Krieg und Frieden – Teil 22: Gibt es einen soziologischen Indikator für Kriegsgefahr?
Gunnar Heinsohns „Kriegsindex“

Für den Ausbruch eines Kriegs sind machtpolitische und ökonomische Interessen von Bedeutung, die in einen unauflöslichen Konflikt führen, der Stand der Rüstung auf beiden Seiten sowie die psychologische Bereitschaft der jeweiligen Bevölkerungen, den Krieg zu tragen. Für den Sieg im Krieg sind entscheidend der Stand der Rüstung, die Bereitschaft zum Einsatz von rücksichtsloser Brutalität, das strategische und taktische Geschick der Militärführung sowie die Bereitschaft der Bevölkerung, die Opfer zu tragen.
Der Soziologe Gunnar Heinsohn (1943–2023) hat mit seinem Kriegsindex einen weiteren Erklärungsansatz geliefert. Der Kriegsindex bezeichnet das Verhältnis von jungen zu alten Männern. Bei einem Index über eins wächst, bei einem Index unter eins schrumpft die Bevölkerung. Der Kriegsindex heißt so, weil Heinsohn die Hypothese aufstellte, dass die Gefahr von Gruppengewalt – Bandenkriminalität, Terrorismus, Bürgerkrieg und zwischenstaatlicher Krieg – in dem Maße steige, wie es einen Überschuss an jungen Männern in einem Land gibt. Zudem entscheide die Höhe dieses als Kanonenfutter dienenden Überschusses darüber, welche Seite einen Krieg gewinne.
Wie alle gute Theorie zeichnet diese sich durch ihre Schlichtheit aus. Und in vielen Fällen trifft die Hypothese zu. Dennoch scheint sie gewisse Randbedingungen unberücksichtigt zu lassen. Wenn man die von Heinsohn für verschiedene Jahre aufgestellten Kriegsindices durchgeht, fällt auf, dass neben Staaten mit einem hohen Jugendüberschuss, in denen (Bürger-) Kriege stattfinden, solche stehen, die einen solchen Überschuss nicht aufweisen. Damit wird die Vorhersagekraft des Indexes doch eher gering. Es müssen noch andere Faktoren eine Rolle dabei spielen, ob Krieg ausbricht oder nicht. Zudem ist die Hypothese bei näherem Hinsehen alles andere als eindeutig: Der Jugendüberschuss kann außer in einem (Bürger-) Krieg auch durch andere Formen von gesellschaftlicher Gewalt absorbiert werden.
Richtig scheint an dem Kriegsindex vor allem zu sein, dass es in einer Gesellschaft mit einem hohen Jugendüberschuss zu schweren sozialen Spannungen kommen kann; dies gilt vor allem dann, wenn die nachwachsenden Männer keine angemessenen Verdienstmöglichkeiten haben, um eine Familie zu gründen. Nun verschiebt sich die Analyse hin in die Ökonomie: Wenn die wirtschaftliche Flexibilität eines Landes groß genug ist, um den nachwachsenden jungen Männern eine Perspektive zu bieten, wird deren Energie nicht überschüssig sein und versuchen, sich in Gewalt Bahn zu brechen, sondern vielmehr zur Weiterentwicklung und zum Aufbau von Wohlstand führen. Wir müssen die Heinsohn-Hypothese also dahingehend umformulieren, dass die Neigung zur Gewalt (und mittelbar die zum Kriegführen) in dem Maße steige, wie eine Masse von jungen Männern entsteht, die keine persönliche Perspektive in der Gesellschaft findet. Ein großer Teil dieser Masse wird lethargisch, ein kleiner Teil wird auf den Straßen randalieren. Die geschlossene nicht-kapitalistische Ökonomie legt sich wie eine Zwangsjacke um die jungen Männer und sie wünschen sich einen Befreiungsschlag: Damit sind wir zurück bei der sozialpsychologischen Erklärung des Kriegs, die Paul Goodman in Anschluss an Sigmund Freud und Wilhelm Reich lieferte (siehe Teil 20 dieser Serie). Als Kriegsindex würde nicht das Verhältnis von jungen zu alten Männern dienen, sondern ein Index der ökonomischen Freiheit und des Chancenreichtums, den die nachwachsende Generation in der Gesellschaft vorfindet.
Auch als Parameter für die Abschätzung des möglichen Kriegserfolgs taugt der Heinsohn-Index nur bedingt. Mit Genugtuung verzeichnete Heinsohn, dass Afghanistan mit einem hohen Kriegsindex gegen zwei Supermächte – erst UdSSR und dann USA – mit niedrigem Kriegsindex obsiegte (siehe Teil 12 dieser Serie). Aber in den Irakkriegen 1991 und 2003 siegten die USA mit niedrigem Kriegsindex über Irak mit hohem Kriegsindex (siehe Teil 13 dieser Serie).
Heinsohn selber griff gelegentlich zu anderen Erklärungsansätzen als dem des Kriegsindexes. Im Ukraine-Krieg (siehe Teil 15 dieser Serie) kämpfen zwei Staaten mit extrem niedrigem Kriegsindex (beide weit unter eins) gegeneinander. Messerscharf schloss Heinsohn, Russland kämpfe um die Wiederherstellung des verflossenen Sowjet-Imperiums, die Ukraine – den Holodomor im kollektiven Gedächtnis – gegen die Drohung eines neuerlichen Genozids. Indem Heinsohn dies so analysierte, sprach er freilich seinem Kriegsindex den analytischen Wert weitgehend ab: Es scheint laut Heinsohn neben dem Verhältnis von jungen zu alten Männern zusätzliche Faktoren zu geben, die über Kriegsausbruch und Kriegswilligkeit entscheiden, Faktoren, die so wichtig sind, dass sie den Kriegsindex außer Kraft setzen.
Zugleich bezieht Heinsohns Erklärung für die Kriegsfähigkeit beider Länder sich auf unterschiedliche Kategorien. Bezogen auf die Ukraine, rekurriert er auf eine psychologische Erklärung zur Bereitschaft der Bevölkerung, den Krieg zu unterstützen. Bezogen auf Russland, rekurriert er auf den politischen Wunsch, ein Imperium zu sein, bei dem nicht ohne Weiteres auf der Hand liegt, dass dies ein ureigenes Bedürfnis der russischen Völker ist. Obgleich Russland ein autokratisches Land ist, ist die Unterstützung durch die Bevölkerung dennoch erklärungsbedürftig. Wenn eine Unterstützung nicht ausreichend gegeben wäre, würde der russische Staat den Krieg nicht führen können. Dies war übrigens 2014 die Auffassung Heinsohns, er sprach von „Putins Bluff“. Die russische Gesellschaft sei nicht in der Lage und nicht willens, die notwendigen Opfer für einen Krieg gegen die Ukraine zu bringen. Da hat er sich verkalkuliert.
Die russischstämmige Publizistin Sonja Margolina schließt an Heinsohns Hypothese an und bietet eine Lösung der Anomalie des Kriegsindexes, bezogen auf den Ukraine-Krieg. Sie spricht von diesem Krieg als eine soziale Säuberung der russischen Gesellschaft. In Russland ist der Kriegsindex nicht für alle Regionen oder Ethnien gleich. Für den Krieg werden vornehmlich Soldaten aus Regionen und Ethnien verheizt, die viel kinderreicher sind als die heutigen ethnischen Russen und die überdies geographisch und kulturell weit entfernt von den Ukrainern sind. Dies macht auch in taktischer Hinsicht Sinn, denn man setzt an der Front klugerweise solche Soldaten ein, bei denen eine Verbrüderung mit dem Feind unwahrscheinlich ist.
Diesen sozialen Aspekt haben tendenziell alle Kriege. Die einfachen Soldaten stammen meist aus den unteren sozialen Schichten oder aus Minderheiten. Das hat zwei Gründe. Soweit es sich um Berufssoldaten handelt, ist der Militärdienst eine Berufs- und Karrierewahl, die gerade für solche Männer attraktiv ist, die wenig andere Chancen im Leben haben. Soweit es sich um Wehrpflichtige handelt, ist es für Sprösslinge der Ober- und Mittelschicht tendenziell leichter, sich der Einberufung zu entziehen, sei es mit legalen, sei es mit nicht-legalen Mitteln; diese Mittel mögen von Unabkömmlichkeitsstellungen oder ärztlichen Attesten über Bestechung bis hin zur Flucht in ein anderes Land reichen. Im Vietnamkrieg (Teil 9 dieser Serie) war es ein großes Thema, dass überproportional viele schwarze Rekruten dort dienen mussten. Wobei es den Krieg natürlich nicht besser (moralischer) gemacht hätte, wäre in der US-Armee der ethnische Proporz gewahrt worden.
Auf jeden Fall macht der Kriegsindex darauf aufmerksam, dass neben politischen und psychologischen auch soziologische und ökonomische Faktoren genau angeschaut werden müssen, wenn wir über Kriegsgefahr, Siegeschancen und Möglichkeiten nachdenken, Kriege zu vermeiden.
Kommentare
Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.
Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.