Öffentlicher Verkehr: Zugfahren macht Spaß!
… in China
von Stephan Unruh
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Schockschwerenot! Heute ist es passiert: Erstmals, seitdem ich wieder in China bin, hatte mein Zug, vom Badeort Qinhuangdao in die Hightech-Mustermetropole Tianjin, Verspätung. Das erste Mal in gut acht Jahren und dann auch gleich noch um fast 15 Minuten … Gut, deutsche Bahnfahrer mögen nun mit den Schultern zucken und anmerken, dass 15 Minuten ziemlich gut sind, eigentlich schon fahrplanmäßig – zumindest, wenn man die Ansprüche, welche die Deutschen Bahn AG an sich selbst hat, zugrunde legt. Aber hier in China sind derartige Verspätungen die Ausnahme, insbesondere bei Langstreckenverbindungen. Zugfahren macht im Reich der Mitte ausgesprochen viel Spaß. Die Züge sind sauber, schnell, sicher, serviceorientiert … und normalerweise sehr, sehr pünktlich.
Als ich vor etwa 20 Jahren in Peking studierte, war das freilich noch anders. Damals war Zugfahren ein einziges Abenteuer, das schon mit dem Ticketkauf begann. Denn die Fahrkarten konnten frühestens drei Tage vor Abfahrt erworben werden und dies auch nur entweder direkt am Bahnhofsschalter des jeweiligen Startbahnhofs oder in bestimmten, dafür ausgewählten Reisebüros. Ob es die Fahrkarten und vor allem die gewünschte Kategorie dann zum entsprechenden Termin noch gab, war alles andere als sicher. Hatte man schließlich eines der heißbegehrten Tickets ergattert, hatte man sich frühzeitig am Bahnhof einzufinden, denn dort herrschte heilloses Chaos.
Nie wusste man ganz genau, wo, wann und wie der Zug halten würde, und natürlich warteten ja noch Tausende weiterer Menschen auf tausend andere Züge (naja, fast zumindest). Die Wartehallen waren erfüllt von den Ausdünstungen zahlloser Körper, von Tabakqualm, Biergeruch, Teedampf und dem ganz speziellen Instantnudelduft – eine ebenso unvergessliche wie unvergleichliche Mischung. Zudem streunerten in den Wartehallen nicht nur Fahrgäste herum. Fliegende Händler, die vom Feuerzeug über Damenbinden und die natürlich unvermeidlichen Instantnudeln bis hin zu Luftballons für die Kleinen alles Notwendige für eine Reise ebenso lautstark wie aggressiv anpriesen, waren ebenso zu finden wie Langfinger, Tagediebe, Nichtsnutze, Bettler und natürlich die allen im Weg stehende Großfamilie, die Onkel Wang und Tante Li am Bahnsteig noch einmal eine gute Reise wünschen wollte …
Auch waren die Züge alles anderes als bequem und schnell. Ich kann mich beispielsweise lebhaft an eine 20-stündige Fahrt im Bummelzug von Qingdao nach Peking (Entfernung vielleicht 700 Kilometer) erinnern, gebucht in einem „Hard sleeper“-Abteil. Ein solches teilten sich sechs Personen, und der persönliche Platz beschränkte sich auf eine Pritsche, die zwar breiter als eine Bierbank, dafür aber genauso hart war. Der Name entsprach also dem Programm. Dafür aber fand man sofort neue Freunde, hatte nach der Fahrt einen „Fetzenrausch im G’sicht“, wie der Bayer sagen würde, und drei bis vier Kilo mehr auf den Rippen. Denn als Ausländer war man damals natürlich eine Sensation und wurde entsprechend zu Schmaus und Trank üppigst eingeladen. Eine bessere Gelegenheit, sein Chinesisch zu üben, gab es kaum.
Heute wird man als Ausländer natürlich immer noch beäugt, aber die überbordende Freundlichkeit, ja Begeisterung ist so nicht mehr gegeben. Nur bei Kindern ruft der Anblick eines Weißbrots nach wie vor ein „Mama, kankan –laowei!“ (Mami, schau mal! Der Ausländer!) und große Augen hervor.
Auch ansonsten ist alles anders: Gebucht wird die Fahrt für erstaunlich kleines Geld online, und papierene Tickets sind nicht mehr nötig: Es wird einfach die ID oder der Reisepass an den elektronisch gesteuerten Durchlässen auf den Scanner gelegt, und schon kann man den Bahnhof betreten. Tatsächlich nur und einzig und allein echte Reisende dürfen heute in die heiligen Hallen. Nach dem Terroranschlag auf dem Bahnhof von Kunming (Höhe- und quasi Endpunkt des mohammedanischen Terrors in China, danach wurde ein Viertel der Uiguren weggesperrt und seitdem hat man weitgehend Ruhe) wurden die Bahnhöfe zu perfekt organisierten und ebenso gut bewachten Hallen der sicheren Reise umgestaltet. Normalerweise werden die Haupteingänge von einigen Soldaten bewacht (nur das Militär darf in China durchgehend Waffen tragen, der normale Polizist ist meist nur mit Taschenlampe, Teekanne und schlimmstenfalls einem Megaphon bewaffnet). Fliegende Händler gibt es also keine mehr, dafür kann man sich bei Starbucks oder McDonald’s noch mit Reiseproviant eindecken. Und wer wie ich ein inzwischen gut integrierter Halbchinese ist, greift Selbigen nur noch schnell am Tresen ab, denn geordert hat man ihn bereits online während der Anfahrt zum Bahnhof mittels MiniApp in WeChat.
Auch auf den Bahnsteigen herrscht kein Chaos mehr. Die meisten Bahnhöfe (also abgesehen von den kleinen Versionen irgendwo auf dem Land) bestehen heute aus drei Ebenen: Auf der obersten Ebene warten die Fahrgäste auf die Züge und werden frühestens zehn Minuten vor Ankunft auf den entsprechenden Bahnsteig gelassen (und kommen dort natürlich auch nur hin, wenn sie tatsächlich eine entsprechende Buchung besitzen), während auf der mittleren Ebene die Gleise liegen, wo also die Züge ankommen. Die aussteigenden Fahrgäste verlassen den Bahnsteig in Richtung unterer Ebene, von wo es dann entweder weiter zu den Parkplätzen, zur angeschlossenen U-Bahn oder zu den Ausgängen und wartenden Taxis geht. Der Strom der Ankommenden und Abfahrenden vermischt sich dadurch nie, wodurch Chaos, Staus und Konfusion gezielt vermieden werden.
Auch im Zug selbst herrscht, anders als früher, kein Chaos mehr, obwohl viele Chinesen notorisch planlos in Sachen „Wo ist mein Sitzplatz?“ sind. Gott sei Dank gibt es aber eine Zugbegleiterin für jeden Waggon, sodass auch Onkel Wang und Tante Li, die nun zum ersten Mal in ihrem Leben im Zug sitzen beziehungsweise noch stehen, schnell geholfen werden kann – im Flieger dauert es deutlich länger, bis jeder an seinem vorgesehenen Platz ist. Reibungslos geht es dann los. Zwischen den jeweiligen Endhaltestellen gibt es meist nur einige wenige Stops (wenn überhaupt), und die Züge sind und bleiben trotz Chinesen an Bord bemerkenswert sauber – weil es nämlich ein bis zwei unermüdliche Ayis gibt, die ruhelos die Gänge auf der Suche nach Müll durchstreifen und natürlich auch sofort zur Stelle sind, wenn Baby TaoTao seine Milch oder Opa LaoYe seinen Ginsengtee verschüttet hat. Das setzt sich auch an der Endstation fort. Unmittelbar nachdem der letzte Fahrgast ausgestiegen ist, entert eine Putzkolonne den Zug. Sie sammelt den verbliebenen Müll ein, dreht die Sitzplätze in die neue Fahrtrichtung und wischt die Gänge gründlich durch, während ein weiteres Team den Zug auch von außen putzt. Unterdessen prüfen Ingenieure die Oberleitungsverbindungen, die Räder und was es sonst noch so zu überprüfen gibt. 20 bis 30 Minuten später geht es dann wieder mit 300 Stundenkilometern zurück in die Richtung, aus der der Zuge eben noch gekommen war.
Die Geschwindigkeit ist dann noch einmal ein Thema für sich. In die rund 700 Kilometer entfernte Kleinstadt mit irgendwas zwischen fünf und sieben Millionen Einwohnern nahe der vietnamesischen Grenze, die zufälligerweise auch der Geburtsort meiner Frau ist, geht es in zweieinhalb Stunden. Ins 170 Kilometer entfernte Hongkong pendele ich mit dem Zug vom Südbahnhof in knapp 40 Minuten, und dank Hong Kong Residency und e-Channel-Registrierung auf beiden Seiten der Grenze bin ich so in rund einer Stunde in meinem Hongkonger Büro in Kowloon – in die knapp 20 Kilometer entfernte Guangzhouer Innenstadt brauche ich mit dem Auto meist nur unwesentlich länger.
Ja, Zugfahren in China macht Spaß. Heute wie damals übrigens, wenn auch auf völlig andere Art und Weise.
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