Arbeit und Wert – Teil 9: Kapitalismus abschaffen?
Antikapitalisten vertreten Ausbeuterinteressen
von Stefan Blankertz
In jeder wirklichen oder herbeigeredeten Krise steht angeblich der Kapitalismus auf dem Spiel. Er sei schuld. Es sei an der Zeit, ihn abzuschaffen und zu begraben. Brechen die Finanzmärkte zusammen, ist der Kapitalismus schuld; obwohl es klar ist, dass es die staatlich privilegierten Banken sind, die die Krise verursachen. Werden die Mieten unerschwinglich, ist der Kapitalismus schuld; obwohl es klar ist, dass die staatlich behinderte Bautätigkeit dahintersteht. Gibt es Arbeitslosigkeit, ist der Kapitalismus schuld; obgleich es klar ist, dass die Interventionen der Staatsgewalt in den Arbeitsmarkt ihr Ursprung sind. Gibt es unerträgliche Umweltprobleme, ist der Kapitalismus schuld; obgleich es klar ist, dass die unvollständigen, staatlich beschnittenen Eigentumsrechte sie mit sich bringen. Besonders krass wird die Beschuldigung des Kapitalismus, wenn es um Krieg geht, hinter dem angeblich der Kapitalismus stecke; obwohl er klar ist, dass die Quelle eines jeden Kriegs das Interesse des einen oder anderen Staats ist (meist spiegeln sich im Krieg freilich die Interessen aller am Krieg beteiligten Staaten).
Trotz aller antikapitalistischen Parolen ist der Kapitalismus nicht totzukriegen. Der Kapitalismus lässt sich zwar bis zu einem gewissen Grad unterdrücken, aber nicht wirklich abschaffen. Solange Menschen nicht einzeln in Käfige gesperrt und jeglicher Kommunikation untereinander beraubt sind, werden sie sich bemühen, durch Kooperation und Tausch ihre jeweilige Lage zu verbessern. Jede Behinderung des Tausches und der Kooperation senkt den Wohlstand einer beliebigen Gruppe von Menschen: Diese Behinderungen gehen von Personen aus, die sich der Arbeitsprodukte anderer bedienen wollen, um selber mit weniger oder ganz ohne Anstrengung Wohlstand zu erlangen. Pointiert ausgedrückt: Antikapitalisten vertreten immer Ausbeutungsinteressen.
Allerdings bedürfen die antikapitalistischen Ausbeuter eines funktionierenden Kapitalismus als Grundlage, damit genügend produziert wird, von dem sie partizipieren können. Die Versuche im 20. Jahrhundert, die antikapitalistische Staatsgewalt selber in den Stand zu setzen, die Produktion zu dirigieren, sind gescheitert: Das Versprechen der Staatssozialisten, dass eine durch Befehl und Gewalt gesteuerte Wirtschaft effizienter, gerechter und verschwendungsfreier produziere als der freie Markt des Kapitalismus, hat sich in grausamer Weise als Illusion (oder als Lüge?) herausgestellt. Heute akzeptieren sogar Kommunisten in realpolitischer Hinsicht meist die Notwendigkeit eines intakten Kapitalismus, um genügend Verfügungsmasse zu haben, mit der ihre jeweiligen Projekte finanziert werden können. Der Ruf nach Abschaffung des Kapitalismus ist von Sozialisten und Kommunisten, die immerhin ökonomisch argumentiert haben, übergegangen auf soziale Bewegungen von Bevölkerungsteilen, die keinerlei Verbindung mit der wirtschaftlichen Realität haben, weil sie sich fast vollständig über die Beteiligung an der Beute der Staatsgewalt (vornehm Steuern genannt) finanzieren.
Der Ruf nach Abschaffung des Kapitalismus hält sich im Feuilleton und in verschiedenen sozialen Bewegungen also weiter: Dies hat seinen Grund in dem unbefriedigend gelösten Widerspruch zwischen antikapitalistischer Ideologie und realpolitischer Akzeptanz des Kapitalismus als notwendiger Grundlage für jedwede sinnvolle Wirtschaftsweise. Wenn der Kapitalismus schuld ist an Finanzkrisen, Wohnungskrisen, Umweltkrisen und an Kriegen, dann leuchtet es jenen, die mit dieser Ideologie geimpft worden sind, nicht ein, warum sie ihn weiter dulden sollten. Vor allem dann, wenn die Krisen immer bedrohlicher zu werden scheinen. Warum – so die Überlegung der heutigen Antikapitalisten – nicht mit der Ursache aufräumen, anstatt sich damit zu begnügen, die unheilvollen Wirkungen des Kapitalismus mehr schlecht als recht mit staatlichen Interventionen nachträglich einzudämmen? Unter der Voraussetzung, dass die Schuldzuweisung an den Kapitalismus, die Ursache der Krisen zu sein, richtig ist, leuchtet die Zurückhaltung der Herrschenden, ihn zu liquidieren, tatsächlich nicht ein. Die Herrschenden scheinen einer geheimen Agenda zu folgen. Sind sie in Wahrheit etwa Agenten des Kapitalismus oder besser: des Kapitals, des Großkapitals, der kapitalistischen Konzerne? Zögern sie etwa deshalb damit, den Kapitalismus abzuschaffen?
Die Herrschenden befinden sich hier in einer Klemme. Sie brauchen den Antikapitalismus, um zu verhindern, dass der Kapitalismus nach und nach alle sozialen Funktionen übernimmt und die Herrschenden überflüssig macht. Aber indem sie den Antikapitalismus propagieren, müssen sie sich die Frage der krisengebeutelten Menschen gefallen lassen, warum sie den Kapitalismus, der die Krisen doch verursache, trotzdem weiter gewähren lassen.
Die Hoffnung der Menschen auf die Übermacht, die sie vor allen Krisen schützen werde, ist uralt, sei es der König, der Kaiser, der Führer oder der gewählte Präsident. Die Hoffnung sagt: Mach du es, rette du uns, wir selber fühlen uns zu schwach, es zu tun. Sie realisieren nicht, dass er es war, der ihnen die Kraft raubte, für sich selber einzustehen. Nun lastet die Hoffnung auf ihm, so wie er es geplant hatte. Doch zugleich muss er sie enttäuschen. Er kann (und will!) sie nicht retten. Er kann die Krisen nicht abwenden (auch wenn er es wollte). Was tun? Er braucht einen Feind, der so allmächtig ist, dass selbst er ihn nicht niederringen kann. Da bietet sich ihm der Kapitalismus an. Er ist das Monster, das er zwar einhegen, aber nicht bezwingen kann. Das ist gar nicht weit von der Wahrheit entfernt. Alle glaubwürdigen Lügen müssen sich eng an die Wahrheit halten, sonst lassen sie sich zu leicht durschauen.
Der Kapitalismus realisiert sich unter den widrigsten Umständen, im Gefängnis, im Krieg, in einer Planwirtschaft, in einer durch die Staatsgewalt induzierten Hungersnot, in Märkten, die durch die Staatsgewalt verzerrt und missbraucht werden. Insofern braucht der Kapitalismus keine Theorie und keine Fürsprecher. Der Kapitalismus braucht uns nicht, aber wir brauchen den Kapitalismus.
Jeder, der an einer menschlichen, friedlichen und wohlhabenden Gesellschaft interessiert ist, muss dafür eintreten, den Kapitalismus von den Fesseln der (Staats-) Gewalt zu befreien, damit er Wohlstand, Frieden und Menschlichkeit schaffen kann. Dafür ist nichts weiter notwendig, als den Raum für die freiwillige Kooperation zu vergrößern, so weit zu vergrößern, bis er schließlich den gesamten Platz der (Staats-) Gewalt einnimmt. Es ist keine Planung, keine Behörde, keine Institution notwendig, es ist keine Lösung für alle Probleme notwendig, es ist keine allwissende Elite notwendig: Der Markt ist das Entdeckungsverfahren, das die besten Ergebnisse hervorbringt; der Preis ist das Informationssystem, das über die verfügbaren Ressourcen in Kenntnis setzt. Niemand muss sich aufschwingen, das Ganze zu übersehen; jeder tut an seinem Ort, mit seinen Fähigkeiten das, was er tun kann; die Fähigkeit von keinem geht verloren, jeder ist aufgehoben und hat Anteil an dem Ergebnis. An der Realisierung des alten kommunistischen Traums, jeder möge nach seinen Fähigkeiten geben und nach seinen Bedürfnissen erhalten, reicht der Kapitalismus weitaus näher heran als die stümperhaften Versuche, den Kapitalismus mithilfe von Befehl und Gehorsam abzuschaffen.
Die (Staats-) Gewalt brauchen wir nicht.
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