Politik: Rechtfertigung von Pandemie-Maßnahmen – Teil 1
Libertäre Gerechtigkeitstheorie unter idealisierten und nicht idealisierten Bedingungen
von Karl-Friedrich Israel (Pausiert)
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Die Staatseingriffe gegen die Ausbreitung und Folgen von Covid-19 haben in vielen Kreisen für heftige Diskussionen gesorgt. Kann man Masken- oder Impfpflichten rechtfertigen? Was ist mit Lockdowns und anderen Freiheitsbeschränkungen? Diese Fragen haben auch Libertäre und sogar Anarchisten in Diskussionen verwickelt, obwohl sie den Staat grundsätzlich ablehnen. Unter den Anarchokapitalisten hatte etwa der viel beachtete amerikanische Ökonom Walter Block argumentiert, dass einige der Maßnahmen prinzipiell gerechtfertigt werden könnten. Andere haben argumentiert, dass diese Maßnahmen grundsätzlich abzulehnen sind. Wer hat recht? Unter welchen Bedingungen sind derartige Maßnahmen rechtfertigbar vom Standpunkt der libertären Gerechtigkeitstheorie, wenn überhaupt.
Aus Sicht des reinen Libertarismus scheint die Sache klar: Der Staat ist eine unmoralische Institution und deshalb sind Staatseingriffe per se, genauso wie der Staat selbst, abzulehnen. Der Libertarismus unter idealisierten Bedingungen liefert also ganz einfache Antworten auf die obigen Fragen. Das Problem ist, dass die allermeisten Diskussionen der Form „Die libertäre Position zu X“ oder „Y aus libertärer Perspektive“ nicht unter idealisierten Annahmen geführt werden. Diese Diskussionen berücksichtigen in der Regel die nicht ideale Ausgangslage der existierenden Welt. Es gibt nun einmal den Staat, und wenn er was macht, dann sollte er möglichst das Richtige tun.
Was das Richtige ist, kann man vom Standpunkt einer nicht idealisierten libertären Gerechtigkeitstheorie zumindest eingrenzen. Das zentrale Ordnungsprinzip des Libertarismus ist das Privateigentum. Jeder kann machen, was er will, solange er das Privateigentum anderer nicht verletzt. Das ist der Grundsatz. Deshalb ist klar, dass zum Beispiel ein privater Ladenbesitzer den Ladenbesuchern eine Maskenpflicht aufbürden könnte, wenn er das für richtig hält. Ein Arzt könnte in seiner Praxis einen negativen Schnelltest oder eine Impfung von den Patienten verlangen. All das stünde keinesfalls im Widerspruch zu libertären Prinzipien.
Der große Vorteil des Privateigentums ist, dass es die richtigen Anreize setzt. Wenn der Marktwert des Privateigentums von den Sicherheitspräferenzen anderer Menschen abhängt, wie zum Beispiel bei einem Supermarkt, dann hat der Besitzer ein Interesse daran, den Sicherheitspräferenzen dieser anderen Menschen entgegenzukommen. Ein privater Supermarktbesitzer wird versuchen, die richtigen Kompromisse aus Sicherheit und Komfort oder Sicherheit und Privatsphäre aus Sicht seiner Kunden zu treffen, damit diese weiterhin bei ihm einkaufen. Dem Marktsystem wohnt also ein urdemokratischer Mechanismus inne: Die Menschen, die unmittelbar betroffen sind, liefern den Bewertungsmaßstab. Wenn diese mit den Maßnahmen des Supermarktbetreibers unzufrieden sind, weichen sie auf Alternativen aus, zum Beispiel auf einen anderen Supermarkt oder einen Lieferservice. Der Supermarktbetreiber wird es in seiner Gewinn- und Verlustrechnung zu spüren bekommen.
Die Möglichkeit der rationalen Wirtschaftsrechnung innerhalb eines auf Privateigentum basierten Marktsystems liefert einen entscheidenden Grund, warum es keinen Staatseingriff in diesem Bereich braucht. Privateigentümer haben natürlicherweise ein Interesse daran verhältnismäßig und im Einklang mit den Präferenzen der beteiligten Personen auf Sicherheitsrisiken zu reagieren. Deshalb lautet der erste Grundsatz: Der Bereich des privaten Eigentums sollte von Pandemie-Maßnahmen ausgenommen sein. Lockdowns von privaten Theatern, Kinos, Universitäten und Schulen et cetera sollten tabu sein. Der Staat hat nicht (noch mehr) in das Privateigentum der Menschen einzugreifen. Es liegt im Interesse der Menschen selbst, Sicherheitsrisiken im gesunden Maße zu verringern und Übertreibungen zu vermeiden, weil sie sich am Marktwert des Privateigentums beziehungsweise in der Gewinn- und Verlustrechnung von Unternehmen bemerkbar machen. Der Staat hat gerade diesen Anreiz zum verhältnismäßigen Einschreiten nicht.
Privateigentum sollte also von staatlichen Pandemie-Maßnahmen ausgeschlossen sein. Nun gibt es aber in einem Staatssystem auch so etwas wie „öffentliches“ Eigentum oder einen öffentlichen Raum. Der Status dieses öffentlichen Raums ist entscheidend für die Beantwortung der obigen Fragen. Der Staat fungiert als eine Art Geschäftsführer oder Verwalter des öffentlichen Raums. Wer aber sind die impliziten Eigentümer dieses öffentlichen Raums?
Manche Libertäre argumentieren, dass der öffentliche Raum niemandem rechtmäßig gehöre. Er sei ein Niemandsland und deswegen hat auch niemand das Recht, in irgendeiner Weise die Zugangsbedingungen zum öffentlichen Raum zu beschränken. Diese Argumentation führt zur Ablehnung aller Pandemie-Maßnahmen des Staates.
Der öffentliche Raum ist aber kein Niemandsland, genauso wenig wie die Gemeinschaftsräume eines Wohnkomplexes Niemandsland sind. Es gibt sinnvollerweise Regeln für den Zutritt auf, zum Beispiel, Spielplätze in einem Wohnkomplex. Es ist dort oft untersagt, Alkohol zu trinken oder zu rauchen. Diese Regeln können an die Bedürfnisse der Anwohner angepasst werden. Wir können uns derartige Arrangements von gemeinschaftlicher Verwaltung zum Vorbild nehmen für die staatliche Verwaltung des öffentlichen Raumes. Die entscheidende Frage ist nur, wer die rechtmäßigen Eigentümer des öffentlichen Raums sind und wer deshalb einen Anspruch auf ihn hat. Und hier liefern wichtige libertäre Philosophen wie Rothbard, Hoppe und viele mehr eine klare Antwort: Es sind die Steuerzahler, weil sie den Bau und Erhalt des öffentlichen Raumes möglich machen. Der Grundsatz muss also lauten, dass der Staat den öffentlichen Raum im Interesse der Steuerzahler verwaltet, genauso wie die Verwaltung eines Wohnkomplexes die Gemeinschaftsräume im Interesse der Privateigentümer und Bewohner des Wohnkomplexes verwaltet.
Das kann nun prinzipiell schon bedeuten, dass bestimmte Pandemie-Maßnahmen gerechtfertigt sind. Aber sie würden sicherlich ganz anders aussehen, wenn man sich an den Grundsätzen des Libertarismus orientiert. Zum einem kann eine zentrale Unterscheidung durchgeführt werden zwischen dem, was man den „essenziellen“ öffentlichen Raum, und dem, was man „nicht essenziellen“ öffentlichen Raum nennen kann. Der essenzielle öffentliche Raum ist der, in den Menschen gehen müssen, auch gegen ihren Willen, also zum Beispiel das Rathaus, das Finanzamt oder auch staatliche Gefängnisse. Der nicht essenzielle öffentliche Raum ist der, in den niemand gegen seinen Willen gehen muss, also zum Beispiel ein öffentlicher Strand oder Wald.
Pandemieeingriffe in den nicht essenziellen öffentlichen Raum müssen noch besser begründet werden, da jeder, der sich in diesen Raum begibt, das Risiko freiwillig auf sich nimmt. Wer zu große Angst vor Ansteckungen hat, muss sich nicht an einen öffentlichen Strand, in einen Wald oder Park begeben.
Eingriffe in den essenziellen öffentlichen Raum sind anders, denn Menschen sind oft indirekt oder direkt dazu gezwungen, diesen Raum zu betreten. Sie nehmen also ein mögliches Ansteckungsrisiko nicht freiwillig in Kauf, sondern sind den jeweiligen Bedingungen wahllos ausgesetzt. Insbesondere in diesem Bereich sind besondere Schutzvorkehrungen deshalb rechtfertigbar.
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