07. August 2023 18:00

Ideen und ihre Konsequenzen Das Problem mit der Aufklärung

Auf ihren Gedanken beruhende Gesellschaften sind strukturell anfällig für Totalitarismus

von Robert Grözinger

von Robert Grözinger drucken

Artikelbild
Bildquelle: Shutterstock Aufklärung: Wurzel für Totalitarismus?

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sagt wer? Es steht im Grundgesetz. Wer hat es da hineingeschrieben? Der sogenannte Parlamentarische Rat, der sich 1948/49 aus Abordnungen der elf Länderparlamente der „Westzonen“ Deutschlands zusammenstellte. Wer kennt noch die Namen der Teilnehmer? Wohl der Einzige, der einer nennenswerten Zahl an Lesern einfallen wird, ist der Präsident des Rates und spätere erste Bundeskanzler: Konrad Adenauer. Mit welcher Autorität formulierten er und die anderen Teilnehmer die Grundrechte? Sie waren demokratisch gewählte Vertreter des Volkes aus den Länderparlamenten. Gewählt von Leuten, die zu einem nicht unwesentlichen Teil wenige Jahre zuvor noch einem Mann begeistert zugejubelt hatten, der die Würde des Menschen mit Füßen trat und sich dafür nicht nur nicht schämte, sondern sogar als Retter der Nation rühmte und rühmen ließ. 

Die unter Führung dieses Mannes massenhaft vorgenommenen, eklatantesten Gräueltaten und der von ihm katastrophal verlorene Krieg zwangen in Deutschland zu einem Umdenken und zur Besinnung auf Menschenrechte, die zum Teil schon ein Jahrhundert zuvor von der Frankfurter Nationalversammlung beschlossen worden waren.  

Die Grundrechte im Grundgesetz sind, für sich genommen, hehre Ansprüche. Aber: Sind sie, im Hinblick auf ihre langfristige Aufrechterhaltung und Durchsetzung im tagtäglichen Leben, das Papier wert, auf dem sie gedruckt sind? Die Frage zu stellen, besonders heute nach „Corona“, heißt, sie zu beantworten.

Wo kommt die Idee der Grundrechte her? Für die Frankfurter „Grundrechte des deutschen Volkes“ gab es Vorlagen aus anderen Ländern. Etwa die Grundrechtsdokumente wie die englischen „Bill of Rights“ von 1689 sowie die davon beeinflussten, ziemlich genau ein Jahrhundert später formulierten und veröffentlichten amerikanischen „Bill of Rights“; zudem die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in Frankreich. Sie alle gehören zu den wichtigsten Errungenschaften der Aufklärung. Sie sind ein machtvoller Ausfluss des Grundgedankens dieser Philosophie-Strömung, nämlich dass der Mensch mittels seiner Vernunft allein in der Lage ist, eine Rechtsordnung zu schaffen, die den größtmöglichen Frieden und Wohlstand für alle unter dieser Rechtsordnung Lebenden garantiert.

Die seither vergangenen drei Jahrhunderte geben wenig Anlass zur Vermutung, dass dieser Grundgedanke der Realität entspricht. Jedenfalls nicht langfristig. Um zu erkennen, warum das so ist, müssen wir ein wenig in das Welt- und Menschenbild der Aufklärung eintauchen.

Nachdem der Mensch sich, Kant zufolge, aus seiner „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ entlassen zu haben meinte, spaltete sich die Aufklärung in zwei Hauptströmungen auf. Diese beschreibt der amerikanische Historiker, Theologe und Ökonom Gary North in einem – unten verlinkten – Artikel von 2007 als einen „rechten“ und einen „linken“ Flügel der Aufklärung, geographisch repräsentiert durch Schottland und Frankreich. North: „Die französische Version der Aufklärung betrachtete elitäre zentrale Planer als verlässliche Gestalter einer guten Gesellschaft und auch als – mittels Gewalt – verlässliche Umsetzer. Die schottische Version betrachtete die Vernunft als Eigentum des Einzelnen und daher als inhärent dezentralisiert, wobei sich Ideen und Pläne im Wettbewerb auf dem freien Markt ohne private Gewalt und mit sehr wenig staatlicher Gewalt zu bewähren haben.“

Es ist unschwer zu erkennen, dass und warum der Libertarismus den „rechten“, „schottischen“ Flügel der Aufklärung als für ihn wichtigen Einfluss betrachtet. Das Problem für ihn – historisch und institutionell gesehen: Dieser Flügel hatte keinen Bestand.  

Trotz des dominierenden Einflusses des rechten Flügels der Aufklärung auf die amerikanische Revolution setzte bald darauf selbst dort eine Zentralisierungstendenz ein. Angefangen vom „Coup in Philadelphia 1787“ (North), wo Delegationen der amerikanischen, jetzt vom englischen Mutterland unabhängigen Einzelstaaten sich zusammenfanden, um sich eine konföderale, also dezentrale Struktur zu geben. Statt einer solchen hoben sie eine Verfassung mit zentralisierter, bundesstaatlicher Struktur aus der Taufe. Ähnlich lief, und läuft noch immer, die Entstehung der Europäischen Union ab. Die Zentralisierungstendenz jenseits des Atlantiks beschleunigte sich nach dem Bürgerkrieg 1861 bis 1865, dem „New Deal“ und den zwei Weltkriegen. Auch in Brüssel freut man sich über jede Krise, die der EU-Zentrale ermöglichen, sich neue Zuständigkeiten von den Mitgliedsstaaten anzueignen. 

Warum das so ablief und abläuft, und warum es vermutlich unvermeidbar war, liegt an der ungeklärten Frage, wo das Gleichgewicht zwischen den Vielen und dem Einzelnen zu verorten ist. North: „Wie kann die individuelle Freiheit innerhalb des einheitlichen Rahmens des Staates existieren?“ Jean-Jacques Rousseau (1712–1787), Philosoph und Wegbereiter der Französischen Revolution, erklärte den allgemeinen Willen zum Souverän. North dazu: „Aber wer hat die Fähigkeit und das Recht, den allgemeinen Willen in jeder Situation zu interpretieren? Auf welcher Grundlage? Das hat er nie gesagt.“ Dagegen machte der schottische Zollbeamte und Autor des Werks „Der Wohlstand der Nationen“, Adam Smith (1723–1790), den freien Markt zum Souverän, „wenn auch nicht ganz“, wie North betont. Denn: „Wie können die Menschen sicher sein, dass das, was der freie Markt zulässt – Pornografie, Prostitution, Scheidung, Abtreibung, Drogen – nicht die Gesellschaft zerstört? Wer kann das sagen, wenn alle Menschen gleichermaßen souverän sind, sich aber nicht einig sind? Wer entscheidet? Auf welcher moralischen und rechtlichen Grundlage?“

Weder die wenigen angeblich vernunftbegabten Mitglieder der „Eliten“, die den Staat führen, können solch eine Grundlage überzeugend schaffen, denn auch sie sind fehlerbehaftete, imperfekte, in ihrem Wissen begrenzte, oft ihren Emotionen unterworfene Menschen; noch die vielen Individuen im „Markt“ mit ihren unterschiedlichen, oft konträr laufenden Interessen, Voraussetzungen und Vorstellungen von der Zukunft.

Hier aber ist der Grund, weshalb der „linke“ über den „rechten“ Flügel der Aufklärung historisch obsiegte: Die oberste Entscheidungsinstanz der „linken“ Aufklärung – der Staat – ist in der Realität fast unendlich viel größer und mächtiger als die oberste Instanz der „rechten“ Aufklärung – das Individuum. Deshalb ist es nicht überraschend, dass selbst die amerikanische Revolution nach kurzer Zeit auf „links“ und „Zentralisierung“ schaltete. Oder dass in England im Jahr 1694 ausgerechnet der „rechte“ Flügel der Aufklärung die gefährlichste quasistaatliche Institution erfand und errichtete: Die Zentralbank. Deshalb der Verfall selbst „aufgeklärtester“ Nationen wie Deutschland in übelsten Totalitarismus.

Der Staat als oberste Instanz ist der „Gott“ der linken Aufklärung. Er ist für jeden ganz offensichtlich größer und mächtiger als der „Gott“ der rechten Aufklärung, das Individuum oder, hilfsweise, der amorphe, unvorhersehbare Markt. Das einzige stichhaltige Gegenargument der rechten Aufklärung gegen den Staat als Gott ist der Hinweis auf die Fehlerhaftigkeit der ihn lenkenden Menschen – und die Schlussfolgerung, dass es dann besser wäre, durch Dezentralisierung und Individualisierung der Entscheidungsgewalt die Folgewirkungen von Fehlentscheidungen ebenfalls zu dezentralisieren und somit zu minimieren.

Trotz dieser Stichhaltigkeit zieht das Argument aber nicht. Denn die unvermeidbare Tatsache, dass die Weihung einer höchsten Instanz diese vor unserem geistigen Auge in eine gottgleiche Höhe schraubt, verträgt sich konzeptionell nicht mit der Vorstellung einer Fehleranfälligkeit. Dass der Einzelne fehleranfällig ist, weiß jeder aus eigener Erfahrung. Der Staat dagegen hat „Experten“. Mehr noch: „Gremien“. Die wissen besser Bescheid, so die machtvolle Propaganda. Deshalb hat der „linke“ Gott gegenüber dem „rechten“ einen strukturellen Vorteil im Rennen um die Gunst der Menschen respektive seiner Anbetung. Deshalb auch der allgemeine Drang der Eliten heute zur Weltregierung, denn als Weltstaat ist dieser „Gott“ noch ein ganzes Stück größer und mächtiger als der „Gott“ der Nationalstaaten.

Sicher, manchmal schlägt beim Streben zum Weltstaat die „linke“ Aufklärung über die Bresche. Dann holt die Realität die Propaganda ein. Siehe Französische Revolution, siehe Kommunismus, siehe Zweiter Weltkrieg, siehe jetzt. Dann kommt es zu einer Katastrophe oder einem Zusammenbruch, und der „rechte“ Flügel der Aufklärung und die „individuellen“ Menschen und der Markt bekommen wieder eine Chance. Aber, solange der Grundgedanke der Aufklärung von der Gestaltbarkeit der Welt allein durch menschliche Vernunft dominant bleibt, wird der strukturelle „Linksdrall“ der Aufklärung über kurz oder lang wieder dominieren.

Aus den Katastrophen und Zusammenbrüchen der Vergangenheit hat die „linke“ Aufklärung inzwischen eine verhängnisvolle Lehre gezogen: Weil die Menschen aus Sicht der Elite so renitent lernunfähig sind, hat sie die Perfektionierung der menschlichen Gesellschaft aufgegeben zugunsten der Perfektionierung der Natur. Die beschwert sich zwar auch, wenn sie sich malträtiert fühlt. Aber sie wählt die Elite nicht ab. Statt letzterer sind die Leidtragenden ihrer Beschwerden die kleinen Leute. Aus Sicht der Elite eine allumfassend praktische Lösung.

Deshalb schrieb ich auf dieser Plattform vor einigen Wochen, dass wir die Aufklärung „überwinden werden“. Nicht müssen, sondern werden – in Anlehnung an das Wort des amerikanischen Erzlibertären Murray Rothbard (1926–1995), dass wir das 20. Jahrhundert überwinden „werden“. Was nicht heißt, sie „abzuschaffen“. Immerhin verdanken wir dem „rechten“ Flügel der Aufklärung, woran uns North in einem weiteren Artikel erinnert („Neither Aristotle nor Kant“ – siehe Link unten), die Erkenntnis, dass die Wirtschaft das „Ergebnis menschlicher Handlung, nicht aber menschlicher Planung“ ist. 

Die Vernunft ist ohne Zweifel eine unverzichtbare Gabe des Menschen, sich die Welt lebenswerter und angenehmer zu machen. Aber ihre Unterfütterung dessen, was unser Gott ist, muss in der Tat gebrochen werden, wenn die Menschheit eine Zukunft haben will, die nicht in der Dystopie einer totalitär-tyrannischen Welt-un-ordnung final endet.

Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass beide Flügel der Aufklärung jeweils aus einer christlichen Denkschule hervorgingen, wie North weiter ausführt. Er identifiziert die Wurzeln dieser beiden Flügel mit zwei herausragenden christlichen Denkern: Johannes Calvin (1509–1564) und Ignatius Loyola (1491–1556). Der Reformator Calvin entwickelte, so North, eine Lehre von der Kirche, die von unten nach oben ausgerichtet war. Dem protestantischen Reformator zufolge besitzt die örtliche Gemeinde „die initiierende Autorität. Sie stellt ein lokales Gericht dar. Ungelöste Probleme werden an ein höheres Gericht weitergeleitet.“ Daraus sei, so North, der Presbyterianismus entstanden. Übrigens: Das englische, im Mittelalter entstandene, von unten nach oben ausgerichtete „Common Law“-Rechtssystem war ein natürliches Zuhause einer solchen Kirchenstruktur. Der Katholik Loyola dagegen schuf den Jesuitenorden. North: „Er war von oben nach unten ausgerichtet. Der Papst hatte die absolute Autorität über den Orden, aber der Orden unterstand nur dem Papst: Es gab keine zwischengeschalteten institutionellen Behörden (Bischöfe oder Kardinäle).“

Wie North weiter ausführt, wurde die schottische Aufklärung „von liberalen und glaubensabtrünnigen Presbyterianern eingeleitet (zum Beispiel David Hume).“ Die französische Aufklärung dagegen „wurde von Abtrünnigen vorangetrieben, die sich gegen ihre katholische Erziehung auflehnten.“ Also: „Die Aufklärung war eine säkularisierte Version zweier rivalisierender westlicher christlicher Bewegungen.“

Die vom Christentum „abtrünnige“ Aufklärung wird das oben beschriebene Problem, die Spannung zwischen „den Einzelnen und den Vielen“ nicht lösen. Deshalb wird sie überwunden werden. Und zwar von einem Gedanken, der dieses Problem vor Jahrtausenden löste. Indem er nämlich ein Ideal vom Einzelnen definierte, welches für Menschen anzustreben sei, auch wenn es für keinen von ihnen vollständig erreichbar war. Das ideale Verhalten des Einzelnen, welches Frieden unter den Vielen schaffen würde, wurde ebenfalls in einer Art „Grundrechtskatalog“ festgehalten. Er klingt allerdings mehr wie ein „Grundpflichtenkatalog“ – was ehrlicher ist, denn jedes „Recht“ beinhaltet implizit für irgendjemanden eine „Pflicht“. Ich meine natürlich die Zehn Gebote des Alten Testaments und das Ideal des „Ebenbild Gottes“ in der Figur von Jesus Christus. Der Gott dieses Gedankengebäudes steht über jedem, auch den „Experten“ in den vielen Gremien der „Elite“. Entsprechend haben auch sie sich zu verhalten. Das werden sie – oder ihre Nachfolger – irgendwann lernen.    

Die Autoren der Grundrechte im deutschen Grundgesetz sind tot. So auch die Autoren der zuvor niedergeschriebenen Grundrechtskataloge. Interessanterweise ähneln frühe graphische Darstellungen der französischen und amerikanischen Grundrechte unserer Vorstellung von den zwei Tafeln des Dekalogs. Ob der Autor eben jenes „Grundpflichtenkatalogs“ tot ist, steht seit der Aufklärung verstärkt zur Debatte. Jedenfalls: Die Katastrophen, in die sie uns mit unschöner Regelmäßigkeit hineinreißt, dürften uns irgendwann mehrheitlich zur Erkenntnis veranlassen, dass, was auch immer ihr historischer Verdienst, die Götter der Aufklärung keine sind.

Quellen:

Gary North: The Two Wings of the Enlightenment

Gary North: Neither Aristotle nor Kant

Robert Grözinger: Wir werden die Aufklärung überwinden (Freiheitsfunken)


Sie schätzen diesen Artikel? Die Freiheitsfunken sollen auch in Zukunft frei zugänglich erscheinen und immer heller und breiter sprühen. Die Sichtbarkeit ohne Bezahlschranken ist uns wichtig. Deshalb sind wir auf Ihre Hilfe angewiesen. Freiheit gibt es nicht geschenkt. Bitte unterstützen Sie unsere Arbeit.

PayPal Überweisung Bitcoin und Monero


Kennen Sie schon unseren Newsletter? Hier geht es zur Anmeldung.

Artikel bewerten

Artikel teilen

Kommentare

Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.

Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.