„Vater Staat“: Sind viele Menschen unfähig zur Freiheit?
Über die Infantilisierung der Bürger
von Olivier Kessler
Zunehmend wird in Zweifel gezogen, dass die Menschen ihr Leben eigenverantwortlich führen könnten. Die meisten Menschen seien heute auf den Staat angewiesen – insbesondere in den Bereichen Soziales, Altersvorsorge, Bildung und Gesundheitsversorgung. Doch nur, weil der Staat die Eigenverantwortung der Bürger zunehmend durch seinen Interventionismus und Aktivismus verdrängt, heißt das noch lange nicht, dass die Bürger grundsätzlich nicht dazu in der Lage wären, Eigenverantwortung wahrzunehmen, wenn man sie denn ließe.
„Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es hinaus“, lautet eine bekannte Redensart. Damit könnte man das Verhalten der meisten Menschen beschreiben. Traut ein Firmenchef seinem Angestellten eine Aufgabe zu und gibt diesem freie Hand, so wird Letzterer aller Wahrscheinlichkeit nach dieses Vertrauen mit einer selbständigen und zufriedenstellenden Arbeit quittieren. Ähnliches gilt auch für die Beziehung zwischen Bürger und Staat: Je nachdem, wie die Staatsakteure die Bürger betrachten und behandeln, verhalten sich Letztere auch. Es ist gewissermaßen eine selbsterfüllende Prophezeiung, wenn Politiker behaupten, die Menschen seien zur Freiheit unfähig. Wenn das Leben der Menschen zunehmend staatlich angeleitet und gelenkt wird, weil man nicht mehr die Konsequenzen des eigenen Handelns tragen muss und jedes Risiko auf die Gesellschaft abwälzen kann, verhalten sich die Menschen mehr und mehr so, wie die Politik es ihnen unterstellt: verantwortungs- und rücksichtslos.
Wer ein Leben lang vom Sozialstaat finanziert wird – sprichwörtlich von der Wiege bis zur Bahre –, hat keinen Anreiz zu einer Verhaltensänderung. Es ist auch unwahrscheinlich, dass die Leute mehr Eigenverantwortung wahrzunehmen bereit sind, solange sie bei einem problematischen Verhalten im gesellschaftlichen Leben oder auf dem Arbeitsmarkt keine persönlichen und einschneidenden Konsequenzen zu befürchten haben. Je mehr Leute vom Sozialstaat betreut und versorgt werden, desto größer wird die Menge jener, die nicht in der Lage sind, für sich zu sorgen.
Der täuschende Eindruck, wonach Menschen von Natur aus nicht in der Lage seien, eigenverantwortlich zu leben, hat viel mit der rasanten und massiven Aufblähung des Wohlfahrtsstaates beziehungsweise der Zwangskollektivierung vieler Vorsorge- und Pflegekosten in den letzten Jahrzehnten zu tun. Dies bewirkte einen Paradigmenwechsel beim Menschenbild des Staates. Er behandelt die Bevölkerung nicht mehr wie mündige Bürger, sondern betrachtete diese zunehmend als unmündige Kleinkinder, die es „an die Hand zu nehmen“ gilt. Weil diese angeblich nicht wüssten, was gut für sie selbst sei, hat er es sich zur Aufgabe gesetzt, sie vollumfassend zu betreuen und anzuleiten.
So entstand über die letzten Jahrzehnte nebst der gemütlichen Hängematte des Wohlfahrtsstaats auch ein Nanny-Staat, der seinen Bürgern detailliert vorschreibt, welchen Lifestyle diese pflegen dürfen, welche Getränke noch okay sind und welchen Genussmitteln sie sich besser nicht mehr zuwenden. Dies geschieht manchmal sanft mittels sogenannten „Nudgings“, bei dem der Staat den Bürger in eine gewisse Richtung schubst. Gelingt dies nicht, kann daraus allerdings ein brachialer Rempler in Form gesetzlicher Verbote und entsprechender Strafandrohung werden.
Eines ist klar: Für den heutigen Nanny- und Wohlfahrtsstaat ist der Bürger, so wie er ist, auf jeden Fall nicht in Ordnung. Er wird als mangelhaftes Wesen betrachtet, dem auf keinen Fall zu trauen ist. Beispielhaft kann hier Hillary Clinton zitiert werden, die diese Haltung einmal so auf den Punkt brachte: „We can’t expect our people to do the right choices.“ Das dieser Politik zugrunde liegende Menschenbild ist paternalistisch (oder maternalistisch). Die Würde der Menschen wird damit nicht mehr respektiert. Vielmehr befiehlt der Elternstaat den infantilisierten Bürgern, was sie zu tun haben.
Würde der Staat der Bevölkerung wieder mehr zutrauen, könnte vieles unreguliert und der privaten Vorsorge überlassen bleiben. Erwartet man, dass Menschen ihr Leben selbst in die Hand nehmen, tun sie dies auch in den meisten Fällen, wie wir aus der Psychologie wissen. Zwar machen Menschen auch dann hie und da Fehler und entscheiden sich für weniger optimale Mittel zur Zielerreichung. Doch sie sind dann nicht von Lernprozessen geschützt, weil sie die Konsequenzen ihres eigenen Handelns zu tragen haben. Sie müssen dazulernen, wenn sie nicht immer wieder die gleichen Fehler machen wollen.
Gibt der Staat jedoch zu verstehen, dass er den Bürger paternalistisch begleiten muss, so ist das für Letzteren nicht nur erniedrigend, sondern führt auch dazu, dass er sich bewusst oder unbewusst unmündig verhält. Schreibt der Staat den Bürgern detailliert vor, wie diese zu leben haben; entreißt er ihnen die Verantwortung, sich mit Schwächeren solidarisch zu zeigen, und delegiert diese Kompetenz an einen Sozialstaat; schützt der Staat den Bürger vor jeder potenziellen Fehlentscheidung, wird sich der Einzelne auch nicht mehr risikobewusst verhalten. Er wird sich dann tendenziell weniger fragen, was richtig und wichtig ist, sondern primär darauf achten, auf dem Minenfeld der unzähligen Gesetze und Regulierungen nicht den falschen Schritt zu machen. Er wird sich denken, dass der Sozialstaat sich bereits um seine Vorsorge kümmere und er sich keine Gedanken mehr machen müsse. Andererseits wird er sich auch nicht mehr den Konsequenzen seines Handelns bewusst sein, zumal negative Folgen ohnehin von der Allgemeinheit getragen werden. Die Verantwortungsfähigkeit der Bürger erschlafft bei voranschreitendem Staatswachstum.
Die wachsende Steuerbelastung des Elternstaats beraubt dem infantilisierten Bürger einen beträchtlichen Teil seiner Fähigkeit, für sich und seine Familie frei vorzusorgen. Die Soziallastquote steigt unweigerlich. Unter solchen Umständen wird gelebte Eigenverantwortlichkeit eindeutig schwieriger.
Doch von Natur aus sind die meisten Menschen fähig und willig, Eigenverantwortung wahrzunehmen. Dafür gibt es genügend Belege: Sie entscheiden sich sorgfältig und informiert, welcher Ausbildung oder Arbeit sie nachgehen, welches Auto, Haus und Handy sie kaufen, welche Versicherung sie bei welchem Anbieter abschließen, welche Person sie heiraten und ob sie Kinder bekommen oder nicht. Freiheit bedeutet nicht, dass es nicht möglich wäre, sich gegen Risiken zu versichern oder für die Zukunft vorzusorgen. Im Gegenteil: Eine freie Gesellschaft entwickelt zivilgesellschaftliche und marktwirtschaftliche Mechanismen, um die Auswirkungen unvorhersehbarer Situationen zu mildern.
Die kleine Minderheit von Menschen, die tatsächlich nicht zu eigenverantwortlichem Handeln in der Lage ist, kann problemlos durch zielgerechte karitative Organisationen und dezentrale Strukturen aufgefangen werden. Sie dürfen nicht als Ausrede dafür herhalten, die ganze Gesellschaft in politische Geiselhaft zu nehmen.
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