Deutsche Demokratiekultur: Politik der Säuberungen
Herrschaftsausübung ist die alleinige Ursache für eine diagnostizierte gesellschaftliche Spaltung
von Christian Paulwitz drucken
In der Satzung der Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) heißt es in Absatz (6) des Paragraphen 7, der Ordnungsmaßnahmen gegen Parteimitglieder regelt: „Die Ordnungsmaßnahme muss zu dem Verstoß und dem Schaden in angemessenem Verhältnis stehen. (…) Ordnungsmaßnahmen dürfen nicht zum Zweck einer Einschränkung der innerparteilichen Meinungsbildung und Demokratie ergriffen werden.“ Der letzte Satz ist deswegen bemerkenswert, weil er in den Satzungen anderer Parteien eben nicht enthalten ist; Parteien, die sich nicht nur „demokratisch“ nennen, sondern gar die Unverschämtheit besitzen, sich zur allgemeinen, bei jeder Gelegenheit gerne vollzogenen Verhöhnung des Publikums sogar als „die“ demokratischen Parteien zu bezeichnen. Im Statut der CDU heißt es in Paragraph 11 zum Parteiausschluss als schärfste Ordnungsmaßnahme gegen Mitglieder: „Ein Mitglied kann nur dann aus der Partei ausgeschlossen werden, wenn es vorsätzlich gegen die Satzung der Partei oder erheblich gegen deren Grundsätze oder Ordnung verstößt und ihr damit schweren Schaden zufügt.“ Ohne weitere Zusätze ergibt sich ein weit interpretierbarer Spielraum. Im Organisationsstatut der SPD liest es sich ähnlich, und auch in der AfD-Satzung findet sich ein solcher Satz, der auf Vorgaben des Parteiengesetzes zurückgeht. Doch weder CDU noch SPD fordern in ihren Statuten, bei ihren Ordnungsmaßnahmen Respekt vor der innerparteilichen Meinungsbildung und Demokratie walten zu lassen, und das aus gutem Grund. Denn sonst hätte beispielsweise bei der SPD wohl kaum ein Parteiausschluss von Thilo Sarrazin Erfolg haben können; nun ja, man muss einschränkend hinzufügen: Zumindest nicht bei hinreichend unabhängiger Parteigerichtsbarkeit beziehungsweise außerparteilicher Gerichtsbarkeit, wenn erstere versagt.
Die Satzungsforderung der vor kurzem zehn Jahre alt gewordenen AfD hat einen Grund, der offenbar lange vor dem deutlich nach ihrer Gründung erfolgten Verfahren gegen Sarrazin bereits zu erkennen war. Er ist beinahe so lange bekannt wie die SPD alt ist und wurde ausführlich soziologisch analysiert und als ehernes Gesetz der Oligarchie bezeichnet. Auch die AfD hat mit ihm bereits Erfahrungen gemacht, und es hat nicht an Versuchen gefehlt, das Mittel des Parteiausschlusses gegen innerparteiliche Gegner zu missbrauchen, indem die Rezeption und Interpretation von politischen Meinungsäußerungen etwas großzügig als parteischädigendes Verhalten ausgelegt wurde – und zwar von unterschiedlichen parteiinternen Gefolgschaftsgruppen, die sich nach außen als politische Strömungen geben oder missverstehen lassen. Bisher sind diese Versuche fehlgeschlagen.
Ich will an dieser Stelle nicht die Rechtmäßigkeit des Demokratieprinzips zum Thema machen. Der libertäre Standpunkt ist bekannt, dass Mehrheiten nun einmal kein Recht schaffen können und das Demokratieprinzip somit zur Herrschaftsbegründung genauso wenig taugt wie irgendein anderes. In den antiken griechischen Demokratien stand dies übrigens auch außer Frage – das Recht war überliefert und keinen Mehrheitsentscheidungen zur mehr oder weniger willkürlichen Änderung unterworfen. Nichtsdestotrotz können dort, wo Entscheidungen getroffen werden, die eine große Zahl von Menschen betreffen, Mehrheitsentscheidungen immer wieder sinnvoll sein, sollten dann jedoch nicht dazu führen, dass die einen von den anderen beherrscht werden. Wenn sich beispielsweise mehrere Menschen auf ein Lokal verabreden wollen, in dem man sich treffen wolle, werden die Präferenzen sicher unterschiedlich sein. Man wird bestrebt sein, ein Lokal zu finden, in dem sich möglichst viele wohlfühlen und sich für dieses Lokal entscheiden, aber gleichzeitig als Wahl auch von denen, die ein anderes Lokal präferiert hätten, akzeptiert werden kann. Um in beiderlei Sinne zu einer guten Lösung zu kommen, ist ein freier Meinungsaustausch notwendig, in dem Vorlieben und Ablehnung inklusive der Hintergründe angesprochen werden, vielleicht auch falsche Annahmen entkräftet werden können. Die offene Diskussion beeinflusst die Abstimmungsentscheidung und ist wesentlich für den Sinn einer Abstimmung. Wenn die Abstimmungsmotivation nicht in der Herrschaftsausübung der einen über die anderen liegt, sondern in der Findung eines „guten“ Ergebnisses, mit möglichst allen Beteiligten einen schönen Abend zu verbringen, wird dann auch die Entscheidung von den Abstimmungsunterlegenen mitgetragen werden. Sie haben dann keinen Grund, schmollend daheim zu bleiben. Es sind solche Situationen, die „normale“ gutwillige Menschen vor Augen haben, wenn sie sich als Demokraten bezeichnen. Ich will hier nicht werten, welche Auffassung vom Wesen des demokratischen Prinzips die dem Wortsinne nach richtige ist, sondern nur deutlich machen, dass es völlig unterschiedliche, ja fast entgegengesetzte Vorstellungen gibt, wenn Menschen sich oder andere als „Demokraten“ bezeichnen, je nachdem, wie sehr es ihnen um Herrschaftsausübung geht oder dem Gegenteil, gute, akzeptierte Entscheidungen zu treffen.
Herrschaftspsychopathen geht es darum, Mehrheiten formal auf ihrer Seite zu haben, egal wie, um über andere Entscheidungen treffen zu können. Für sie ist Demokratie die gültige Herrschaftsbegründung; „Demokraten“ sind dann die, die mit dieser so begründeten Herrschaft im Einvernehmen stehen. Die Qualität der Abstimmungen inklusive der informellen Diskussion im Vorfeld ist sekundär. Voraussetzung ist, dass die Legitimität dieser Sicht innerhalb des Herrschaftsraums durchgesetzt werden kann, ob es sich dabei nun um einen Staat handelt oder um eine Partei, die ja mit ihren Organen staatsähnlich aufgebaut ist. Dies bedarf unter Umständen einer verstärkten Kontrolle über die Interpretationsorgane und der wichtigen Diskursforen.
Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, wenn ein Bundespräsident Steinmeier beispielsweise kürzlich in seiner Skandalrede zum Verfassungskonvent am Herrenchiemsee von „den“ demokratischen Parteien spricht. „Niemals wieder sollen demokratische Freiheitsrechte missbraucht werden, um Freiheit und Demokratie abzuschaffen“, so Steinmeier. – Das bedeutet in letzter Konsequenz die orwellsche Verdrehung, dass die Verteidigung von „Freiheit und Demokratie“ gegebenenfalls erfordere, Freiheitsrechte abzuschaffen. Dies kann nur die Herrschaftsschicht tun, die sich als identisch sieht mit „den Demokraten“, da sie sich über eine Mehrheitsabstimmung legitimiert sieht. Wer das für überspitzt hält, möge sich mal vor Augen führen, was die letzten drei bis vier Jahre so passiert ist, von Lockdowns über Impferpressung bis zur Diskussion über Heizungs- und Verbrennungsmotorenverbote.
Man sieht sich in der Deutungshoheit, wer zur Gruppe der Demokraten zu zählen ist, die auf Seiten der durch Abstimmungsketten hervorgegangenen Parteienherrschaftsschicht steht, und wer nicht. Letztere sind eben keine „Demokraten“ und müssen bekämpft werden; die Mittel hängen letztlich von der empfundenen Bedrohungslage ab. Es mag Zyniker im Hintergrund geben, die mit der Diskrepanz zwischen formuliertem Anspruch und Wirklichkeit bewusst umgehen und sie gar fördern. Aber ich fürchte, unter Politikern und Bürokraten gibt es nicht wenige, die tatsächlich so denken. Recht – selbst in der von Gesetzen festgelegten Form – hat als einschränkender Rahmen in den Köpfen dieser Menschen nur eine untergeordnete Bedeutung, denn es kann ja durch Mehrheitsbeschlüsse in der Hand der „Demokraten“ jederzeit angepasst werden. Reine Formsache.
So sind auch die ungeheuerlichen Vorgänge zur Abhörung von Hans-Georg Maaßen als Anwalt von Markus Krall zu verstehen – wobei natürlich sicher auch Inkompetenz seitens des Dienstes eine Rolle spielt. Mit dem angestrengten Parteiausschlussverfahren aus der CDU wurde Maaßen als „Gefahr für unsere Demokratie“ markiert und somit zum Ziel – da fallen die Hemmungen. Die „Epoch Times“ schreibt – treffend zusammengefasst mit dem Zitat der Bundestagsabgeordneten Joana Cotar – zu dem Vorgang: „Fassen wir zusammen: Ein Zeuge in einem Prozess muss eine Hausdurchsuchung über sich ergehen lassen. Als Zeuge. Danach ruft er seinen Anwalt an. Dieses Gespräch wird – illegalerweise [sic] – von deutschen Behörden abgehört. Und aufgrund dieses illegal abgehörten Telefonats – zwischen Mandant und Anwalt – gerät jetzt der Anwalt ins Visier des Verfassungsschutzes und all das wird an die Presse gegeben.“ – Noch vor zwanzig Jahren, als wenigstens das eine oder andere in diesem Land noch institutionell funktionierte und nicht wie Mehltau von einem alles überdeckenden charakterlich korrumpiertem Filz überzogen war, hätte das nicht nur postwendend die Entlassung des Chefs des Inlandsgeheimdienstes zur Folge gehabt, sondern auch die des zuständigen Innenministers, wenn nicht gar die gesamte Regierung darüber gestürzt wäre. Heute verstehen sich eben diese Protagonisten und Vertuscher solcher Machenschaften als Verteidiger von Demokratie und Freiheit.
Und die meinen das so und sind empört über die schwindende Unterstützung im gemeinen Volk für sie. Wenn sie die Gesellschaft gespalten sehen, dann haben sie Recht. Zwischen Gruppen, die über andere Herrschaft ausüben wollen, und denen, die sich von der Herrschaftsausübung in Form von Zwang, Verboten, Sanktion von Meinungsäußerungen, Beschneidung von Eigentums- und Freiheitsrechten bedroht sehen und sich wehren, kann es keine Überwindung der Spaltung geben, egal wie die Herrschaft begründet wird. Es sei denn durch die Aufgabe des Herrschaftsanspruchs und einen neuen, echten Respekt vor Freiheit und Eigentum: Denn das sind die Grundlagen einer friedlichen Gesellschaft.
Quellen:
Statusbroschüre der CDU Deutschlands
75 Jahre Verfassungskonvent von Herrenchiemsee
Abgehörtes Telefonat: Verfassungsschutz nimmt ehemaligen Chef ins Visier (Epoch Times)
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