18. August 2023 08:00

Staatsentstehung und -entwicklung – Teil 1 Widerstand als primäre Verhaltensweise

Die Ur-Anarchie

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Yitzilitt / Wikimedia Legendärer König Salomon: Berühmt für seine weisen richterlichen Entscheidungen

Die menschliche Gesellschaft war nicht immer einer Staatsgewalt unterworfen – und sie ist es nach wie vor nicht vollständig. In dieser Serie beschreibe ich meine allgemeine Theorie der Entstehung und Entwicklung des Staats, wie sie sich in über 50-jähriger Forschungs- und Denkarbeit herauskristallisierte.

Die Formulierung, es ginge um die Staatsentstehung, setzt eines voraus, nämlich dass der Staat entstanden sei. Wenn er entstanden ist, muss es in einer Zeit davor Gesellschaften ohne Staat gegeben haben. Dies war die Zeit der Ur-Anarchie. Obwohl sie in grauer Vorzeit liegt, einer Zeit mit geringem Geschichtsbewusstsein und ohne Geschichtsschreibung, wissen wir eine Menge über sie, denn bis weit ins 20 Jahrhundert gab es noch Gesellschaften ohne Staat. Überreste sind auch heute noch vorhanden, allerdings sind diese letzten Reste solcher Gesellschaften an den Rand gedrängt und von Staaten umgeben, die sie ständig bedrohen und in sie hineinregieren. Ein wichtiges indirektes Zeugnis enthält die Thora beziehungsweise das Alte Testament der Bibel mit den Erzählungen über das Israel der Richter vor dem Königtum. Diese Erzählungen sind vom Standpunkt eines durchgesetzten Staats (Königtums) aus geschrieben, enthalten aber wichtige Hinweise auf die Funktion der Ur-Anarchie.

So wird von dem legendären König Salomon und seinen Urteilen gesprochen. Ein salomonisches Urteil umweht noch heute der Wind der geheimnisvollen Weisheit. Zwar war Salomon schon ein König (genauer gesagt: der dritte König), doch entsprach er noch dem vor-staatlichen Ideal eines (Friedens-) Richters. Ein Richter, der keine Staatsgewalt im Rücken hat, kann einen Konflikt nur lösen, indem er die gegnerischen Parteien zu einer Einigung bewegt. Da er Konfliktparteien auch nicht zwingen kann, sich an ihn zu wenden, muss er darüber hinaus einen Ruf aufbauen, Konflikte gekonnt zu schlichten.

Warum wenden Konfliktparteien sich in der Ur-Anarchie überhaupt an einen Richter? Die wesentliche Strukturierung der Gesellschaft in der Ur-Anarchie ist die der Familie. Die Familie ist eine politische, keine biologische Struktur: Personen ohne genügend Familienbande suchen sich Familien, die sie adoptieren. Diese Strukturierung wird in der Ethnologie „segmentär“ genannt: Die gesellschaftliche Strukturierung besteht aus gleichrangigen Teilen statt einer Über- und Unterordnung (Hierarchie). Das Grundgesetz der segmentären Gesellschaft ist der verwandtschaftliche Beistand: Gerät ein Mensch in Not, in Gefahr oder in einen Konflikt mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft, sind die jeweils nächsten Verwandten verpflichtet, ihm zu helfen.

Bei zwischenmenschlichen Konflikten erstreckt sich die Verpflichtung zum verwandtschaftlichen Beistand freilich ausschließlich auf den Fall, dass der Verwandte angegriffen wird, dass ihm jemand schadet oder dass er auf irgendeine Weise zu unterliegen droht. Bei aggressiven Akten kann er nicht mit Beistand rechnen. Der Mechanismus dahinter ist so simpel wie wirkungsvoll (immerhin hat er für weit mehr als 10.000 Jahre die Entstehung eines Staats verhindert): Da in segmentären Gesellschaften alle mit allen näher oder ferner verwandt sind, kommen in einem Konflikt dem Unterliegenden so viele Verwandte zu Hilfe, bis er seinem Kontrahenten ebenbürtig ist. Daraus resultiert ein homöostatisches Verhältnis, das in der Ethnologie „segmentäre Opposition“ genannt wird: Keinem Segment kann es gelingen, andere Segmente zu unterjochen. Derart strukturierte Gesellschaften ohne Staat sind ein verwandtschaftliches Netzwerk ohne Zentrum im Sinne einer herrschaftlichen Instanz – wohlgemerkt aber nicht ohne Autorität. Autorität entsteht aus der Anerkennung von überlegener Kompetenz, etwa derjenigen eines (Friedens-) Richters, Streit schlichten zu können. In der Ethnologie wird dieses Phänomen „Akephalie“ (Zentrumslosigkeit) genannt.

Aufgrund dieser Unmöglichkeit der Errichtung einer Staatsgewalt bietet es sich an, Konflikte von vornherein vor einer Schichtungsinstanz zu verhandeln und einvernehmlich beizulegen: Das sind die erwähnten (Friedens-) Richter, denen keine andere Macht eignet als die der Weisheit ihrer Urteile. Der (Friedens-) Richter ist eine Autorität – jemand, dem man etwas zutraut und dem man freiwillig folgt – und kein Herrscher, also jemand, vor dem man Angst hat und dem man folgt, um seiner Gewalt zu entgehen. In gewisser Weise prägt das Recht der Ur-Anarchie bis heute das Rechtsempfinden (fast) aller Menschen, wenn sie nicht innerhalb der Strukturen der Staatsgewalt, sondern in freiwilligen Zusammenhängen handeln.

Die Gesellschaften der Ur-Anarchie rund um den Globus kennzeichnen sehr verschiedene Kulturen, Sitten, Rituale und unterschiedliche Niveaus von gegenseitiger Aggressivität, aber die beiden Kennzeichen von segmentärer Strukturierung und verwandtschaftlicher Beistandsverpflichtung, die in einem System der homöostatischen Opposition mit Tendenz zur einvernehmlichen Schlichtung von Konflikten resultiert, sind allen gleich. Der Radikalliberale unter den Gründungsvätern der USA, Thomas Jefferson, war voller Bewunderung für die gesellschaftliche Ordnung unter den Indianern, die er für vorbildlich und erstrebenswert erklärte.

Es ist ganz wichtig zu betonen, dass die Menschen der Ur-Anarchie keine anderen Menschen waren als die Menschen späterer Zeiten oder heute: Sie sind ebenso von der Leidenschaft gekennzeichnet, Einfluss und Macht haben und akkumulieren zu wollen. Es ist die Einrichtung ihrer Gesellschaft, die sie daran hindert, dass daraus eine stabile herrschaftliche Organisation entsteht. Widerstand (gegen die Staatsentstehung) sei, so sagte mein akademischer Lehrer, der Ethnologe Christian Sigrist, dem ich hier folge, paradoxerweise eine primäre Verhaltensweise: Widerstand gegen die Staatsentstehung ist älter als der Staat.

Die Menschen der Ur-Anarchie waren keine anderen Menschen als die aus späteren Zeiten oder die von heute, und ihre Gesellschaft war kein allgewaltiger Herrscher mit Gemeineigentum ohne Individualität, wie es (positiv beurteilt) der marxistische Kommunismus und (negativ beurteilt) liberale Autoren behaupteten. Es gibt keine späteren Gesellschaften, in denen das Eigentum so unantastbar war wie in der Ur-Anarchie. Und wenn die Familienbande für jemanden zu eng, die ihr vorstehenden Autoritäten (Ältesten) zu wenig umsichtig waren, dann spaltete sich die Familie. Es galt hier also ein Sezessionsrecht: Wie hätte der infrage stehende Älteste die Sezession ohne Verfügung über Staatsgewalt – oder ethnologisch ausgedrückt: ohne „Erzwingungsstab“ – verhindern können? Dem, der sich abspalten wollte, kamen jeweils so viele andere Verwandte zu Hilfe, bis er sich gegen seinen Ältesten durchsetzen konnte (wenn dieser nicht weise genug war, ihn ziehen zu lassen – was die Regel war). Sezessionsrecht ist gewissermaßen ein weiteres Grundprinzip der Ur-Anarchie.

Was ist von der Ur-Anarchie geblieben? Eine ganze Menge. Die Pflicht zur Solidarität mit Verwandten und Freunden gilt nach wie vor als Grundsäule aller Moral; sie erstreckt sich auf die Abwendung von Not und Abwehr von Angriffen, nicht auf die Begehung solcher Angriffe. Das Prinzip der Schlichtung und einvernehmlichen Lösung mit Vorrang auf Wiedergutmachung von zugefügten Schäden ist weiterhin das Ideal aller gesellschaftlichen Konfliktregulierung. Die Sezession ist das natürliche Verhalten bei Unzufriedenheit in freiwilligen Gruppen, seien diese die Familie, der Freundeskreis, ein Verein, eine Organisation, eine Firma oder was auch immer. Und schließlich ist den Menschen trotz aller Unterdrückung und Manipulation der Widerstand gegen Herrschaft nicht ausgetrieben worden.


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