Kleine Geschichtsstunde: Erkennungszeichen illegitimer Gesetzgebung
Das Revolutionsgesetz vom 22. Prairial II
von Carlos A. Gebauer (Pausiert)
von Carlos A. Gebauer (Pausiert) drucken
Die französischen Revolutionäre des Jahres 1789 schufen sich bekanntlich schon bald nach dem gewaltsamen Umsturz einen eigenen modernen Kalender, der mit den unerträglichen christlichen Wurzeln der Vergangenheit aufräumte. Zu diesem Kalender gehörte unter anderem, den Monaten neue Namen zu geben und sie an anderen Tagen im Jahr beginnen zu lassen als die herkömmlichen.
In den schönen Wiesenmonat „Prairial“ des Jahres 1794 (das allerdings auch nicht mehr 1794 hieß) fiel der inzwischen wieder sogenannte 10. Juni. Und in der Helligkeit der europäischen langen Tage dieser Periode dekretierte der revolutionäre Nationalkonvent zur Spätphase des blutigen Wirkens von Robespierre sein „Gesetz vom 22. Prairial II“. Es ist auch aus heutiger Sicht lesenswert.
Nach Artikel 4 dieses Gesetzes wurde bestimmt, was der Zweck der Einsetzung eines Revolutionstribunals sei: die Feinde des Volkes zu bestrafen. Die Definition, was ein „Feind des Volkes“ sei, wurde in Artikel 5 nachgeliefert: derjenige, der die öffentliche Freiheit durch Gewalt oder List vernichten wolle.
Der umfänglichste Einzelartikel des Gesetzes war allerdings der sechste. Dort fand sich die begrifflich erweiternde Fiktion, wer ebenfalls als „Feind des Volkes“ zu gelten habe. Wer die Wiedererrichtung des Königtums betrieb oder eine „Verächtlichmachung oder Auflösung des Nationalkonvents und der Republikanischen Revolutionsregierung“ anstrebte, war Feind des Volkes. Gleiches galt für Menschen, die die Lebensmittelversorgung von Paris behinderten oder eine „Teuerung in der Republik auszulösen“ bestrebt waren. Auch ein Verleumden von Patrioten machte den jeweiligen Täter zum Feind des Volkes.
Neben den Tatbeständen der Verächtlichmachung, der Inflationierung oder der Patriotenverleumdung war es auch gefährlich, „Mutlosigkeit zu verbreiten“ oder gar derjenige zu sein, der „falsche Nachrichten ausstreut“. Denn das Volk „zu spalten oder zu verwirren“, kennzeichnete wiederum einen Feind des Volkes. Auch hatte man sich jedweder Tätigkeit zu enthalten, die „die Kraft und Reinheit der revolutionären und republikanischen Prinzipien zu verfälschen oder ihren Fortschritt durch Hetzschriften aufzuhalten“ geeignet war. Man wurde nämlich dadurch zu einem Feind des Volkes. Feinde des Volkes waren auch, wer öffentliches Vermögen vergeudete oder als unehrlicher Lieferant erkannt wurde. Wer ein öffentliches Amt bekleidete und dieses dazu missbrauchte, das Volk zu unterdrücken, war – man ahnt es – Feind des Volkes. Für alle diese Feinde des Volkes gab es nach Artikel 7 des Gesetzes nur eine einzige einheitliche Strafe: den Tod.
Der Präsident, die vier Vizepräsidenten, der öffentliche Ankläger, seine vier Stellvertreter und die zwölf übrigen Richter des Tribunals sowie die 50 zugezogenen Geschworenen standen daher in jedem der Verfahren vor der übersichtlichen Alternative, einen Angeklagten entweder freizusprechen oder ihn zum Tode zu verurteilen. Dies war erkennbar eine gerichtliche Tätigkeit, die hohes Vertrauen und große Sorgfalt erforderte. Artikel 8 des Gesetzes definierte daher, was ein „notwendiges Beweismittel“ war: jede Art von Beweisen, die ihrer Natur nach die Billigung jedes gerecht Denkenden oder vernünftigen Geistes finden könne. Das war wenig bestimmt. Doch auch die sonstigen Verfahrensvorschriften waren eher locker umrissen. Der Prozess bestand in der Anwendung „der einfachen Mittel, die der gesunde Menschenverstand an die Hand gibt“.
Derartigen relaxierten Beweismitteln und einem wenig konkreten Verfahren konnte man zudem sehr schnell ausgesetzt werden. Denn nach Artikel 9 des Gesetzes war jeder Bürger ausdrücklich dazu verpflichtet, Verschwörer vor die Behörden zu bringen, sobald er von einer entsprechenden Tätigkeit erfuhr. Zu Beschleunigungszwecken des Verfahrens bestimmte Artikel 12 des Gesetzes: „Die Formalität des vorangehenden geheimen Verhörs wird als überflüssig abgeschafft.“ Lagen unabhängig von der Zeugenaussage bereits „materielle oder moralische Beweise vor“, um einen Täter zu verurteilen, so erübrigte sich die Zeugenvernehmung nach Artikel 13 vollends, „es sei denn, diese Formalität erscheint notwendig, um Mitschuldige zu entdecken“.
Angesichts der Alternative, entweder freigesprochen oder zum Tode verurteilt zu werden, würde man – unter normalen Umständen – davon ausgehen wollen, dass einem Angeklagten bei derart laxen Beweisregeln und wenig formalen Verfahrensvorschriften wenigstens ein professioneller Fürsprecher zugestanden wurde. Aber nein, Artikel 16 bestimmte: Verschwörer erhalten keine Verteidiger.
War ein Verdächtiger einmal von den hierzu befugten Anklagebehörden (Nationalkonvent, Wohlfahrtsausschuss, Allgemeiner Sicherheitsausschuss, Kommission des Konvents oder öffentliche Ankläger des Revolutionstribunals) vor das Tribunal gebracht worden, lag es nicht mehr in den Händen des Anklägers, einen Verdächtigen dann doch selbst für unschuldig zu befinden. Jeder Fall musste dem Tribunal überstellt werden und die Ankläger konnten Angeklagte „nicht aus eigener Machtvollkommenheit abweisen“ (Artikel 18).
Das Gesetz blieb sieben Wochen in Geltung. Alleine in Paris wurden nach Entscheidung des Tribunals 1.376 Personen mit der Guillotine getötet. Nach dem Tode Robespierres am 28. Juli 1794 wurde das Gesetz dann aufgehoben.
Ist ein solches Gesetz auch heute überhaupt noch lesenswert? Ich denke schon. In einem Rechtsstaat enthält man sich einer Tatbestandsbeschreibung, die so diffus ist, dass ihre Grenzen nicht ansatzweise verlässlich zu erkennen sind. Ob eine Nachricht „falsch“ oder „richtig“ ist, ist eine hochkomplexe Frage, die sich nicht mit „moralischen Beweisen“ kurzerhand bejahen oder verneinen lässt. Zu einem rechtsstaatlichen Verfahren gehört stets ein ordentliches, in Ruhe durchgeführtes Vorgehen. Werden solche elementaren Bausteine vernünftiger Gesetze von einem Gesetzgeber vernachlässigt, ist höchste juristische Wachsamkeit geboten. Gleiches gilt erst recht für die Zuordnung drakonischer Strafen. Werden Bürger zudem zu Helden erklärt, wenn sie tatsächliche oder vermeintliche Verstöße an die Behörden melden, muss man als Bürger skeptisch werden. Anklagebehörden, die kein Recht haben, eine von ihnen selbst erhobene Anklage auch wieder fallen zu lassen, sondern alle Entscheidungen wie in einer prozessualen Einbahnstraße in die Hände eines Gerichtshofes zu legen haben, sind keine unabhängigen Anklagebehörden. Und einem Angeschuldigten die angemessene Verteidigung durch einen Rechtsgelehrten zu versagen, ist schließlich ein untrügliches Indiz für unrechtmäßige Gesetze.
Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich bisweilen. Jedem Juristen steht gut an, immer wieder auch die Rechtsgeschichte zu studieren.
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