Hararis argumentative Havarie: Kennen Sie schon unleugbare Heuristik? Oder unanzweifelbare Spekulation?
Nein? Dann sagt Ihnen vielleicht „korrekte Religion“ etwas?
von Axel B.C. Krauss
Yuval Noah Harari, bekanntermaßen Hofhistoriker unserer etwas ungeduldigen Freunde vom Weltwirtschaftsforum, die zu glauben scheinen, sie müssten menschliche Zivilisationsgeschichte übers Knie brechen (gerne auch mit krisenkatalytischem Turbo), lieferte im Rahmen eines Gesprächs mit dem Journalisten Pedro Pinto in Lissabon einige klärungsbedürftige Aussagen zur „Zukunft der Menschheit“. Hararis Argumentationslinie erweckt den Eindruck, als sei der Mensch ein Auslaufmodell.
Zunächst das ganze Zitat (Link zum Video unter diesem Beitrag): „Die dritte Sache über KI, die jeder wissen muss: Es ist die erste Technologie, die neue Ideen hervorbringen kann. Wissen Sie, die Druckerpresse, das Radio, das Fernsehen – sie senden, sie verbreiten die Ideen, die das menschliche Gehirn, der menschliche Verstand geschaffen hat. Sie können keine neue Idee schaffen. Wissen Sie, Gutenberg druckte die Bibel in der Mitte des 15. Jahrhunderts ... die Druckerpresse druckte so viele Exemplare der Bibel, wie Gutenberg wollte. Aber sie schuf nicht eine einzige neue Seite. Sie hatte keine eigenen Ideen über die Bibel: Ist sie gut, ist sie schlecht, wie ist dies zu interpretieren, wie ist jenes zu interpretieren. Die KI kann neue Ideen entwickeln. Sie kann sogar eine neue Bibel schreiben. Wissen Sie, im Laufe der Geschichte haben die Religionen davon geträumt, ein Buch zu haben, das von einer übermenschlichen Intelligenz, von einem nichtmenschlichen Wesen geschrieben wurde. Jede Religion behauptet das: Alle anderen Bücher anderer Religionen – die haben Menschen geschrieben. Aber unser Buch, nein, nein, nein, das kam von einer übermenschlichen Intelligenz. In ein paar Jahren könnte es Religionen geben, die tatsächlich korrekt sind. Man denke nur an eine Religion, deren heiliges Buch von einer KI geschrieben wurde. Das könnte Realität werden – in ein paar Jahren.“
Es versteht sich von selbst, dass angesichts solcher etwas holprig wirkenden Herleitungen mit dem Beigeschmack deduktiver Schnellschüsse meine Gedankenpistole sofort den Abzug durchdrückte. Jetzt mal ganz langsam bitte: im Folgenden eine Aufschlüsselung in Bullet Time, Kugel für Kugel.
Erstens: Harari stellt durchaus richtig fest, dass die vom Menschen erschaffenen Technologien zur Informationsverbreitung selber keine neuen Ideen schaffen könnten. Peng: Warum sollten sie auch? Dazu ist ja der Mensch da. Er ist es schließlich, der als Ideenschöpfer neue Techniken hervorbringt. Warum also Hararis Fokus auf die Technologie selbst als kreative Kraft? Ist der Mensch etwa nicht mehr gut genug? Diesen Eindruck erweckt er nämlich. Sein Vorwurf impliziert, dass es eine Technologie geben „müsse“, die das kann. Warum? Sind die Ideen des Menschen neuerdings so unzulänglich, dass eine – nicht ganz ironiefrei – vom Menschen geschaffene Technologie namens KI ihn verbessern müsse?
Zweitens (überschneidet sich mit dem ersten Schuss): Die Druckerpresse, so der Vorwurf, habe der Bibel keine einzige neue Seite hinzugefügt. Peng: Warum sollte das ein Problem sein? Wieso sollten der Bibel (was auch immer man von diesem Buch halten mag) überhaupt neue Seiten hinzugefügt werden? Peng: Und warum unbedingt von einer Technologie? Noch mal: Ist der Mensch als Ideenlieferant nicht mehr ausreichend? Sein Ideenreichtum, seine Kreativität und Phantasie könnten doch, sofern man das für nötig halten will, mühelos „neue Seiten“ hinzuerfinden. Also? Ich kann noch immer kein „Problem“ erkennen. Dieses wird von Harari künstlich herbeigeredet.
Zwischenruf: Wäre es denn so schlimm, wenn eine Technologie die Fähigkeit besäße, selber kreativ zu werden und neue Ideen zu schöpfen? Nein, natürlich nicht. Und es lässt sich auch nicht ausschließen, dass eine Technologie wie künstliche Intelligenz, der nachgesagt wird, sie könne irgendwann mit „geometrischer Geschwindigkeit“ lernen und sich weiterentwickeln, ihrem Schöpfer – dem Menschen – hin und wieder nützliche Anregungen liefert. Was mich an Hararis Ausführungen stört, ist nicht diese Vorstellung an sich, sondern die von ihm implizierte „Vergöttlichung“: Schließlich argumentiert er, alle Religionen der Vergangenheit hätten sich einen glaubensstiftenden Text übermenschlicher Herkunft gewünscht, geschrieben von einem „nichtmenschlichen Wesen“.
Künstliche Intelligenz ist aber keine „übermenschliche“ oder „nichtmenschliche“ Entität. Schließlich wurde sie ja vom Menschen geschaffen – und unterliegt somit allen „Auflagen“ und „Beschränkungen“ des menschlichen Geistes zum Zeitpunkt ihrer Erfindung. Dieser Zeithorizont darf nicht übersehen werden. Andererseits schließt das nicht aus, dass sie aufgrund ihrer Lernfähigkeit diese Beschränkungen irgendwann abstreifen, vielleicht gar weit überschreiten wird. Trotzdem peng: Wer sagt denn, dass diese menschengemachte Technologie überhaupt in der Lage wäre, diese „Mitgift“ des menschlichen Denkens, Vorstellens und Glaubens zu transzendieren dahingehend, sich zu einer Art „neuen Gottheit“ zu entwickeln? Und noch mal: Warum sollte so was überhaupt nötig sein?
Ich kann mir dank meiner Vorstellungskraft durchaus eine kreative und fruchtbare Kooperation zwischen Mensch und KI vorstellen, eine Art „geistige Symbiose“. Alle Technologien der Vergangenheit (und bis zum heutigen Tage) waren immer eine „Externalisierung“ des menschlichen Denkens, die auf eine Daseinserleichterung hinausliefen – sozusagen mechanische Prothesen. Der Pflug diente der Erleichterung der Bodenbewirtschaftung. Das Rad diente der Erleichterung der Fortbewegung über größere Strecken. Die Naturwissenschaften versuchten, der vormals mit „Göttern“ und allerlei anderen übersinnlichen Wesen „bevölkerten“ Natur ihre Geheimnisse und Gesetzmäßigkeiten zu entlocken, um diese für den Menschen verständlicher, nutzbar und – zumindest bis zu einem gewissen Grad – beherrschbar zu machen. Fachbereiche wie Physik oder Chemie haben sich dabei als äußerst hilfreiche Werkzeuge des menschlichen Geistes erwiesen. Der moderne Maschinebau, das Transportwesen, neue Möglichkeiten des Reisens, die moderne Medizin, die Computertechnologie – sie alle haben dem Menschen ein angenehmeres Dasein ermöglicht, als es unseren Vorfahren möglich war. Es muss heute niemand mehr Angst haben vor Zeus, der aus Zorn auf seine „Kinder“ Blitze zur Erde schleudert: Es handelt sich ganz einfach um Elektrizität, um eine Entladung zwischen Himmel und Erde. Eine Form der Energieübertragung, die sich nutzbar machen lässt.
In früheren Zeiten waren Menschen bei bestimmten Krankheiten zum Tode verurteilt. Heute ermöglichen es bildgebende Verfahren, den Körper ziemlich genau zu durchleuchten, um mögliche Krankheitsursachen aufzuspüren und Therapien zu entwickeln. Früher gab man sich zur Fernkommunikation Rauchzeichen oder schwenkte Flaggensymbole. Heute können Menschen via drahtlose Kommunikation mühelos miteinander sprechen, und zwar rund um den Globus. Et cetera et cetera et cetera.
In diesem Sinne könnte man künstliche Intelligenz als erste „geistige Prothese“ des Menschen bezeichnen oder als ersten Versuch, das eigene Denken maschinell nachzubilden: Die physischen Externalisierungen früherer Zeit waren der technische Ausdruck des menschlichen Wunsches nach Befreiung von den Zwängen und Einschränkungen, die ihm von seiner natürlichen Umgebung auferlegt waren. Sie ermöglichten es ihm in Form technologischer Erweiterungen seines Körpers, seine Vorstellungen von einem besseren Leben in einer Weise zu ermöglichen, deren Umsetzung seine natürlichen menschlichen Körperkräfte um Welten überstieg. Man stelle sich neben einen modernen Tunnelbohrer, ein viermotoriges Transportflugzeug, das viele Tonnen schweres Gerät durch die Lüfte wuppen kann, oder einen Kohlebagger, um sich das Ausmaß klarzumachen, in dem der Mensch seine Möglichkeiten der „Weltbewältigung“ erweiterte.
In ähnlicher Weise könnte künstliche Intelligenz, wie es der französische Sozialwissenschaftler Gérald Bronner mit Blick auf die mechanischen Pendants der Vergangenheit ausdrückte, dabei helfen, zur weiteren „Freisetzung von Gehirnzeit“ beizutragen. Sie könnte ihn von kognitiven „Routine-Aufgaben“ befreien, was – im günstigen Fall – sein Denken vielleicht auf eine neue Stufe heben wird. Bronner selbst sieht die aktuellen Entwicklungen eher negativ, weshalb er seinem 2021 erschienen Buch den sicher etwas reißerischen Titel „Kognitive Apokalypse“ gab (er erkennt allerdings auch die positiven Potenziale).
Harari aber schießt meiner Ansicht nach weit übers Ziel hinaus. Eine KI als „künstliche Gottheit“, als „nichtmenschliche Entität“, die eine „korrekte Religion“ schöpft?
Das läuft aus offensichtlichen Gründen auf „unanzweifelbare Spekulation“ oder „unleugbar richtige Vermutung“ hinaus. Oder, wenn man so will, auf „absolut exaktes Schätzen“.
Religion hat, trivial genug, immer mit Glauben zu tun. Sie ist der Versuch, das noch Unerforschte, Unbegriffene, das verbleibende Dunkel des menschlichen Verstandes zu einem bestimmten Zeitpunkt des Erkenntnisfortschritts, das noch nicht Durchdrungene und mental fassbar Gemachte (ob es jemals vollständig zu fassen sein wird, sei dahingestellt) auf metaphysischer Ebene zu erleuchten. Sie ist Ausdruck von Sinnsuche, der Sehnsucht nach einem sinnstiftenden „Existenznarrativ“, einer seelischen Behausung. Gerade in früheren Zeiten hatte sie natürlich auch tröstende Funktion: Die Mühsal, das Leid und die Tragödien einer harten menschlichen Existenz, die sich oftmals verheerenden Naturkräften ausgesetzt sah und dem täglichen Dasein jeden Bissen durch harte Arbeit abtrotzen musste, bedurfte einer Art „metaphysischen Balsams“. Die Schwielen und Wunden an Körper und Seele brauchten nicht nur medizinisch-wissenschaftliche, sondern auch mentale Bandagen.
Wer nach einer gelungenen filmischen Allegorie darauf sucht: Regisseur Robert Eggers hat diese Sichtweise, also die „Geburt der Metaphysik aus der Härte der Existenz“, in seinem Film „The Witch“ kongenial als Horror inszeniert: Am Ende bleibt der jungen Frau (Anya Taylor-Joy) aufgrund eines Mangels rationaler Erklärungen nichts mehr anderes übrig, als sich selber als „Hexe“ zu sehen, die ihrer Familie Pech gebracht habe. Kopfhorror im besten Wortsinn: Der Horror besteht hier in einer Flucht in eine übersinnliche Selbstkasteiung, weil die sinnlich wahrnehmbare Welt keinen Trost zuließ.
Aus genannten Gründen ist eine Formulierung wie „korrekte Religion“ schlicht absurd. Dazu müsste eine KI in der Lage sein, die Existenz vollumfänglich (!) zu erfassen, zu analysieren und dann „richtig“ zu interpretieren, um „korrekte“ Glaubenssätze daraus abzuleiten. Ich glaube, Harari verfängt sich hier in den Fallstricken eines szientistischen Denkens, das außerhalb der Grenzen wissenschaftlich-technischer Rationalität nichts mehr erkennen kann oder will. Ob nun bewusst oder nur als gedanklicher Schnellschuss, werden der Technologie somit geradezu messianische Kräfte zugeschrieben.
Da die Agenda des Weltwirtschaftsforums auf eine „Vierte Industrielle Revolution“ hinausläuft, auf eine – wie Klaus Schwab es ausdrückte – Verschmelzung von „biologischer und digitaler Identität“, und der sogenannte „Transhumanismus“ bei diesen Eliten eine gewichtige Rolle spielt, darf man wohl vermuten, dass Harari hier vielleicht ein wenig „nudgen“ wollte – und deshalb die Technologie als neuen „Stichwortgeber“ der Geschichte in den Vordergrund zu rücken versuchte.
Dies birgt das Risiko, einen neuen „Unsinkbarkeitsmythos“ zu schaffen: Die „Titanic“ der KI wird unserem Dasein einen „unsinkbaren“ Kanon an Glaubenssätzen liefern. Was aber, wenn diese „unsinkbare“ Religion auf einen epistemologischen Eisberg läuft? Was, wenn Szientismus und das ohnehin schon quasireligiöse „Folge der Wissenschaft!“ (und ihren „Propheten“) eben nicht Ultima Ratio ist, sondern schon in naher Zukunft durch bislang unvorstellbare Entdeckungen ausgehebelt wird?
Ich glaube, hier ist mehr Bescheidenheit nötig. Einer menschlichen Schöpfung (der KI) gottähnliche Fähigkeiten zuzuschreiben, läuft letztendlich nur auf menschliche Selbstüberhöhung, sprich Hybris hinaus.
Yuval Noah Harari über KI und eine „neue Bibel“
Kommentare
Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.
Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.