09. August 2023 08:00

Berufspolitiker Wenn Karrieren sich verdichten

Schamlosigkeit und Opportunismus auf Kosten der Bürger

von Oliver Gorus

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Bildquelle: penofoto / Shutterstock Cem Özdemir: Ein Paradebeispiel für die vorherrschende Schamlosigkeit auf der Politikbühne

Politiker kennen keine Scham. Diese quälende Empfindung entsteht, wenn man sich eine Blöße gegeben hat, wenn persönliche Verfehlungen öffentlich geworden sind, wenn durch eigene Charakterschwächen begründete Fehler zulasten anderer geschehen sind, wenn man schuldig geworden ist und dadurch mit einem Makel weiterleben muss, wenn jeder die eigene Inkompetenz und Überforderung sehen kann, wenn man angesichts seiner eigenen Ansprüche an sich selbst versagt hat.

Schamgefühl entwickelt nur derjenige, der eine Diskrepanz zwischen dem idealen und dem realen Selbst wahrnimmt, wenn nämlich Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen. Dazu ist es erstens notwendig, überhaupt einen moralischen Anspruch an sich selbst zu haben, und zweitens braucht es eine realistische Selbstwahrnehmung, die anzeigt, ob man diesem Anspruch an sich selbst entspricht oder ob man meilenweit danebenliegt.

Ersteres, der moralische Anspruch an sich selbst, scheint mir in den meisten Fällen derjenigen, die in der Parteikarriere nicht ausgesiebt, sondern nach oben geschwemmt worden sind, bereits gar nicht zu existieren. Da ist das Zweitere, die Selbstwahrnehmung dann schon nicht mehr relevant. Mit anderen Worten: Die spüren gar nichts mehr.

Den ganzen Pomp, den ganzen Lüster, Terrassennacht, den Glamour-Ball

Ich kam darauf, weil ein guter Freund, der in Japan lebt, mir erklärte, wie sehr die japanische Gesellschaft auf Scham gründet und wie sehr diese Kultur ein moralisches Korrektiv bildet, das Verantwortungsübernahme fördert. Während in den schamlos gewordenen Politikerkreisen in unserer Gesellschaft die Verantwortungslosigkeit grassiert.

Schamlosigkeit und Opportunismus gehen Hand in Hand. Das eine ist die Voraussetzung des anderen. Als Beispiel könnte ich nun den schlimmsten Opportunisten der deutschen Politszene heranziehen, aber bei Söder ist das viel zu offensichtlich. Wer gestern den Atomausstieg vehement vorantreiben kann, nur um jetzt die Wiedereinführung der Atomkraft zu fordern, sobald sich der Wind gedreht hat, der ist einfach nicht ernst zu nehmen.

Lassen Sie mich darum Özdemir als nicht ganz so offensichtliches Beispiel nehmen. Er zeigte sich vergangene Woche bei der traditionellen Almbegehung, an der er neben Söder und Aiwanger teilnahm, als Bergbewohner verkleidet zum alpinen Fotoshooting: mit viel zu langer, vollkommen unpraktisch schlotternder Trekkinghose, die im Laufe eines Wanderurlaubs an den Knöcheln in Fetzen gehen würde. Mit Ledergürtel aus dem Breuninger, dem Stuttgarter Kaufhaus, das nur Schwaben kennen. Mit adrettem, aber ungeeignetem Karohemd, das beim Wandern ruckzuck durchgeschwitzt wäre und als klammer Lappen bei frischem Wind oberhalb der Baumgrenze gegen die Rippen klatschen würde. Mit einem grotesken Wanderstab, den er Gandalf dem Grauen entwunden zu haben scheint. Und mit einem nigelnagelneuen lustigen Filzhut.

Nein, so aufgetakelt läuft der normalerweise nicht rum. Oder jedenfalls anders aufgetakelt. Bei einem Foto aus den Anden zeigte er sich auch mal in Poncho, Gletscherbrille und Stroh-Cowboyhut. Bei der Wehrübung für Zivilisten verkleidete er sich in Tarnfleck und Barett. Bei der ganzen Show könnte man glatt vergessen, dass er Stadtbewohner und Wehrdienstverweigerer ist.

Bald wird es düster, dann klappert euch das Leichtmetall

Aber das ist doch alles egal, es geht um Klicks und Follower und Sichtbarkeit, so ein Politiker-Image ist eben nichts weiter als eine einzige Inszenierung. Wer Berufspolitiker ist, hat das entweder kapiert oder er ist weg vom Fenster. Dass Özdemir größten Wert auf sein äußeres Erscheinungsbild legt, fiel schon dem Männermagazin „Men’s Health“ auf, das während seiner ersten Zeit als Bundestagsabgeordneter in den 90ern seine teuren Anzüge lobte.

Leider half ihm das nicht, als öffentlich wurde, dass er vom PR-Berater Hunzinger ein Darlehen in Höhe von 80.000 Deutsche Mark und Geld für PR-Auftritte erhalten hatte. Er war nach seiner Wahl via Parteiliste in den Bundestag 1994 in Schwierigkeiten geraten, weil er offenbar einen Höhenflug erwischt, über seine Verhältnisse gelebt, sein Girokonto überzogen hatte und dann vom Finanzamt mit einer Steuerforderung überrascht wurde. Nicht nur sich selbst hatte er Designeranzüge spendiert: Seinem Vater hatte er ein Auto gekauft, dem grünen Kreisverband Ludwigshafen ein hübsches Büro eingerichtet. Von Geld, das er gar nicht hatte. Die monatlichen 10.366 Mark plus 5.978 Mark allgemeine Kostenpauschale auf Kosten der Steuerzahler hatten ihm nicht gereicht.

Zwar stritt Özdemir ab, sich gegenüber dem Networking-Profi Hunzinger zu einer Gegenleistung verpflichtet zu haben, aber dennoch trat er bei PR-Veranstaltungen von Hunzingers Firma auf.

„Einem Politiker muss klar sein, sobald er sich auf einen Beratervertrag mit Hunzinger einlässt, dass der PR-Mann den Kontakt irgendwann auch nutzen will“, schrieb der „Spiegel“ damals. Dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden Scharping wurde das dann zum Verhängnis, weil er, anders als Fischer, Schlauch, Merz und Kinkel, sein Honorar für Auftritte bei Hunzinger nicht umgehend und ausreichend clever spendete.

Als nicht nur sein Pakt mit dem Hunzinger bekannt wurde, sondern auch die Verwendung von dienstlich erworbenen Flugmeilen fürs private Vergnügen, machte Özdemir 2002 einen schnellen Rückzieher, trieb irgendwie Geld auf, löste das Darlehen ab und gab sein frisches neues Bundestagsmandat und sein Parteiamt als innenpolitischer Sprecher auf.

Das Laub, die Lasten, Abgesänge, Balkons, geranienzerfetzt

Um sich dann sogleich auf die nächste Liste setzen und ins EU-Parlament wählen zu lassen. Denn aus Sicht eines Berufspolitikers ist eine Verfehlung nur dann blöd, wenn sie an die Öffentlichkeit kommt und es ist dann nur eine Frage von Geschick und Connections, ob und wie man seine Berufspolitikerkarriere fortsetzt. Ein Gschmäckle von Käuflichkeit und Korruption? Zweifel an der eigenen persönlichen charakterlichen Eignung für ein öffentliches Amt muss ein Berufspolitiker deswegen noch lange nicht haben. Außerdem sind die Wähler vergesslich.

In den 90ern war er Innenpolitiker, als EU-Politiker war er nun Außenpolitiker, aber das ist doch fast das Gleiche, oder? Das Thema ist egal, Hauptsache es bietet Karrierechancen.

Aber die EU-Politik war wohl nicht sein Ding, da wird man ja auch kaum öffentlich wahrgenommen. Bei der nächsten Bundestagswahl trat er wieder an. Aber er schaffte es nicht, sich gegen innerparteiliche Konkurrenz im Kampf um einen sicheren Listenplatz durchzusetzen und verpasste dadurch das Comeback, nachdem doch eigentlich ausreichend Gras über seine Affäre gewachsen war.

Na gut, dann eben weiter Parteikarriere – Özdemir bewarb sich um die männliche Hälfte des Parteivorsitzes. Er hatte Glück: Sein Gegenkandidat zog aus persönlichen Gründen zurück, und ohne Gegenkandidaten schaffte es Özdemir, neben Roth Parteivorsitzender zu werden.

In den Jahren danach büßten seine Wiederwahlergebnisse immer mehr Prozentpunkte ein, von 88,5 Prozent auf 83,3 Prozent, auf 71,4 Prozent – und dann zog der gewiefte Karrieretaktiker die Notbremse und kandidierte nicht mehr für den Parteivorsitz.

Zwischenzeitlich war er nämlich wieder auf einem sicheren Listenplatz in den Bundestag gewählt worden und wurde 2017 zusammen mit Göring-Eckardt von der Parteibasis zum Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl gekürt. Während der Jamaika-Verhandlungen mit Merkel und Lindner mischte er mit, konnte aber deren Platzen nicht verhindern. Hätte Lindner schon damals lieber falsch regiert, als nicht zu regieren, so wie heute, dann wäre Özdemir wohl Außenminister geworden. So aber übernahm er eben den Vorsitz im Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur. Ist ja auch ganz ähnlich, keine Frage, irgendwas mit Reisen.

Er versuchte dann erfolglos, Fraktionsvorsitzender zu werden. Doch sein großer Triumph folgte 2021, als ihm, getragen von seinem guten Wahlergebnis in Stuttgart-Mitte, seine Partei einen Ministerposten bescherte: Landwirtschaftsminister.

Mit dem Ressort hatte er noch nie etwas zu tun gehabt. Aber egal: Seine Parteikarriere war am Ziel.

Was bist du dann, du Weichgestänge, was hast du seelisch eingesetzt?

So, und jetzt frage ich Sie: Welche Position in einem der vielen Politikfelder, in denen er „mitgemacht“ hat, oder in einem der Ämter, die er „bekleidet“ hat, ist Ihnen in Erinnerung geblieben? Wofür steht Özdemir außer für Personality-PR? Wofür hat er sich eingesetzt, außer für seine Partei- und Berufspolitikerkarriere? Was ist der Inhalt der Marke „Özdemir”?

Ah, doch. An eine Position erinnere ich: Özdemir ist für die Legalisierung des Hanfanbaues. Das ist vermutlich seine Verbindung zur Landwirtschaftspolitik.

Ansonsten gilt: Er ist der Prototyp des Berufspolitikers. Ein kluger Berufspolitiker vertritt immer verlässlich, was gerade Parteilinie ist, damit er auf Listen gewählt wird. Und wenn er dann mal in einem Amt ist, macht er Kompromisse, laviert, um die öffentliche Meinung zu berücksichtigen, und vertritt, was im Mainstream gerade angesagt ist, um sich im Sattel zu halten. Wenn er aber doch mal aus dem Sattel fällt, hat er die Verbindungen und das Netzwerk und die inhaltliche Wendigkeit, um das nächste Pöstchen anzustreben.

Und wenn er auf seine Dauer-PR-Show mit Verkleidung in den sozialen Medien Hohn, Spott und Kritik erntet, dann gibt ihm das nur noch mehr Aufwind und Bestätigung. Denn so einer spürt nichts mehr. Als gelernter Erzieher und Sozialpädagoge ohne Berufserfahrung, mal im einen, mal im anderen, mal im nächsten und dann im abwegigsten Ressort mitzuschwätzen, tangiert keinen inhaltlichen oder moralischen Anspruch, den er an sich selbst hätte, denn da ist keiner.

Scheitern an Affären, Niederlagen oder Inkompetenzen gibt es in dieser Welt nicht. Berufspolitiker merken nicht, wenn sie sich eine Blöße gegeben haben. Es betrifft sie nicht persönlich, wenn persönliche Verfehlungen öffentlich geworden sind. Es ist ihnen einerlei, wenn durch eigene Charakterschwächen begründete Fehler zulasten anderer geschehen sind. Sie spüren keine Schuld und keinen Makel, wenn sie schuldig geworden sind. Sie haben kein quälendes Empfinden, wenn jeder die eigene Inkompetenz und Überforderung sehen kann. Sie verspüren keine Scham.

Wer aber keine Scham kennt, sollte keine Verantwortung tragen.


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