugt. Mithin zerstört Zwang den Glauben in gleicher Weise, wie er die Wahrheit zerstört.

Zunehmend tritt die Wissenschaft die säkulare Nachfolge der Religionen an (was der Anarchist Michael Bakunin im dritten Quartal des 19. Jahrhunderts bereits prophezeite): Aussagen einer gewissen, von den Instanzen der Herrschaft legitimierten Gruppe von Wissenschaftlern werden dogmatisiert; besonders deutlich wird das in dem inflationären Gebrauch der Invektive „Leugner“ in verschiedenen Zusammensetzungen, wie etwa Klimaleugner, Corona-Leugner oder, ganz generalisiert, Wissenschaftsleugner und Konsensleugner. Das Leugnen ist das Verbrechen der Ketzer, die trotz Nachhilfe durch Folter an der Unwahrheit festhielten und die Wahrheit des einzig wahren Glaubens leugneten.

Die behauptete Wahrheit der Religion steht allerdings meist über lange Zeiteinheiten hinweg fest. Die Herrschafts- und Wissenschaftswahrheit dagegen verlangt einen deutlich flexibleren Umgang mit der Wahrheit: Sie wird mitunter täglich aktualisiert.

In seinem Roman „1984“ stellte George Orwell sowohl diese Wechselhaftigkeit der von der herrschaftlichen Instanz (dem Großen Bruder) verkündeten Wahrheiten dar als auch den unbedingten Anspruch gegenüber der Bevölkerung, jede dieser Wahrheiten zu glauben. Der als notorisch ungläubig aufgefallene Protagonist des Romans wird unter Folter dazu gebracht, der Aussage, dass zwei mal zwei fünf sei, dann zuzustimmen, wenn der Große Bruder dies verlange. Das Ziel des Folterers besteht nicht darin, ein bloßes Lippenbekenntnis zu erzielen, sondern den echten Glauben zu induzieren. Übrigens ist sehr wichtig zu verstehen, dass auch die Zustimmung zu der Aussage, zwei mal zwei sei vier, nicht erzwungen werden darf: Sobald die herrschende Instanz dies tut, entwertet sie die Wahrheit. Oder anders: Selbst wenn ein Satz wahr sein sollte, darf er nicht erzwungen werden.

Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann (1927–1998) leitete aus Orwells Roman die Definition des Terrors ab: Terror liege vor, „wenn Zwang nicht nur zur Durchsetzung spezifischer Absichten angewandt wird, sondern auch als symbolisches Handeln wirken soll, nämlich als Demonstration der Absicht, unabhängig von einer gegebenen Ordnung jeden beliebigen Willen, der gegen den Machtanspruch aufbegehrt, zu brechen“.

Während Orwell darin recht behalten hat, dass die Zukunft der Herrschaft in täglich wechselnden Wahrheitsansprüchen liege (er leitete diese Prophezeiung aus der Erfahrung des Stalinismus ab), so irrte er hinsichtlich der zukünftigen Strategie, die wechselnden Wahrheitsansprüche durchzusetzen. Folter und Tod setzen nur noch rückwärtsgewandte Regime ein. Die neue Form der Durchsetzung heißt soziale Ausgrenzung.

Nun, so neu ist sie zugegebenermaßen nicht, neu sind jedoch das Maß und vor allem der orchestrierte Einsatz dieser Form der Durchsetzung. Von dem polnischen Dichter Stanisław Barańczak (1946–2014), intellektueller Wegbereiter der Solidarność-Bewegung, ist gerade ein Band mit Essays aus den 1970er Jahren erschienen („Ethik & Poetik“). In Notizen zu Dietrich Bonhoeffer bemerkt er, dass er dessen Heldentum, sich nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 gegen den fast einhelligen Konsens zu stellen und die soziale Ausgrenzung zu erleiden, höher bewerte als das Heldentum Anfang der 1940er Jahre, in der Beteiligung an den Plänen zum Attentat gegen Hitler sein Leben zu riskieren. Immerhin habe es zu diesem Zeitpunkt einen Riss im Konsens bereits gegeben. Das Heldentum des gescheiterten und hingerichteten Attentäters auf den Tyrannen bezeichnet Barańczak als das traditionelle Märtyrertum. Die Zukunft erfordere das Heldentum, den Konsens zu verweigern. Damit beschrieb Barańczak indirekt auch, dass die Form der Herrschaft sich von der Folter zur sozialtechnischen Herstellung eines Konsenses verlagert, gegen den zu verstoßen nicht das physische, sondern das soziale Leben kostet (indirekt darum, weil er es in dem kurzen Essay nicht ausdrücklich sagt).

Einen Teil dieser sozialtechnischen Herstellung des Konsenses macht aus, dass die Vertreter des Konsenses hämisch darauf verweisen, dass keine Verfolgung stattfinde, denn schließlich dürfe man Kritik frei äußern, ohne dafür gefoltert oder gar getötet zu werden. Und mit den sozialen Folgen der Kritik müsse der Kritiker leben, das sei nun mal der natürliche Gang der Geschichte: Wer gegen den Strom schwimme, werde gar nicht ausgegrenzt, vielmehr grenze er sich selber aus. Wer so redet, entwertet die Wahrheit und vereitelt die Suche nach ihr.

Die Wahrheit ist ein mächtiges Instrument der Freiheit. Nutzen wir es. Mögen wir alle zu Konsensleugnern werden.


Sie schätzen diesen Artikel? Die Freiheitsfunken sollen auch in Zukunft frei zugänglich erscheinen und immer heller und breiter sprühen. Die Sichtbarkeit ohne Bezahlschranken ist uns wichtig. Deshalb sind wir auf Ihre Hilfe angewiesen. Freiheit gibt es nicht geschenkt. Bitte unterstützen Sie unsere Arbeit.

PayPal Überweisung Bitcoin und Monero


Kennen Sie schon unseren Newsletter? Hier geht es zur Anmeldung.

Artikel bewerten

Artikel teilen

Kommentare

Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.

Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.