07. Juli 2023 08:00

Arbeit und Wert – Teil 4 Ist Lohnarbeit Zwang?

Lohn sollte Teil der freien Vereinbarung sein

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Scc.comics / Shutterstock Feudalsystem im Mittelalter: Damals war Zwang tatsächlich an der Tagesordnung

Die Behauptung, dass Erwerbs- oder Lohnarbeit auch eine Form des Zwangs sei, setzt bei der Unterscheidung zwischen Besitzern von Produktionsmitteln und denen von Arbeit an. Die Arbeiter oder, in heutiger Sprechweise, die Arbeitnehmer hätten nichts als ihre Arbeitskraft, sodass sie dazu gezwungen seien, für einen Besitzer von Produktionsmitteln (für Fabrikanten, Unternehmer, kurz: Kapitalisten) zu arbeiten, der sie dafür entlohne, allerdings knapp bemessen, keineswegs in voller Höhe des Wertes, den der Lohnarbeitende schaffe. Damit bestehe zwischen den Besitzern der Produktionsmittel und den auf Lohnarbeit Angewiesenen ein Verhältnis der Erpressung. Dies kann nur durch Streik umgekehrt werden, denn ohne Arbeitskraft sind die Produktionsmittel ihrerseits wertlos.

Für den Unterhalt und darüber hinaus für alles, was das Leben angenehm und schön macht, arbeiten zu müssen, ist eine Naturgegebenheit. Selbst Jäger und Sammler müssen, um etwas essen zu können, eben Tiere jagen und Früchte sammeln, auch wenn sie lieber auf der faulen Haut liegen oder eventuell Jagdszenen an die Höhlenwand malen würden. Man kann dies Zwang nennen, aber es ist ein anderer Begriff des Zwangs, als wenn es darum geht, dass ein Mensch einen anderen Menschen mit der Drohung der Zufügung von körperlichem Schmerz zwingt, für ihn zu arbeiten. In gleicher Weise muss der Bauer pflügen, säen, ernten und dreschen, um über den Winter zu kommen.

Eine Trennung der Produktionsmittel (in diesem Fall: des Bodens) von der Arbeitskraft kommt nun so zustande, dass der Fürst mit seinem schwer bewaffneten und trainierten Ritterheer das ganze Land im Sichtkreis als das seinige reklamiert und jeden, der seinen Acker bestellt, zur Zahlung einer Gebühr zwingt, dafür, dass er die Erlaubnis hat, den Boden, der das Eigentum (oder Lehen) des Fürsten ist, zu nutzen. Dies ist in der Tat ein Verhältnis des Zwangs und der Erpressung. Wir sehen sofort, dass es sich um genau das Verhältnis handelt, dass jeder Staat zu seinen Bürgern etabliert: Steuern sind Raub, sind Zwangsarbeit, auch wenn es dann nicht mehr um den Anteil am geernteten Getreide geht, sondern um einen Prozentsatz vom Lohn oder Einkommen.

Aber dies ist mit der Behauptung, Erwerbs- oder Lohnarbeit sei auch eine Form des Zwangs, gar nicht gemeint. Vielmehr ist die Situation gemeint, dass der Kapitalist die Maschinen besitzt, mit denen der Arbeiter die Werte schafft, aus deren Erlös er dann entlohnt wird, abzüglich dessen, was der Kapitalist für sich behält (auf die Frage der Lohnhöhe komme ich weiter unten zu sprechen). Wie kommt der Kapitalist in den Besitz der Maschinen? Er kann sie sich – außer er ist der Staat oder mit dem Staat verbandelt – nicht wie der Fürst aneignen und jeden anderen, der Maschinen herzustellen bereit und in der Lage ist, daran hindern, das zu tun. Er muss sie entweder selbst hergestellt (also seine Arbeit für sie ausgegeben) oder mit Geld gekauft haben. Das Geld hat er entweder verdient (beziehungsweise geerbt) oder geraubt. Wie auch immer – der Besitzer der Produktionsmittel kann nur entweder durch Arbeit (und sei es die seiner Vorfahren, wenn er Erbe ist) oder durch Raub in ihren Besitz gekommen sein.

Im Gegensatz zu der herrschenden Meinung (Meinung der Herrschenden) vertrat Karl Marx nicht die Auffassung, dass die Besitzer der Produktionsmittel aufgrund von Arbeit und freiwilliger Kooperation in deren Besitz gekommen seien, vielmehr in letzter Instanz durch Raub: Auf der einen Seite steht das durch Raubakkumulation entstandene Kapital, auf der anderen Seite stehen diejenigen, die nichts als ihre Arbeitskraft besitzen und nun gezwungen sind, diese zum Schleuderpreis (niedrigen Lohn) zu verkaufen.

Der Kapitalist unterscheidet sich freilich ganz erheblich von dem Feudalfürsten, und das wusste auch Marx nur zu genau. Der Feudalfürst, der die Bauern für sich schuften ließ, ging davon aus, dass die Bauern wissen, was sie zu tun haben. Auch um die Vermarktung der Produkte brauchte er sich keine Gedanken zu machen; den Anteil, der den Bauern verblieb, verzehrten sie selber, den Rest verzehrten er und sein Hof. Dagegen muss der Kapitalist die Arbeit organisieren, die Arbeiter koordinieren, zusehen, dass die Produkte den Wünschen und Ansprüchen der Kunden entsprechen, sowie dafür sorgen, dass die Produkte auch den Weg zu den Kunden finden. Zudem sind nicht alle Kapitalisten am auf Raubakkumulation beruhenden Kapital beteiligt; ihr Besitz beruht auf Arbeit, der Kombination von Geschick und Kraftanstrengung.

Der Kapitalismus basierte von Anfang an und beruht bis heute auf einem Gemenge zwischen staatlichem Raub – heute meist in Form von Zuwendungen (Subventionen) für favorisierte Unternehmen oder von rechtlichen Privilegien – und freier Vereinbarung. Die Liberalen vergaßen (und vergessen immer noch) den Teil des staatlichen Zwangs. Die Marxisten vergessen sowohl in ihrer revolutionären (bolschewistischen) als auch in ihrer reformistischen (sozialdemokratischen) Variante den Teil der freien Vereinbarung; womit sie die eigentliche Analyse von Marx konterkarierten. Nur die Anarchisten zogen den Schluss, die Kräfte der freien Vereinbarung vom staatlichen Zwang zu befreien. Nach dem Zweiten Weltkrieg vergaßen die Anarchisten die Analyse ihrer Vorväter, wurden zu Marxisten und wollten den Kapitalismus noch radikaler als diese vernichtet sehen. Dies ist eine eigene Geschichte, die ich in dem Buch „Nur ein altmodisches Liebeslied: Glanz & Elend des klassischen Anarchismus“ (2013) nachgezeichnet habe.

Die Antwort auf die Frage, ob Lohnarbeit Zwang sei, lautet mithin: Lohnarbeit stellt nicht per se Zwang dar, sondern ist eine freie Vereinbarung. Sie wird dann (und nur dann) zu Zwang, wenn die Staatsgewalt auf direkte oder heute meist indirekte Weise zur Monopolisierung (genauer gesagt: Oligopolisierung) der Produktionsmittel beiträgt. Eingriffe der Staatsgewalt in die freie Vereinbarung, die angeblich zugunsten der angeblich schwächeren Seite der Vereinbarung erfolgen, wie die Statuierung eines Mindestlohns, schlagen immer in deren Nachteil aus. Sie dürfen nun nicht mehr zu dem Lohn arbeiten, für den jemand bereit ist, sie anzustellen. Weit entfernt davon, dass sie nach Statuierung des Mindestlohns mehr Lohn bekommen, gehen sie nun leer aus. Der Mindestlohn ist weniger ein Zwang gegen die Arbeitgeber als gegen die Arbeitnehmer. Wir werden noch sehen, warum das so ist.


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