Politik: Rechtfertigung von Pandemie-Maßnahmen – Teil 2
Libertäre Gerechtigkeitstheorie unter idealisierten und nicht idealisierten Bedingungen
von Karl-Friedrich Israel (Pausiert)
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Vergangene Woche habe ich dargelegt, dass sich staatliche Pandemie-Maßnahmen vom Standpunkt einer nicht idealisierten libertären Gerechtigkeitstheorie unter bestimmten Bedingungen prinzipiell rechtfertigen lassen, obgleich sie ganz anders hätten ausgestaltet werden müssen, als es in vielen Ländern der Fall gewesen war. Es wurde unterstrichen, dass sich derartige Maßnahmen nur auf den sogenannten öffentlichen Raum beschränken sollten. Sie dürfen das Privateigentum nicht weiter beschneiden. Der öffentliche Raum wiederum kann unterteilt werden in einen „essenziellen“ und einen „nicht essenziellen“ öffentlichen Raum, wobei der Übergang zwischen beiden Teilen durchaus fließend sein kann. Den essenziellen öffentlichen Raum müssen Menschen auch gegen ihren Willen betreten, wie zum Beispiel ein Bürger, der sich beim Amt melden muss. Der nicht essenzielle öffentliche Raum muss von niemandem gegen seinen Willen betreten werden. Beispiele wären öffentliche Wälder oder Strände.
Die Anforderungen an Eingriffe in den nicht essenziellen öffentlichen Raum sind sehr viel strikter, denn jeder, der sich in diesen Raum begibt, tut es freiwillig und nimmt alle damit einhergehenden Risiken aus freien Stücken auf sich. Es besteht hier ein sehr viel geringerer Bedarf nach Staatseingriffen, wenn überhaupt. In den essenziellen öffentlichen Raum werden Menschen allerdings gegen ihren Willen gezwungen. Sie nehmen die damit einhergehenden Risiken nicht freiwillig auf sich. Sie können in diesen Fällen ihre Handlungen nicht an der eigenen Risikoabwägung ausrichten, sondern müssen unter Umständen Risiken in Kauf nehmen, die sie eigentlich nicht in Kauf nehmen wollen. Deshalb besteht hier ein potenziell größerer Handlungsbedarf.
Wie genau sollten diese Eingriffe nun aussehen? Dies kann die libertäre Gerechtigkeitstheorie nicht sagen, denn sie kann ja auch nicht sagen, wie genau ein Privateigentümer sein Eigentum verwalten sollte. Es kommt eben auf die subjektiven Einschätzungen der relevanten Akteure an. Die libertäre Gerechtigkeitstheorie kann aber einige mehr oder weniger abstrakte Grundsätze ausformulieren.
Im Falle der Regulierung des öffentlichen Raumes kommt es ebenfalls auf subjektive Einschätzungen und Präferenzen an, nämlich zuvorderst jene der Steuerzahler, die die Schaffung und den Erhalt des öffentlichen Raumes finanzieren. Ihre Einschätzungen müssen wie in anderen kollektiven Entscheidungsproblemen zusammengeführt und zu einem Kompromiss gebracht werden. Je dezentraler diese Entscheidungsprobleme angegangen werden, desto größer sind die Möglichkeit und die Wahrscheinlichkeit, den heterogenen Bedürfnissen der relevanten Akteure gerecht zu werden.
Deshalb sollte das Subsidiaritätsprinzip eingehalten werden. Die Zugangsregulierungen in ein lokales Bürgeramt müssen nicht aus Berlin oder Brüssel vorgeschrieben werden, sondern können lokal festgelegt werden und an den spezifischen Bedürfnissen der betroffenen Bürger ausgerichtet werden. Angesichts der großen Unsicherheit, die insbesondere am Anfang einer Pandemie herrscht, hat dieses dezentrale Vorgehen den zusätzlichen Vorteil, dass es Vergleichsmöglichkeiten schafft, um die Wirksamkeit verschiedener Maßnahmen zu prüfen. Würden alle einfach die gleichen Maßnahmen ergreifen, gäbe es überhaupt keine Vergleichsbasis. Wenn aber die einen ganz stringente Maßnahmen ergreifen, andere hingegen nur ganz lockere, und wiederum andere überhaupt keine, so kann prinzipiell festgestellt werden, was die stringenten im Vergleich zu den lockeren Maßnahmen gebracht haben und ob die Maßnahmen überhaupt etwas gebracht haben. Das dezentrale Vorgehen, dass sich am Subsidiaritätsprinzip orientiert, ist also unserem Erkenntnisgewinn zuträglich. Wir lernen mehr über die möglichen Gefahren und effektiven Gegenmaßnahmen, als dies bei einem zentralisierten Verfahren der Fall wäre.
Eine wesentliche Eigenschaft des öffentlichen Raumes ist, dass er ein geographisches Verbindungsglied zwischen verschiedenen privaten Räumen darstellt. Wenn ein Restaurantbetreiber von seinem privaten Wohnhaus zu seinem Restaurant möchte, so muss er in der Regel öffentlichen Raum durchqueren. Wenn die Besucher des Restaurants, die dort herzlich willkommen sind, von ihren Wohnorten zum Restaurant wollen, müssen sie öffentlichen Raum durchqueren. Diese Notwendigkeit, den öffentlichen Raum zu durchqueren, ist so weit verbreitet, dass man davon ausgehen kann, dass der öffentliche Raum eine Art Wegerecht beinhalten muss. Es darf Individuen nicht durch regulatorische Hürden unmöglich gemacht werden, von ihrem Privateigentum A zu einem anderen Privateigentum B zu gelangen. Andernfalls hätten wir eine klare Beschneidung des Privateigentumsrechts, die es nach der libertären Gerechtigkeitstheorie zu verhindern gilt. Allgemeine Ausgangssperren und Lockdowns, die Menschen in einem Teil des Privateigentums einsperren, sind deshalb nicht rechtfertigbar.
Die Durchquerung des öffentlichen Raumes ist ohnehin, auch außerhalb von Pandemien, an gewisse Regeln gebunden. Diese Regeln können prinzipiell auch angepasst werden, allerdings sollte hier eine Verhältnismäßigkeit gewahrt werden. Dabei gilt es zu bedenken, dass Befürworter eines Lockdowns sich ohnehin freiwillig in ihren privaten Räumen einschließen können, auch wenn es keinen staatlich verordneten gibt. Sie können sich also auf freiwilliger Basis einer möglichen Gefahr entziehen. Dies tun sie nach ihrem eigenen Kosten-Nutzen-Kalkül. Diejenigen, für die die Grenzkosten des freiwilligen Lockdowns relativ gering sind, werden also am ehesten dem öffentlichen Raum fernbleiben und somit die Ansteckungsgefahren, die in ihm entstehen, reduzieren. Diejenigen, für die die Grenzkosten eines Lockdowns hoch sind, weil sie besonders wichtige Dinge zu erledigen haben, und denen keine guten Alternativen zum Eintritt in den öffentlichen Raum zur Verfügung stehen, sollten nicht gezwungen werden, dem öffentlichen Raum fernzubleiben. Ihnen können aber unter Umständen gewisse Eintrittsbedingungen abverlangt werden. Jede Bedingung an den Eintritt in den öffentlichen Raum sollte dabei verhältnismäßig bleiben.
An dieser Stelle bleibt vieles im Dunkeln. Keine Gerechtigkeitstheorie, die ihren Namen verdient, kann von vornherein Licht in die Sache bringen. Die offenen Fragen müssen im gesellschaftlichen Zusammenleben beantwortet werden, das notwendigerweise aus Kompromissen besteht. Die besten Kompromisse werden in Regel dort gefunden, wo man sich an Dezentralisierung und Subsidiarität hält und wo man dem Einzelnen größtmöglichen Spielraum für die eigene Kosten- und Risikobewertung lässt.
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