19. Juli 2023 08:00

Kultur im Niedergang Entenkükenquaken

Über das Niveau des gesellschaftlichen Diskurses

von Oliver Gorus

von Oliver Gorus drucken

Artikelbild
Bildquelle: thsulemani / Shutterstock Quak: „Ich bin hier, wo bist du?“

Nageln Sie mich nicht fest, ich bin kein Entenforscher, aber so wie ich die Natur der Entenfamilie verstanden habe, haben das Quaken und Schnattern der im Teich schwimmenden Küken und deren vorausschwimmenden Eltern eine ganz bestimmte, überlebenswichtige Funktion. Ja, mag sein, dass die Vögel in Tonhöhe, Frequenz, Lautstärke und Modulation ihrer Quakestimmen noch ganz andere Botschaften hineincodieren, aber im Wesentlichen, da werden Sie mir folgen, bedeutet das „Quak!“ des Kükens: „Ich bin hier, wo bist du?“

Daraufhin entsteht beim Elternvogel ein unwiderstehlicher Reiz, sofort zurückzuquaken: „Ich bin hier, wo bist du?“

Daraufhin quakt ein anderes Küken: „Ich bin hier, wo bist du?“

Und so weiter.

Das Ergebnis ist ein permanentes Geschnatter einerseits und eine zufriedene Entenfamilie, die sich sicher und geborgen fühlt, andererseits.

Ich erzähle das natürlich nicht einfach so, sondern im Sinne einer Analogie: Ich habe in diesen Tagen nämlich mehr oder weniger überrascht bemerkt, dass ein großer Teil der Diskussionen, die sich heutzutage in unserer Gesellschaft abspulen, etwa auf dem Niveau von Entengeschnatter rangiert.

Das gute Küken

Deutlich wurde mir das auf Twitter: Es gibt da eine Sorte Erpel, die nicht drei Tweets in Folge absetzen kann, ohne dabei zu signalisieren, dass sie gegen die AfD ist. Oder gegen Trump, als der noch in aller Munde war. Oder wahlweise gegen Assad, Erdoğan, den Brexit, Le Pen, Orbán, Putin, Salvini, gegen die Schwurbler, Klimaleugner, Impfgegner, Covidioten, Reichelt, Reitschuster, Ganser, Homburg … und überhaupt gegen alles, was rechts ist. Aber vorzugsweise gegen die AfD, weil das wohl alles andere per Konvention inkludiert.

Das treibt irre Blüten. Beispielsweise, als die Berliner Landesregierung den Journalisten Reichelt der Volksverhetzung bezichtigte, ihn anzeigte und juristisch verfolgte, weil denen nicht passt, dass dieser Kritik am Hissen der Regenbogenflagge an Polizeistationen geübt hat. Dass der Staat kritische Journalisten juristisch verfolgt, um sie mundtot zu machen, ist ein Vorgang, der in einem pluralistischen Rechtsstaat wie der Bundesrepublik der ersten 40 Jahre ein Ding der Unmöglichkeit und ein politischer Skandal gewesen wäre. Und zu Recht empörten sich da etliche Twitterer.

Doch ein Quakeküken konnte dem Reiz des „Ich bin hier, wo bist du?“ in so einem Fall nicht widerstehen. Es quakte: „Reichelt ist journalistisch und menschlich ein No-Go!“

Die einzige Funktion eines solchen Tweets, der völlig am Thema vorbeizielt: signalisieren, wo man steht – nämlich diesseits der Brandmauer! Also nicht da, wo die AfD steht und mit ihr das ganze Böse dieser Welt: Putin, Trump, die Verschwörungstheoretiker und all das Gesocks eben.

Das klingt dann zwar so, als sei das Opfer eigentlich der Täter und als sei dessen Verfolgung ganz okay, weil sein Journalismus und sein Charakter ja sowieso nichts taugten – aber hey, das Entscheidende ist ja wohl, dass jetzt jeder weiß, dass das Küken ein gutes Küken ist, weil es auf der richtigen Seite quakt.

Abgrenzungshysterie

Twitter ist aber nur das Hysteriezentrum der Gesellschaft, das Brennglas, unter dem man alle Entwicklungen besonders gut sehen kann. Abseits davon laufen durchaus die gleichen Mechanismen ab. Im Rotary Club zum Beispiel. Ich trug dort vor, wie stark der Vertrauensverlust eines wachsenden Teils der Bürger in die Akteure und Institutionen des Staats mittlerweile ist – unterlegt mit Zahlen von Studien renommierter Meinungsforschungsinstitute, mit einer kurzen Historie der Staatsferne anhand der Stimmen bestimmter Philosophen und mit einem Ausflug in den Libertarismus, einem weißen Fleck auf der inneren Landkarte des handelsüblichen Rotary-Mitglieds.

Das Ergebnis: wildes Geschnatter! Die Mitglieder des Clubs überschlugen sich, ihre Missbilligung mit dem Vortrag und mit dem Vortragenden auszudrücken. Der Staat, das seien doch wir alle und individuelle Freiheit sei Egoismus und wer unzufrieden sei, könne sich doch politisch engagieren, anstatt als Wutbürger rumzupöbeln, und diese Ostdeutschen und diese Reichsbürger und diese Social Media und überhaupt diese AfD (sic!), alles Spinner, außerdem würde das alles doch überhaupt nicht stimmen, die Unzufriedenheit mit der Politik sei ganz normal und habe es immer schon gegeben … und so weiter. Jeder durfte mal „Quak!“ sagen, was nichts anderes bedeutete als: „Ich bin nicht da, wo diese Spinner sind! Ich bin auf der guten Seite! Ich bin ein Staatstreuer!“

Bei Freunden kommt das Gespräch auf den jüngsten Messermord. Reflexartig quakt es: „Aber ich kenne da einen aus Syrien, der arbeitet ganz fleißig.“

Einer kommentiert, dass die AfD eigentlich schon stärkste Kraft in den Umfragen sei, wenn man CDU und CSU getrennt zähle. Reflexartig quakt es: „Löschen Sie den Tweet! Sonst sieht es so aus, als würden Sie sich einen Wahlsieg der Faschisten wünschen!“

Einer freut sich über das schöne Sommerwetter (das dieses Jahr wirklich herausragend schön ist!). Reflexartig quakt es: „Klimaleugner!“

Ich könnte eine endlose Reihe von Beispielen ausführen. Manche Talkshows im Zwangsfernsehen bestehen aus nichts anderem. Der entscheidende Punkt ist für mich dabei aber: Bei all diesen Kükenlauten geht es nie um den eigentlichen Inhalt der ursprünglichen Aussage oder um eine Kritik daran, es gibt niemals ein Interesse an der Auseinandersetzung mit einem Andersmeinenden.

Regression

Nein, bei diesem Geschnatter gibt es keinen inhaltlichen Kern, sondern immer nur die permanente, tägliche, stündliche, minütliche Signalisierung: „Ich bin hier, wo bist du? Ich bin hier bei den Guten! Ich bin nicht da bei den Bösen! Ich bin hier auf der richtigen Seite!“ Alle Aussagen, die dafür herhalten, sind nichts weiter als Anlässe.

Das ganze politische Justemilieu funktioniert so. Das tägliche Geschnatter im Fernsehen, in der „Tagesschau“-Propaganda oder im Tatort, im Radio, in den Zeitungen und das Sekundärgeschnatter in der Gesellschaft über dieses Geschnatter in den Medien – die Inhalte sind in zwei Minuten vergessen, was bleibt, ist: die Selbstvergewisserung. Ah, hier sind alle von uns, hier ist keiner von denen, hier bin ich sicher.

Und wenn einer das Quaken im Teich nicht mitmacht, also nicht permanent signalisiert, dass er für die Guten und gegen die Bösen ist, dann ist der sofort verdächtig: Sie haben sich noch nicht von der AfD distanziert, sind Sie etwa keiner von uns? Sind Sie etwa der gehörnte Bocksbeinige persönlich?

Das Motiv der Zugehörigkeit zur Sippe der guten Wesen ist so stark, dass dieses wohlige Gefühl im Falle der Gesinnungsgeborgenheit respektive dieser hässliche nagende Schmerz der bloßen Vorstellung des Ausgestoßenseins aus der Sippe der guten Wesen jeden Diskurs überlagert und die Leute komplett verdummen lässt.

Demokratie ohne Diskurs ist nun mal Pöbelherrschaft.

Mir kommt es so vor, als seien die westlichen Gesellschaften in den letzten 20 Jahren regrediert, also zurückgefallen in ein Entwicklungsstadium, das sie schon lange überwunden hatten. Eben auf das Niveau von Entenküken.

Nun, vielleicht ist es ja so wie bei den Entwicklungsstadien von Kindern: Vor einem größeren Entwicklungsfortschritt bei den motorischen und kognitiven Fähigkeiten kommt immer erst ein Entwicklungsrückschritt. Kinder entwickeln sich nach dem Muster „ein Schritt zurück und danach zwei Schritt nach vorne“. Als erfahrener Vater kann ich das unterschreiben.

Das wäre meine Hoffnung: Wenn die gegenwärtige Schnatterphase an ihr Ende gekommen ist und die Bürger nach dem Zusammenbruch der Strukturen nicht mehr den Dummen, Unfähigen und Unehrenhaften die Macht geben, wenn sie den Zwangsfunk zum Teufel jagen und wenn sie wieder in sich selbst so viel Sicherheit finden, dass sie nicht mehr dauernd quaken müssen, auf welcher Seite der Gut-böse-Skala sie stehen, sondern sich wieder differenzierter mit Mitbürgern anderer Meinung auseinandersetzen können, dann wird das gesellschaftliche Niveau vielleicht höher sein als jemals zuvor.

Na gut. Vielleicht schafft das nur ein kleiner Teil der Gesellschaft und der größere fällt noch weiter zurück. Vielleicht auf das Niveau der Eloi in „Die Zeitmaschine“ von H. G. Wells. Aber wenigstens für diesen kleinen Teil der Bürger, der das Quaken überwindet und sich wieder füreinander interessiert, wäre das doch schon alle Mühen wert!


Sie schätzen diesen Artikel? Die Freiheitsfunken sollen auch in Zukunft frei zugänglich erscheinen und immer heller und breiter sprühen. Die Sichtbarkeit ohne Bezahlschranken ist uns wichtig. Deshalb sind wir auf Ihre Hilfe angewiesen. Freiheit gibt es nicht geschenkt. Bitte unterstützen Sie unsere Arbeit.

PayPal Überweisung Bitcoin und Monero


Kennen Sie schon unseren Newsletter? Hier geht es zur Anmeldung.

Artikel bewerten

Artikel teilen

Kommentare

Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.

Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.