Geldpolitik: Gibt es ein objektives Maß der Preisinflation?
Über den Einfluss von Substitutionseffekten
von Karl-Friedrich Israel (Pausiert)
von Karl-Friedrich Israel (Pausiert) drucken
Das erklärte Ziel der Geldpolitik im Euro-Raum ist eine Inflationsrate von durchschnittlich zwei Prozent pro Jahr über die mittlere Frist. Das gängige Maß ist der sogenannte Harmonisierte Verbraucherpreisindex (HVPI), der nach einheitlichen Standards in allen Ländern der EU monatlich berechnet wird. Aber führen diese Standards wirklich zu einer objektiven Inflationsrate? Mitnichten. Es kann gar keine objektive Bewertung der Preisinflation geben.
Dies liegt nicht nur daran, dass Menschen unterschiedlich sind und für jeden ein individualisiertes, am eigenen Kaufverhalten orientiertes Inflationsmaß berechnet werden müsste. Selbst für eine einzige Person können wir nicht einwandfrei eine objektive Inflationsrate ermitteln. Das liegt daran, dass sich das Kaufverhalten jeder Person über die Zeit hinweg ändert. Ökonomen sprechen hier von Substitutionseffekten.
Wenn sich der gekaufte Warenkorb über die Zeit hinweg ändert, stellt sich die Frage, welche Auswahl an Gütern und Dienstleistungen für die Inflationsberechnung eine relevante Grundlage liefern kann. Stellen Sie sich die Inflationsmessung von einem Geschäftsjahr auf das nächste vor. Sollte man sich auf den Warenkorb des ersten Jahres oder lieber auf den Warenkorb des zweiten Jahres stützen? Im ersten Fall würde man den sogenannten Laspeyres-Index berechnen. Im zweiten Fall handelt es sich um den Paasche-Index. Beide liefern unterschiedliche Ergebnisse, und es gibt keine zwingenden Gründe, den einen oder anderen Index zu bevorzugen.
Der berühmte amerikanische Ökonom Irving Fisher schlug deshalb vor, einfach den geometrischen Durchschnitt beider Indizes zu berechnen. Daraus ergibt sich der sogenannte Fisher-Index. Aber auch dieser liefert kein objektives Maß der Inflation.
Die Grundproblematik kann an einem einfachen Zahlenbeispiel veranschaulicht werden. Stellen Sie sich ein Szenario mit zwei Gütern vor: Kalbsmedaillons und Tofu-Sticks. Nehmen wir an, dass der Preis von Kalbsmedaillons von einem Jahr auf das nächste um 25 Prozent gestiegen ist, jener von Tofu-Sticks aber nur um fünf Prozent. Wie sollte man diese unterschiedlichen Teuerungsraten gewichten? Der einfache arithmetische Durchschnitt ergibt eine Inflation von 15 Prozent. Aber sollten diese Güter überhaupt gleich gewichtet werden? Nicht unbedingt.
Stellen Sie sich vor, dass für einen Konsumenten im ersten Jahr anteilig 50 Prozent der Gesamtausgaben auf Kalbsmedaillons und 50 Prozent auf Tofu-Sticks entfallen. Dann würde der Laspeyres-Index tatsächlich beide Güter gleich gewichten und eine Inflationsrate von 15 Prozent ausweisen.
Üblicherweise führt eine heterogene Preisinflation bei verschiedenen Produkten jedoch zu Veränderungen im Konsumverhalten. Stellen Sie sich vor, dass sich im zweiten Jahr die Konsumausgaben nicht mehr gleichmäßig auf beide Produkte verteilen, sondern stattdessen nur noch 20 Prozent für Kalbsmedaillons und 80 Prozent für Tofu-Sticks ausgegeben werden. Mit den anteiligen Ausgaben des zweiten Jahres ergibt sich also eine gewichtete Durchschnittsinflation von lediglich neun Prozent (0,2*25 % + 0,8*5 %). Der Paasche-Index weist also eine deutlich niedrigere Preisinflation als der Laspeyres-Index aus.
Der Fisher-Index schießt genau dazwischen und würde eine Preisinflation von zwölf Prozent ausweisen – genau gesagt 11,9598 Prozent, denn es handelt sich um den geometrischen Durchschnitt, der immer leicht unter dem arithmetischen Durchschnitt liegt.
Es lässt sich nicht einwandfrei sagen, welches Maß das richtige ist. Es kommt auf die zugrunde liegenden subjektiven Bewertungen des Konsumenten an. Im Grunde stellt sich bei der Inflationsmessung nämlich die Frage, um wie viel sich ein gegebenes Niveau der Bedürfnisbefriedigung beziehungsweise ein gegebener Lebensstandard verteuert hat.
Man müsste also herausfinden, ob die Güterbündel aus dem ersten und zweiten Jahr aus Sicht des Konsumenten gleichwertig sind oder nicht. Um das Güterbündel aus dem ersten Jahr auch im zweiten Jahr zu kaufen, müsste der Konsument 15 Prozent mehr Geld ausgeben. Er entscheidet sich in unserem Szenario allerdings für das Güterbündel, das im Preis nur um neun Prozent gestiegen ist. Wenn diese neue Kombination aus Kalbsmedaillons und Tofu-Sticks die Bedürfnisse des Konsumenten genauso gut befriedigt wie die alte, dann kostet die gleiche Bedürfnisbefriedigung in der Tat nur neun Prozent mehr. Der Paasche-Index, der neun Prozent Preisinflation ausweist, wäre das richtige Maß.
Wenn der Konsument allerdings die erste Kombination intrinsisch bevorzugt und die zweite nur deshalb kauft, weil sie nicht ganz so teuer geworden ist, dann geht die Veränderung im Kaufverhalten mit einem Verlust an Bedürfnisbefriedigung einher, und die neun Prozent würden die eigentliche Teuerungsrate unterschätzen. Bei einem konstanten Einkommen über die Zeit ist dies bei generell steigenden Preisen der Normalfall: Der Konsument muss sich mit minderwertigen Güterkombinationen begnügen, was er nur deshalb tut, weil er die Kostensteigerung dadurch relativ gering halten kann
Genau diese Beobachtung veranlasste die Boskin-Kommission in den USA Mitte der 1990er Jahre dazu, eine Veränderung in der Berechnung der gängigen Preisindizes vorzuschlagen, die sich in den USA und auch in Europa bis heute durchgesetzt hat. Man argumentierte, dass die Veränderungen im Konsumverhalten dazu führen, dass die Konsumenten die stark verteuerten Produkte gar nicht mehr in dem Umfang kaufen wie zuvor und stattdessen auf günstigere Alternativen ausweichen. Deshalb müsse man die Gewichtungen regelmäßig anpassen, um die Inflation nicht zu überschätzen – ganz nach dem Motto: Wenn die stark verteuerten Produkte weniger nachgefragt würden, seien sie ja auch nicht mehr so relevant für die Konsumenten und die Inflationsmessung.
Statt den Warenkorb über relativ lange Zeiträume (fünf Jahre) konstant zu halten, aktualisiert man ihn nun jedes Jahr. Dynamisch betrachtet, hat man den HVPI, der im Ursprung eine Art Laspeyres-Index war, damit näher an den Paasche-Index herangerückt. Dies führt generell dazu, dass die geschätzten Inflationsraten niedriger ausfallen als zuvor.
Ob diese Veränderung zu einem besseren Inflationsmaß führt, lässt sich nicht objektiv sagen. Klar ist, dass die Veränderung im Interesse der Politik liegt. Die Änderungen in der Berechnung der Inflation haben insbesondere der Geldpolitik einen Grund geliefert, um die Geldmenge noch stärker auszuweiten. Hätte man seit der Finanzkrise 2008 eine höhere Inflation ausgewiesen, was nach den alten Berechnungsstandards der Fall gewesen wäre, hätte die Geldmengenexpansion früher eingeschränkt werden müssen. Die hohe Inflation der vergangenen Monate wäre deutlich niedriger ausgefallen und den durchschnittlichen Haushalten wäre einiges erspart geblieben.
In jedem Falle ist es problematisch, dass eine so schwammige Größe wie die Preisinflation, die objektiv gar nicht erfasst werden kann, zum Gradmesser der Geldpolitik erklärt wird. Was ist das Zwei-Prozent-Ziel wert, wenn zwei Prozent Preisinflation keine objektive Bedeutung haben?
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