24. August 2023 08:00

Einkommensverteilung Werden die Reichen immer reicher …

… und die Armen immer ärmer?

von Olivier Kessler

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Bildquelle: Hyejin Kang / Shutterstock Steigende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen: Stimmt diese weitverbreiteteThese?

Sinnbildlich für den weitverbreiteten Nullsummenglauben, wonach Reiche nur auf Kosten der restlichen Bevölkerung reich werden können, steht ein Gedicht von Bertolt Brecht:

„Reicher Mann und armer Mann
standen da und sahn sich an.
Und der Arme sagte bleich:
‚Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.‘“

Die Wirtschaft sollte jedoch nicht mit einem im Laufe der Zeit immer gleich großen Kuchen verglichen werden, bei dem alle anderen ein kleineres Stück bekommen, wenn einer ein größeres Stück erhält. Die internationale Arbeitsteilung, Spezialisierung und Kooperation haben den Kuchen vielmehr anwachsen lassen — und das seit der Industrialisierung in einem unfassbar starken Ausmaß. Einkommen, Lebensdauer und Komfort haben sich massiv erhöht. Hungersnöte und Massenarmut sind zu Phänomenen verkommen, die man in marktwirtschaftlich orientierten Ländern nur noch aus Geschichtsbüchern oder Reisen in sozialistische Länder kennt.

Mussten im Jahr 1990 noch 37,1 Prozent der Weltbevölkerung mit weniger als 1,90 Dollar pro Tag auskommen, ist dieser Anteil über die Jahre auf unter zehn Prozent gefallen. Doch nicht nur die weltweit Ärmsten profitieren von der Globalisierung: Auch die durchschnittlichen Einkommensgewinne pro Einwohner in den Industrieländern sind aufgrund der zunehmenden Globalisierung zwischen 1990 und 2016 stark angestiegen.

Wie stark der Lebensstandard in der vergleichsweisen eher kapitalistischen Schweiz gestiegen ist, erkennt man auch am Anteil der Haushaltsausgaben für Nahrungsmittel: Betrugen diese Ausgaben 1921 noch 38,8 Prozent, sanken sie bis 2016 auf 6,3 Prozent. Vom Anstieg der Lebensstandards profitieren insbesondere die weniger reichen Bevölkerungsschichten: Die Nominallöhne sind in der Erhebungsperiode zwischen 2008 und 2016 für die zehn Prozent tiefsten Einkommen um 9,9 Prozent gestiegen, während sie für die zehn Prozent höchsten Einkommen um 6,3 Prozent gestiegen sind. In der Schweiz gibt es heute folglich nur noch wenige Arme im Sinne einer materiellen Entbehrung: 3,8 Prozent aller Erwerbstätigen sind teilweise von materieller Armut betroffen. Und für die meisten ist Armut nur eine vorübergehende Erfahrung: Lediglich 0,9 Prozent der Schweizer Bevölkerung leidet dauerhaft an Armut, was im internationalen Durchschnitt sehr wenig ist. Es ist daher offensichtlich: Die Reichen wurden nicht auf Kosten der Armen immer reicher. Vielmehr wurden sowohl Reiche als auch weniger Reiche immer wohlhabender. Wenn das kein Grund zum Feiern ist!

Entgegen dieser weltweiten Tendenz abnehmender Armut macht der medial vielbeachtete Oxfam-Bericht Jahr für Jahr in alarmistischem Tonfall Stimmung mit angeblich „schockierenden Fakten über die weltweite Ungleichheit“. „Hunderte Millionen von Menschen leben in extremer Armut, während jene ganz oben belohnt werden“, steht ganz zu Beginn des Reports von 2019. Das Vermögen der Milliardäre sei „auf ein Rekordniveau“ gestiegen, während in der Zwischenzeit „die Ärmsten der Welt noch ärmer geworden“ seien.

Branko Milanovi, einer der weltweit angesehensten Forscher zur Einkommensungleichheit, hält die Oxfam-Studie für unseriös. Wenn Oxfam von „Wohlstand“ rede, meine die Organisation damit ausschließlich das Vermögen der Menschen. Die implizite Annahme, wonach Wohlstand einzig dadurch ausgedrückt werde, sei falsch. Denn in den Industrieländern und insbesondere in Schwellen- und Entwicklungsländern hätten die Menschen oftmals kein steuerbares Vermögen. Das bedeute jedoch nicht, dass sie hungerten, sondern dass sie ihr Einkommen fortlaufend verbrauchten. Wohlstand hänge nicht vom Vermögen ab, sondern vom tatsächlichen Konsum, der vor allem aus dem Einkommen finanziert werde.

Im Gegensatz zu Oxfam, die darauf erpicht ist, irgendwelche für den Lebensstandard irrelevanten Ungleichheiten anzuprangern, untersucht Branko Milanović schon seit vielen Jahrzehnten die Einkommensungleichheit und kommt zum Schluss: Die Einkommensungleichheit nimmt weltweit nicht zu, sondern ab: „Länder, die sehr arm waren, wie zum Beispiel China, Indien, Indonesien und Vietnam – allesamt sehr bevölkerungsreiche Länder –, sind in der weltweiten Einkommensverteilung aufgestiegen. Sie stellen heute den globalen Mittelbau und fangen an, auch die höheren Einkommensklassen ‚auszufüllen‘. Die Einkommen stiegen in diesen Ländern insgesamt auch deutlich schneller als diejenigen der westlichen Länder.“

Oftmals wird bei der Stimmungsmache gegen Reiche suggeriert, dass es sich bei „den Reichen“ um die immer gleichen Personen und Familien handle, die immer mehr Reichtum anhäuften. Auch das ist ein Mythos. Vielmehr wechseln sich die Leute mit großen Einkommen und Vermögen ständig ab. So sind beispielsweise die führenden Köpfe der Tech-Branche wie etwa Bill Gates, Jeff Bezos oder Mark Zuckerberg und diverse Kryptomillionäre erst vor relativ kurzer Zeit in die Sphäre der Reichsten aufgestiegen. Es gibt zwischen den Schichten eine große Durchlässigkeit, sodass jeder potenziell reich werden kann, der seinen Mitbürgern einen entsprechenden Dienst erweist.

Es wäre eine schlechte Idee des Steuerstaates, den Reichen noch mehr an die Gurgel zu springen und sie wie Hühner zu rupfen, so wie das etwa die linksgerichteten Ökonomen Emmanuel Saez und Thomas Piketty vorschlagen: Sie fordern, die Grenzsteuersätze für Top-Verdiener auf 80 Prozent zu erhöhen. Kurzfristig führen hohe Steuersätze zu mehr Steuerumgehung. Langfristig können hohe Steuern auch die Berufswahl und Migrationsentscheidungen beeinflussen und die Investitionen in Bildung und Unternehmertum senken. Materielle Anreize sind für eine wohlhabende Gesellschaft entscheidend: Unternehmer etwa werden durch entsprechende Gewinne angereizt, Kundenwünsche immer besser und kostengünstiger zu erfüllen, womit die Lebensstandards der Menschen ansteigen. Wird dieser Gewinn und der Reichtum, der aus erfolgreichem Unternehmertum resultiert, umverteilt, verschwindet ein wesentlicher Anreiz für Innovation und Fortschritt.

Es gibt allerdings durchaus problematische Verteilungseffekte. Diese sind aber nicht der Kategorie des Markt-, sondern des Staatsversagens zuzuordnen und treten vor allem aufgrund der expansiven Geldpolitik der Zentralbanken auf: Der Cantillon-Effekt sorgt hierbei dafür, dass Vermögende überproportional auf Kosten der weniger Vermögenden profitieren, weil neu geschöpftes Geld meistens zunächst in Form von Krediten – etwa Hypotheken – an kreditfähige Personen gelangt und diese es zum alten Wert ausgeben können. Wenn dieses neue Geld sich über das Wirtschaftssystem ausbreitet, verliert es allmählich seinen Wert und kommt als minderwertiges Geld bei weniger Vermögenden an. Auch die staatliche Subventionspolitik – etwa zur Rettung von Banken – kann zu einem Wachstum der Ungleichheit führen.


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