25. August 2023 08:00

Staatsentstehung und -entwicklung – Teil 2 Die Grundlage jeden Staats: begrenzte Plünderung

Von der Anarchie zum Staat

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Olga Pedan / Shutterstock Neolithische Revolution: Die Entwicklung von Nomaden zu Bauern als gesellschaftlicher Wendepunkt?

Obwohl die Menschheit ihre Existenz in wunderbarer Ur-Anarchie begann, sind Staaten entstanden. Die Frage ist, wie oder warum dies geschah. Die Ur-Anarchie war eine stabile Institution, die weit stabiler als alle sie verdrängenden Herrschaftssysteme war. Wenn wir für die Ur-Anarchie eine Mindestdauer von 10.000 Jahren annehmen, so müssen wir konstatieren, dass selbst langlebige Reiche wie das Imperium Romanum nicht viel mehr als ein Zehntel in die Waagschale werfen. Für das Chinesische Kaiserreich setzt man die Hälfte an, aber es als strukturelle Einheit in irgendeiner Hinsicht zu bezeichnen, erscheint als ziemlich abwegig.

Die Ur-Anarchie war nicht nur die Gesellschaftsstruktur der Nomaden, ist nicht nur kompatibel mit der Wirtschaftsform von Jägern, Sammlern und Hirten, sondern auch über mehrere Tausend Jahre diejenige der Bauern nach der neolithischen Revolution. Auch das Zusammenleben von Nomaden und Bauern gestaltete sich in den ersten Tausenden von Jahren als möglich, auch wenn die Konflikte zunahmen.

Die Stabilität der Ur-Anarchie gründete sich, wie im ersten Teil der Serie dargelegt, auf den verwandtschaftlichen Beistand als wesentliches Prinzip der gesellschaftlichen Strukturierung. Bei Konflikten zwischen nomadischen Ethnien wich die unterlegene aus, sodass kein Verhältnis von Über- und Unterordnung entstand, auch wenn zwischen ihnen keine verwandtschaftlichen Bindungen bestanden. Die Ur-Anarchie blieb erhalten.

Mit der neolithischen Revolution und der Landwirtschaft änderten sich zwei Parameter, von denen der eine darin bestand, dass für Bauern – anders als für Nomaden – das Ausweichen bei Angriff mit großen Problemen behaftet ist: Sie müssten dafür den von ihnen erschlossenen Boden und ihre (festen) Häuser aufgeben. Der andere Parameter war, dass Bauern im Gegensatz zu Nomaden Überschüsse erwirtschaften und Luxusgüter akkumulieren konnten. Nomaden ernähren sich von der Hand in den Mund und können nur so viele Güter mit sich führen, wie sie (einfach) zu transportieren vermögen. Bauern können Lebensmittel lagern und aufgrund ihrer Sesshaftigkeit auch andere Güter langfristig aufbewahren, ihre Häuser schmücken und so weiter.

Weder war die Plünderung von Bauern durch Nomaden an der Tagesordnung, noch entstand aus der Plünderung unmittelbar ein Staat. Ein Staat entstand (sehr selten), wenn Nomaden die jeweils gleichen Bauern wiederholt plünderten und ihnen dabei so viel ließen, dass sie weiterleben und weiterarbeiten konnten. Aus der Plünderung wird zunächst Tribut (auf den die Bauern sich in einem unfreiwilligen Vertrag einlassen, um dem Überfall vorzubeugen) und dann die Steuer. Dies ist es, was ich die Staatsentstehung durch externe Eroberung nenne: Ein Volk (Nomadenstamm) unterjocht ein anderes Volk (Bauern). Es entsteht ein Verhältnis von Sklaverei in dem Sinne, dass die einen für die anderen arbeiten. Für die folgende Entwicklung eines Staats gilt für alle dieses eine Basisprinzip, sofern der Staat irgendeine Kontinuität erlangt: Die Plünderung (Besteuerung) muss so begrenzt werden, dass die Ausgeplünderten weiterleben und weiterarbeiten können. Überschreiten die Herrschenden diese Begrenzung, bricht ihre Herrschaft automatisch zusammen.

Verständlicherweise versuchten Bauern, sich gegen die externe Eroberung und Versklavung zu wappnen. Durch die Sesshaftigkeit von dem unbedingten Willen beseelt, ihren Boden zu verteidigen, und durch die Arbeitsteilung mit handwerklichem Geschick ausgestattet, gelang es ihnen mitunter auch, sich kriegerisch zu behaupten. Um ihre landwirtschaftliche Produktion nicht für Verteidigungszwecke vernachlässigen zu müssen, ergab es großen Sinn, gewisse Personen aus ihrer Mitte zu professionellen Kriegern zu machen, die von den übrigen Bauern ernährt wurden. Diese Krieger blieben zunächst Teil des segmentären verwandtschaftlichen Netzwerks, doch entstand eine Befehlsstruktur und eine Loyalität der Krieger untereinander, die sie von ihren Verwandten entfremdeten. Schließlich vermochten sie ihre Waffen nicht nur gegen die drohenden Eroberer von außen einzusetzen, sondern auch gegen diejenigen innerhalb der eigenen Bevölkerung, die es eventuell leid waren, sie zu ernähren, obwohl die Gefahr durch Feinde inzwischen erloschen war. Dies nenne ich die Staatsentstehung durch innere Eroberung. Sie führt zu Frühformen des Feudalismus. Diejenigen, die die Bauern eingesetzt hatten, um ihnen als Verteidigung zu dienen, schwingen sich zu Herrschern auf, die von ihnen auch dann noch Abgaben verlangen, wenn ihre Dienste nicht mehr erwünscht sind. Aber natürlich gilt auch für diese Form der Staatsentstehung, dass die erhobenen Abgaben nicht so hoch sein dürfen, dass den Unterjochten das Weiterleben und das Weiterarbeiten unmöglich gemacht werden.

In beiden Formen, der internen wie der externen Eroberung, ersetzt ein per Waffengewalt erzwungener Vertrag die freiwillige Kooperation.

Die Prinzipien der Ur-Anarchie waren nicht in der Lage, bei einem Clash zwischen Ethnien ihre friedensstiftende und herrschaftsverhindernde Funktion auszuüben. Bei einem Clash zwischen zwei nomadischen Ethnien bedrohte das nicht ihre Existenz, wohl aber bei einem Clash zwischen Nomaden und Bauern oder (später) zwischen Bauern und Bauern. Weil die Durchdringung verschiedener Ethnien die Grundlage der Kulturentwicklung bildet, ist, das sei unumwunden zugestanden, die Ur-Anarchie mit Kultur und Geschichte nicht kompatibel. Dennoch blieb – und bleibt – sie als Grundlage des sozialen Lebens unverzichtbar, von den Anfängen bis heute: Wenn die freiwillige Kooperation nicht die Grundlagen des Lebens schaffen darf, versinkt die Gesellschaft in Chaos und Armut.

Natürlich gab es auch eine Kulturentwicklung auf den Prinzipien der Ur-Anarchie, die freilich stets Gefahr lief, in herrschaftliche Überformung umzukippen. Die Anarchie geriet in die Defensive.

Die Tragik der Nomaden ist es, dass sie selbst es zunächst waren, die die Entwicklung des Staates ins Rollen brachten (selbst bei der internen Eroberung waren sie die Auslöser der Entwicklung), dann aber, nachdem die Staaten etabliert waren, selber in die Defensive gerieten und an den Rand gedrängt wurden.

Die ursprüngliche Entwicklung des Staats schafft zwei Klassen: die Klasse derer, die von der Arbeit anderer leben, und die Klasse jener, die einen Teil ihrer Arbeitsprodukte per Steuern (oder anderer Formen der Ausplünderung) abgeben müssen. Freilich zerfällt die Klasse derer, die von der Arbeit anderer leben, sofort in zwei Fraktionen: in diejenigen nämlich, die den größten Anteil der erpressten Arbeitsprodukte einheimsen, und denjenigen, die ihnen als Erzwingungsstab (Polizei, Armee) dienen.

Dieses Verhältnis zwischen der Klasse derer, die den Wohlstand schaffen, und derer, die ihn sich per (struktureller) Gewalt aneignen, bleibt über die gesamte Entwicklung des Staats bis heute konstant, wenn es auch vielfältige Formen und Differenzierungen annimmt. Einen Staat ohne dieses Verhältnis kann es nicht geben, es sei denn, er verzichtet auf Zwangsabgaben (Steuern) und auf den Erzwingungsstab (Gewaltmonopol). Und wenn er darauf verzichtet, ist er kein Staat mehr.

Unausweichlich begleitet die Entstehung des Staats somit:

Erstens: Herausbildung eines Territoriums. Dieses Territorium ergibt sich nach Maßgabe der Reichweite, in der die Eroberer in der Lage sind, Gruppen von Personen (Familien, Stämme, Völker, Ethnien) zu unterwerfen. Sobald sich einzelne Personen oder vollständige Gruppen außerhalb dieser Reichweite befinden, endet die faktische Möglichkeit der Herrschenden, über sie zu verfügen. Innerhalb dieser Reichweite werden die Herrschenden alles daransetzen, um Konkurrenten auszuschalten (diese Konkurrenten werden je nach Lage als Verbrecher- und Räuberbande, Banditen, Gang, Mafia, Wegelagerer sowie als organisierte Kriminalität oder als Parallelgesellschaft bezeichnet). Damit einher geht die Vorstellung eines Gewaltmonopols über ein bestimmtes Territorium, das dann zum Staatsgebiet wird. Systeme mit konkurrierenden Gewalten, also ohne ausgeprägtes Gewaltmonopol, wie das europäische Mittelalter stellen die Herrschenden vor Probleme und pendeln zwischen Herrschaft und Anarchie. Von außerhalb dieses Territoriums eindringende Konkurrenten (Feinde) müssen ferngehalten werden. Allerdings bedarf es sowohl der inneren als auch der äußeren Feinde, um die Ideologie aufrechterhalten zu können, dass Herrschaft zum Schutz der Beherrschten notwendig sei. Der Sieg über die Konkurrenten sollte aus Gründen der Machtrationalität niemals umfassend sein; das Gewaltmonopol muss sich stets als fragil (gefährdet) darstellen lassen.

Zweitens: Die Herausbildung differenzierter Strukturen der Herrschaftsausübung.

Drittens: Herausbildung eines Staatsvolks. Eine Identität der das Staatsterritorium definierenden Grenzen mit Volks-, Sprach- oder Kulturgrenzen lässt sich faktisch nirgends realisieren. Der Nationalstaat bleibt Fiktion. Meist wäre eine Grenzziehung entsprechend der natürlichen außerstaatlichen Gegebenheiten gar nicht möglich, da in den Regionen der Grenzen stets eine Durchdringung von Völkern (Ethnien), Sprachen und Kulturen vorliegt. Darüber hinaus stimmen die Sprach-, Kultur- und Religions- sowie Ethniengrenzen höchst selten miteinander überein; so umfasst ein Sprachraum mehrere Religionen, manche Religionen werden über viele Sprachen hinweg geglaubt und so weiter. Das – historisch recht neue, inzwischen aber schon wieder veraltete – Konzept des Nationalstaats wirkte meist umgekehrt, nämlich als (ideologische) Behauptung, die Menschen, die in einem mehr oder weniger zufällig, meist durch Kriege entstandenen Staatsterritorium leben, sollten sich gefälligst als Einheit fühlen (England, Italien, Deutschland, Russland, Ukraine sind Beispiele; in Afrika ist die Konstitution von Nationalstaaten tragisch an den ethnischen Gegebenheiten gescheitert). Wie dem auch sei, das Konzept des Volks oder der Nation gehört zum Bereich der Gesellschaft, also zum Widerstand gegen den Staat. Der Staat okkupiert es und macht es sich dienstbar.


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