02. Juli 2023 14:00

Deutschland im Würgegriff Ist die freiheitliche demokratische Grundordnung noch zu retten?

Der Abstieg scheint unausweichlich

von Reinhard Günzel

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Bildquelle: penofoto / Shutterstock Frank-Walter Steinmeier: „Unser“ Präsident …(?)

Er spricht als Präsident gern von „unserer Demokratie“, die es vor ihren Feinden zu schützen gelte, doch er ist nicht mein Präsident: Ich habe ihn nicht gewählt. Und selbst wenn ich ihn als Präsidenten gewollt hätte, hätte ich ihn, genauso wenig wie die überwiegende Mehrheit der Bürger des Landes, des Landes und seiner Bürger, die er repräsentiert, nicht wählen können. Eine direkte Wahl des Präsidenten ist in dieser Demokratie nicht vorgesehen. Vielmehr wird er von einer Versammlung bestimmt, der Bundesversammlung, deren Zusammensetzung Regeln folgt, die sich mir nicht erschließen und über die ich gleichfalls nicht befinden kann.

Das gesamte Verfahren zur Wahl des Präsidenten, angefangen von der Kandidatenaufstellung bis hin zum Wahlakt selbst, ist so angelegt, dass nur Präsident werden kann, wer der Politoligarchie entstammt, fest in ihr verankert ist und deren Vertrauen hat.

Gut, dürfte ich mitbestimmen, wäre mein Abstimmungsbeitrag ja auch nur so etwas mehr als ein Sechzigmillionstel, also sehr gering, nahe null – aber eben nicht null. Doch so, wie es momentan läuft, haben wir alle keinen Einfluss auf die Wahl des Präsidenten.

Dabei ist der Präsident nicht nur so ein bloßer Grüßonkel ohne Macht und Einfluss – keineswegs –, hat er doch eine Reihe von Rechten und Pflichten, die ihm politische Gestaltung gestatten, ganz ohne mitregieren zu müssen. So muss er zwar alle seine Anordnungen und Verfügungen von einem Mitglied der Bundesregierung gegenzeichnen lassen, was schon hart ist und seine Macht begrenzt, doch kann er in Krisenzeiten auch politische Leitentscheidungen treffen oder den Bundestag auflösen – und wann ist schließlich in Deutschland mal keine Krise? Wir wissen doch alle: Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.

Ein wichtiges Machtmittel in der Hand des Präsidenten ist seine Prüfbefugnis für Bundesgesetze, die erst dann in Kraft treten, wenn er sie gezeichnet hat. Und nicht zu vergessen: Er ernennt auch Bundessrichter und -beamte. Kein Wunder, dass das Volk bei der Wahl außen vor gelassen wird – Macht bleibt schließlich Macht.

Der Präsident, der „unsere Demokratie“ vor ihren Feinden schützen will, hat auch ein Buch verfasst, das über 30 Männer und Frauen, „Wegbereiter der deutschen Demokratie“, berichtet, die „sich alle in ihrem Leben mutig und streitbar für Rechte, Freiheit und Demokratie in Deutschland eingesetzt haben. Sie haben die politischen Grundlagen unserer Republik mitgeprägt. Sie verdienen unsere Anerkennung und sind unser Vorbild.“

Unter diesen 30 Wegbereitern finden sich durchaus achtbare Persönlichkeiten wie Georg Forster, Friedrich Schiller oder Wilhelm von Humboldt, dessen Vorschläge zur Bildungsreform, sofern sie überhaupt jemals umgesetzt wurden, neuerdings mehr und mehr verwässert und verworfen werden, was beispielsweise den freien Austausch von Meinungen und Argumenten betrifft. Wussten Sie eigentlich, dass von Humboldt gegen staatliche Bildungssysteme war, die seiner Meinung nach nur angepasste, fügsame Untertanen hervorbringen würden? Von den preußischen Reformern lässt sich allerhand lernen, nicht zuletzt, wie ein durch die Napoleonischen Kriege zerrüttetes Land wieder aufgerichtet und nach vorn gebracht werden konnte.

Nach Meinung des Präsidenten zählen zu den Wegbereitern der deutschen Demokratie, die die politischen Grundlagen unserer Republik mitgeprägt, also „unserer Demokratie“ wichtige Impulse verliehen haben, auch der Philosoph und Ökonom Karl Marx, Rosa Luxemburg und die Kommunistin Clara Zetkin. Rosa Luxemburg könnte man noch durchgehen lassen, wenn man von dem weitverbreiteten Missverständnis ausgeht, dass sie eine Verfechterin von Freiheit und natürlich auch der Meinungsfreiheit gewesen sei, was sie tatsächlich aber überhaupt nicht war, bezog sich doch das berühmte Zitat aus ihrem Briefwechsel mit dem skrupellosen Massenmörder Lenin (wer sich weigert, ist zu erschießen) – das Zitat von der Freiheit der Andersdenkenden – auf die innerparteiliche Demokratie. Worauf denn sonst auch – ein bewaffneter revolutionärer Umsturz auf demokratischem Wege unter Beachtung der Freiheit der Andersdenkenden? Da lacht doch sogar die Antifa.

Was den Philosophen und Ökonomen Marx betrifft, so führten seine ökonomischen Theorien überall dort, wo sie zur Anwendung kamen, nach kurzer Zeit zu einem wirtschaftlichen Abstieg und zur Verarmung weiter Teile der Bevölkerung – ganz anders als der vielgeschmähte Kapitalismus, der immer dort, wo er sich auch nur ein bisschen entfalten durfte, Wohlstand hervorbrachte, der erst ein würdiges Dasein in Freiheit ermöglichte, während Marx’ Apologeten niemals umhinkamen und auch künftig nicht -kommen werden, ihr permanent scheiterndes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem mit Gewalt und Terror aufrechtzuerhalten.

Es stellt sich allerdings die Frage, warum die Linie von Marx über Luxemburg nur bis Clara Zetkin, einer glühenden Verfechterin der „revolutionären Diktatur des Proletariats“, gezogen wurde. Zetkin, Duzfreundin Lenins, ihr „Marxist der Tat“, worin ihr uneingeschränkt zugestimmt werden kann, die Feliks Edmundowitsch nach seinem Tode bescheinigte, dass „Genosse Dzierżyński den Weg für den sozialistischen Aufbau gesäubert habe“, was eine köstliche Umschreibung für dessen revolutionären Terror mit seinen brutalstmöglichen Verhörmethoden, den Vernichtungslagern und Massenerschießungen darstellt – diese Clara Zetkin zählt also auch zu den Wegbereitern der deutschen Demokratie.

Wenn dem so ist, dann stellt sich umgehend die Frage, warum der Präsident denn nicht auch Walter Ulbricht und Erich Honecker in diese Ahnenreihe glühender Demokraten einreihte? Das ist unverzeihlich, denn Clara Zetkin, die seit Gründung der KPD eines ihrer einflussreichsten Mitglieder war, was erst mit ihrem Tode endete, zählte schließlich auch zu den Ikonen der DDR, ebenso wie Rosa Luxemburg. 

Warum so zögerlich oder sind wir noch nicht so weit? Braucht es noch ein wenig Zeit, bis endgültig feststeht, dass Krieg Frieden, Unterdrückung Freiheit, Armut Wohlstand, Parolen nachplappern Meinungsfreiheit und Hunger gelebte Gesundheit und Diktatur ist, und wir somit, frei nach Robespierre, die höchste, die Endform der Demokratie erreicht haben?

Ich bin dem Präsidenten dankbar, sehr dankbar, dankbar bis zum Äußersten für dieses Buch. Ein Buch mit einer klaren, präzisen Botschaft, was eigentlich mit der neuerdings ständig bemühten, aus allen Richtungen auf mich einprasselnden Floskel, mit dem nach der Wahl eines AfD-Landrats sich zum Dauergebrüll steigernden Ruf nach „unserer Demokratie, die wir gegen unsere Feinde verteidigen müssen“, gemeint ist, und ich weiß jetzt auch, wer die Feinde sind, gegen die es in diesem Lande mittlerweile geht. Feinde dieser Demokratie im Selbstverständnis ihres Präsidenten und des polit-medialen Milieus, jener verschworenen und untereinander kreuzweise durch Ämter und Patronagen oligarchisch verwobenen, nahezu durchweg auf Kosten des Steuerzahlers lebenden Gemeinschaft können jedenfalls nicht mehr diejenigen sein, die eine Räterepublik befürworten, wie sie sich Clara Zetkin wünschte, oder gar die, wie Robert Habeck, das „Kommunistische Manifest“ neu denken wollen.

Nein, wer, ausgehend von Karl Marx über Rosa Luxemburg bis Clara Zetkin, diese Verfechter eines übermächtigen, totalitären, omnipotenten und alle Lebensbereiche regulierenden, Privateigentum nach Belieben konfiszierenden, seine Macht gegebenenfalls mit Terror nach innen und außen sichernden Staates zu Wegbereitern der deutschen Demokratie adelt, der hat notgedrungen auch ein klares, leicht zu erkennendes Feindbild, weiß genau, wer die Feinde dieser, seiner Demokratie sind. Es sind all jene, die eine Gesellschaft nur dann für dauerhaft funktionsfähig halten, wenn das Recht auf Privateigentum und die Unverletzlichkeit der Persönlichkeitsrechte garantiert sind. Feinde sind all jene, die sich aus dieser Grundüberzeugung heraus die Freiheit nehmen, staatliche Maßnahmen zu kritisieren oder abzulehnen, die auf ihre Persönlichkeitsrechte pochen, gar noch dafür auf die Straße gehen, also Covidioten, die sich allen Drohungen und Einschüchterungen zum Trotz nicht impfen ließen, Menschen, die immer noch behaupten, es gebe nur zwei biologische Geschlechter, und sich dafür homophob schimpfen lassen müssen, Bürger dieses Landes, die eine grenzenlose Einwanderung in die Sozialsysteme ablehnen und als Nazis oder Rassisten bezeichnet werden, Kritiker der großen Erzählung über den menschengemachten Klimawandel, als Schwurbler abgewertet und ins Lächerliche gezogen, Autofahrer auf dem Weg zur Arbeit, denen wegen des im Auto verbauten Verbrennermotors vorgeworfen wird, keine Solidarität mit dem globalen Süden zu zeigen, und Wähler, die die falsche Partei wählen und die wieder zurückgeholt werden müssen, zurück in das Lager der wahrhaften Demokraten, es sei denn, sie ziehen es vor, dauerhaft den braunen Bodensatz zu geben.

Ganz oben auf der Liste der Demokratiefeinde befindet sich die Partei des „Gott sei bei uns“, behindert und bekämpft mit allen Mitteln, dies- und jenseits der Legalität, eine Partei, die damit leben muss, dass immer wieder gewählte Mandatsträger mit allen rechtlichen und auch mit unlauteren Mitteln daran gehindert werden, ihr Mandat anzutreten. Eine Partei, gegen die die wahrhaften Demokraten aufgerufen sind, eine Brandmauer zu errichten, und zu der erst kürzlich der oberste Verfassungsschützer anmerkte, er sei nicht allein dafür zuständig, die Umfragewerte dieser Partei zu senken.

Das ist in groben Zügen der Kosmos, den das Schlagwort von „unserer Demokratie“ umreißt, eigentlich eine unzulässige Verkürzung, denn die Demokratie an sich ist ohne eine freiheitliche Verfassung kein Garant gegen Totalitarismus, sondern führt vielmehr unweigerlich in denselben. Doch eben diese freiheitliche Verfassung, unser Grundgesetz, wurde in den letzten Jahrzehnten zunehmend entstellt, mit Verboten, Quoten und Zielen überfrachtet, weshalb es immer weniger als Schutz vor einem übergriffigen Staat taugt, dem so immer mehr Kompetenzen zuwachsen, die wiederum von der herrschenden Oligarchie dazu genutzt werden, um ihre Macht weiter zu verfestigen.

Für die freiheitliche demokratische Grundordnung ist dies ein tödlicher Prozess, der hier in Gang gesetzt wurde: Eine Partei, für die momentan jeder fünfte Wähler stimmen würde, wird durch die postulierte Brandmauer ständig vom demokratischen Entscheidungsprozess ausgeschlossen. Nimmt man die Nichtwähler, zu denen etwa jeder vierte Wahlberechtigte zählt, hinzu, führt dies dazu, dass nahezu die Hälfte der deutschen Wähler keinen direkten Einfluss auf die den Parlamenten obliegenden Entscheidungen und auch keinen Zugang zu Führungspositionen der Judikative und Exekutive mehr hat, denn in den Führungsetagen entscheiden Parteibücher über die Karriere.

Das führt unweigerlich zu sich immer mehr steigernden Spannungen in der Gesellschaft, die sich irgendwann entladen müssen – wenn es sein muss durch Gewalt.

Diese von den vereinten Altparteien inszenierte Abgrenzung hat auch zur Folge, dass politisch motivierte Fehlentscheidungen nicht mehr durch eine Opposition korrigiert werden können. Der Abstieg eines solchen Landes ist somit unausweichlich und er wird sich nicht nur auf der gesellschaftlichen Ebene vollziehen – Wirtschaft und Gesellschaft sind immer zwei Seiten ein und derselben Medaille –, sondern es wird unweigerlich auch zum wirtschaftlichen Abstieg und damit zu immer stärkeren Wohlstandsverlusten kommen: ein Prozess, der in Deutschland nicht mehr zu leugnen ist, da allein der Kaufkraftverlust im vergangenen Jahr bei 8,5 Prozent lag.


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