Arbeit und Wert – Teil 3: Was ist Arbeit?
Zwangsarbeit ist noch lange nicht überwunden
von Stefan Blankertz
Jeder weiß, was Arbeit ist. Und doch fällt die Antwort auf die Frage, was Arbeit ist, nicht so leicht wie erwartet. Man arbeitet für den Unterhalt, auch wenn die Arbeit gerade keinen Spaß macht. Doch man wähle die Arbeit, die einem Freude bereitet; sonst drohe, so wird einem bei der Berufswahl gesagt, ein klägliches Leben. Nach der Arbeit arbeitet man am Feierabend im Garten. Wer es sich stattdessen im Wohnzimmer gemütlich macht und ein Buch liest, der arbeitet nicht. Auch wer ehrenamtlich arbeitet, arbeitet. Und natürlich fällt im Haushalt jede Menge Arbeit an. Aber wer ins Fitnessstudio geht oder am Wochenende eine Radtour macht, der arbeitet nicht.
Arbeit meint in erster Linie die Erwerbsarbeit, eine Tätigkeit, für die man einen Lohn erhält, mit dem man seinen Unterhalt und eventuell den der Familie bestreitet. In zweiter Linie werden als Arbeit all die anstrengenden Tätigkeiten bezeichnet, die einen zweckrationalen Sinn haben, nämlich etwas schaffen, das einen selbst oder Mitmenschen nützlich ist oder erfreut. Der künftig erreichte Zweck – sei es der Lohn, sei es die geschaffene Sache – hilft über die Phasen der gegenwärtigen Anstrengung hinweg, in denen man lieber nicht weiter tätig sein würde, stünde der Zweck in der eigenen Hierarchie der Werte (Prioritätenliste) nicht höher als das Arbeitsleid. Allerdings: Nach dieser Definition müsste der Besuch im Fitnessstudio dann als Arbeit bezeichnet werden, wenn die körperliche Anstrengung nicht die Befriedigung in sich gewährt, sondern das ferne Ziel der Fitness den augenblicklichen Widerwillen gegen die körperliche Anstrengung überwinden hilft. Man spricht freilich nur augenzwinkernd von der „Arbeit am (eigenen) Körper“.
Die Tatsache der körperlichen Ermüdung und des psychischen Überdrusses lässt auch bei der Arbeit, die unumschränkt Freude bereitet, in gewissem Sinne von Arbeitsleid sprechen: Selbst bei Arbeit, die unumschränkt Freude bereitet, gelangt man an einen Punkt, wo das peinsam wird und vielleicht sogar nicht mehr möglich ist: Die Augen fallen einem buchstäblich zu. Dies ist übrigens bei jeder Tätigkeit so, auch bei solcher Tätigkeit, die normalerweise nicht Arbeit genannt wird, ganz besonders bei anstrengender sportlicher Betätigung oder auch beim Lesen eines Buches.
Der Wert der Arbeit liegt in der Erreichung des Ziels, das heißt der Befriedigung eines Bedürfnisses, das nicht ohne eine Tätigkeit erreicht werden kann; wobei diese Tätigkeit mitunter nicht selber befriedigend, sondern lästig, unangenehm, belastend ist. Ganz allgemein kann man sagen, dass die Ziele entweder dem Unterhalt (der ökonomischen „Reproduktion“) dienen, den grundlegenden Bedürfnissen von Nahrung, Wohnung und Schutz, oder der darüber hinausgehenden Gestaltung des Lebensumfeldes auf eine Weise, die demjenigen, der Arbeit einsetzt, angenehm ist. Die Erreichung des Ziels erfolgt direkt, etwa durch Suche nach oder Anbau von Nahrungsmitteln, oder indirekt durch das Verdienen von Geld, das dann in Lebensmittel und so weiter getauscht werden kann. Um jedes Missverständnis auszuschließen: Nicht die Befriedigung aller Bedürfnisse verlangt den Einsatz von Arbeit; das wichtigste Beispiel dafür ist sicherlich Liebe.
Bis hierher trifft die Definition der Arbeit nur auf solche Tätigkeiten zu, bei der die Frage, ob sie überhaupt begonnen oder ob sie dem Beginn folgend nach einer gewissen Zeit eingestellt werden, im Ermessen des Tätigen, des Arbeitenden liegt. Nun gibt es auch den Fall von Zwangsarbeit. (Ich spreche von Zwangsarbeit, um alle Formen erzwungener Arbeit einzuschließen, da es nicht um die juristischen Feinheiten der Unterschiede zwischen Sklaverei, Leibeigenschaft, Knechtschaft und so weiter gehen soll.) Die Bedingung der Möglichkeit von Zwangsarbeit ist die vollständige Beraubung der individuellen Freiheit sowie die Aneignung einer totalen Kontrolle über den Körper des Zwangsarbeitenden durch denjenigen, der die Arbeit erzwingt. Sofern dieser der Arbeitskraft des Zwangsarbeitenden nicht verlustig gehen will, muss er den Zwangsarbeitenden ernähren und nicht über die Grenze seiner körperlichen (und psychischen) Belastbarkeit hinaus zur Arbeit zwingen. Dem Zwangsarbeitenden bleibt nur noch die Freiheit, die Arbeit unter Inkaufnahme schwerer Strafschmerzen oder gar des eigenen Todes zu verweigern; es sei denn, ihm bietet sich die Chance zur Flucht oder zur Tötung des Peinigers (wenn dieser nicht von einer umfassenderen Instanz – dem Staat oder einer anderen Form einer lokal herrschenden Bande, die ich „Protostaat“ nenne – geschützt wird, sodass Flüchtige schnell gefasst oder der Peiniger schnell ersetzt sowie der Täter bestraft wird).
Auch Zwangsarbeit schafft Werte. Die Werte jedoch werden demjenigen, der sie durch seine Arbeit schafft, zum größten Teil entzogen; der die Zwangsarbeit Erzwingende eignet sie sich an, um ein arbeitsloses Einkommen zu haben. Die Formulierung „arbeitslos“ ist nicht ganz exakt, denn die Erzwingung der Arbeit kostet auch Anstrengung: Aufrechterhaltung der Drohkulisse sowie Anleitung der Arbeit, da Zwangsarbeitende keine innere Motivation zu zielgerichteter Arbeit haben. Die Arbeit des die Zwangsarbeit Erzwingenden ist freilich nicht an der Schaffung der Werte beteiligt, sie ist wertlos. Mehr noch, sie vernichtet Wert, insofern freie Arbeit effizienter wäre. Diese Aussage gilt allerdings nur gesellschaftlich gesehen, nicht aus dem Blickwinkel des die Arbeit Erzwingenden: Zumindest nach seiner subjektiven Kalkulation würde er in freier Kooperation über weniger Werte verfügen als bei Aufrechterhaltung seines Regiments des Zwangs.
In legaler Form kommt Zwangsarbeit heute nicht mehr vor, gehört sie der Vergangenheit an. Nur noch in Räumen, wo Protostaaten den etablierten Staaten die Waage halten, ist sie weiterhin möglich und wird von den etablierten Staaten der organisierten Kriminalität zugeschrieben. Da sie aber keine ideologische Rechtfertigung mehr hinter sich weiß und ihr Beitrag zur Wertschöpfung als eher gering zu veranschlagen ist – auch die organisierte Kriminalität muss heute eher auf freiwillige Kooperation bauen –, brauche ich hier nicht weiter auf sie einzugehen, außer dass sie die genaue Definition dessen, was Arbeit sei, weiter erschwert. Dagegen hat die Behauptung, Erwerbs- oder Lohnarbeit sei auch eine Form des Zwangs, seit rund 200 Jahren Konjunktur.
Eine in vielen Staaten nach wie vor übliche Form der (zeitweiligen) Zwangsarbeit ist der Wehrdienst. Aber auch die Steuerzahlung ist Zwangsarbeit in Teilzeit: Der Staat eignet sich die Produkte von Arbeitsleistung in Form der Konfiszierung eines Teils des eigenommenen Geldes an. Man arbeitet für den Staat, ohne dass ein einvernehmliches Vertragsverhältnis besteht. Der Steuerzahler ist Leibeigener des Staats. Und wie der Leibeigene der Feudalzeit dem Rechtssystem des Feudalherren unterworfen ist, ist es der Steuerzahler der Moderne dem des Staats, dem er gehört.
Das heißt, der Staat maßt sich an, zu definieren, was Zwangsarbeit sei und was nicht: Die von ihm legalisierte Form der Zwangsarbeit wird als solche nicht mehr bezeichnet. Der Staat hat unser Denken kolonialisiert.
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