15. September 2023 08:00

Staatsentstehung und -entwicklung – Teil 5 Die Alchemie des Staats

Machtrationalität

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Jag_cz / Shutterstock Laut Pierre Bourdieu ein „alchemistischer“ Vorgang: Die Umwandlung von Partikularinteressen in ein Allgemeininteresse

Das Interesse derer, die die Staatsgewalt innehaben oder die sich ihrer bedienen, liegt darin, sich anderer Leute Arbeitsprodukte anzueignen oder sich sonstige, vornehmlich ökonomische Vorteile zu verschaffen. Es gibt kein sonstiges Interesse für die Staatsgewalt. Wer seinen Mitmenschen etwas Gutes tun wollte, bedürfte dazu keiner Gewalt, sondern er könnte sich allein auf freiwillige Kooperation verlassen.

Wie wir bei der Entstehung der ersten Staaten beobachten konnten, war es freilich für eine dauerhafte Etablierung von Herrschaft notwendig, die Plünderung so weit zu begrenzen, dass die Beraubten weiterleben und weiterarbeiten konnten: Diese Zurückhaltung mussten sich die Plünderer auferlegen, da andernfalls der Goldesel, den sie sich abzurichten gedachten, verhungert und sie ihrer Quelle des Wohlstands verlustig gegangen wären. Herrscher, die sich solcher Zurückhaltung nicht befleißigten, mussten entweder schnell das Ruder herumreißen oder gingen unter, oft in einer Orgie von Blut und Tränen.

Die Zurückhaltung bei der Plünderung ist der erste und wichtigste Grundsatz der Machtrationalität. Die Machtrationalität unterscheidet sich von der Zweckrationalität in Bezug auf die Durchsetzung des eigenen Interesses mit den geeignetsten Mitteln darin, dass sie eine Antwort auf folgende Frage braucht: Was lässt sich durchsetzen? Es mag das Interesse etwa der Rüstungsindustrie sein, mehr Rüstungsgüter an die eigene Regierung zu verkaufen als ins Ausland zu exportieren – wobei aktuell kriegführende Staaten die dankbarsten Abnehmer sind. Aber dieses Interesse lässt sich nicht durchsetzen, es sei denn, es würde ein Bedrohungsszenario aufgebaut, dass eine solche Verwendung der Steuergelder rechtfertigte und solche Exporte als Friedensmission statt als kriegsgewinnlerisch aussehen ließe. Wenn die Rüstungsindustrie nur zweckrational agiert, gerät sie in machtrationale Bedrängnis.

In jeder entwickelten Staatlichkeit besteht die Rechtfertigung für die Tätigkeit des Staats darin, dass es etwas Gutes, ein Allgemeininteresse zu befördern gelte (dies nenne ich Ideologie). Nicht nur die Zweck-, sondern auch die Machtrationalität steht mit dieser Rechtfertigung in Spannung. So kann es zum Beispiel vorkommen, dass eine von langer Hand aufgebaute Ideologie zur Rechtfertigung für das Tätigwerden der Staatsgewalt eine bestimmte Maßnahme verlangt, die von einem wichtigen Teil der Bevölkerung aber nicht mehr getragen wird, obwohl dieser Bevölkerungsteil die Ideologie als solche (noch) gar nicht infrage stellt. Die Staatsgewalt gerät nun in die Zwickmühle, ob sie der von ihr selber geförderten Ideologie folgen oder den Widerstand in der Bevölkerung ernst nehmen und sich in Zurückhaltung üben sollte. Die Machtrationalität ist hier unerbittlich: Was auch immer die Staatsgewalt in solch einer von ihr selber herbeigeführten Zwickmühle macht, sie wird beschädigt.

Bei der Machtrationalität gilt es, im Unterschied zur Zweckrationalität, vor allem zweierlei zu bedenken:

Erstens: Zum einen dürfen die ökonomischen oder sozialen Kosten, um das eigene Interesse durchzusetzen, für andere bedeutende Interessengruppen nicht zu hoch und zu offensichtlich erscheinen. Die Verlierer, also die Träger der Kosten und die Erleider der Nachteile, müssen aus schlecht organisierten oder gesellschaftlich stigmatisierten Gruppen bestehen. Andererseits ist es nötig, genügend große respektive reiche Gruppen auszuwählen, damit es sich auch lohnt, sie anzuzapfen. Nehmen wir etwa den militärisch-industriellen Komplex: Die Rüstungsindustrie mag ein Interesse an größeren Aufträgen haben. Aber sobald die hierfür nötigen Mittel aus dem Bereich der Sozialausgaben abgezogen werden, hat sie die gesamte Verteilungsbürokratie gegen sich – und eine sozial orientierte Öffentlichkeit noch dazu. Sie braucht, um sich durchzusetzen, das Bedrohungsszenario eines Kriegs, der die Patrioten dazu geneigt macht, die entsprechenden Mittel bereitzustellen; Verlierer wären dann die bösen unsolidarischen Feinde des Vaterlandes. Wenn die Rüstungsindustrie dagegen – um ein satirisches Beispiel zu nennen – daraufsetzt, die Kaninchenzüchter-Vereine zu enteignen (vielleicht gelänge es ihnen sogar, dafür die Ökologie-Verbände oder „Fridays for Future“ als Bündnispartner zu rekrutieren), könnte sich herausstellen, dass nicht mehr als eine magere Summe herausspränge, mit der sich kein Mega-Hightech-Fighter finanzieren ließe.

Zweitens: Zum anderen dürfen die Konsequenzen der Umsetzung des Interesses nicht dazu führen, den Bestand des Staats objektiv zu gefährden. Wenn die Rüstungsindustrie, um den Konflikt mit der Verteilungsbürokratie der Sozialausgaben ebenso wie mit den Kaninchenzüchtern zu vermeiden, die zusätzlichen Mittel durch neue Staatsschulden zu finanzieren gedächte, könnte es sein, dass die ökonomischen Folgen das ganze Gemeinwesen ins Wanken brächten. Viele der sogenannten Failed States entstehen auf genau diese Weise: Spezielle Interessengruppen haben sich politisch etabliert und agieren ohne Rücksicht auf objektive ökonomisch-gesellschaftliche Notwendigkeiten. Es ergibt sich nun eine Abwärtsspirale: Bei knapper werdenden Mitteln steigt der Druck zu verschärfter Steuerausbeutung sowie dazu, dass man zusätzliche Staatsschulden macht, was wiederum die Wirtschaftskraft senkt und sodann aufs Neue den Druck steigert, bis nichts mehr zu holen ist, selbst für die herrschende Klasse nicht mehr. Oder das Bedrohungspotenzial gleitet den Politmanagern aus den Händen und eskaliert zu einem Krieg, der nicht zu gewinnen ist. Man denke an Frank Zappas satirisch gemeinte Bezeichnung der Politik als Unterhaltungsabteilung des militärisch-industriellen Komplexes: Aus der Gruselshow wird bitterer Ernst.

Diese politische Ökonomie der Staatsgewalt legte Pierre Bourdieu in seiner Vortragsreihe über den Staat 1989 bis 1992 dar: Das Allgemeininteresse wird in Kommissionen durch Aushandeln zwischen gesellschaftlich relevanten, das heißt mächtigen Interessengruppen ermittelt. Deren Beteiligung an dem Prozess des Aushandelns richtet sich exklusiv nach ihrer Fähigkeit, sich als, wie man in der Corona-Zeit sagte und nach ihr sagen wird, „systemrelevant“ darzustellen. Eine Nichtbeteiligung, ein Übergehen, ein Frustrieren einer Interessengruppe würde gravierende Probleme in der Legitimierung und Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Form der Staatsgewalt nach sich ziehen. Wer eine solche Fähigkeit, die aktuell an der Regierung befindliche Fraktion der herrschenden Klasse in ihrer Machtposition zu bedrohen, nicht darzustellen vermag, bleibt in der Tat unberücksichtigt und wird übergangen. Bourdieu nennt es einen alchemistischen Vorgang, mit dem sich das, was vor dem Durchlaufen der Kommission Partikularinteresse genannt wurde, nach deren Durchlaufen in das Allgemeininteresse verwandelt. Er warnt vor dem „Staatsdenken in der Soziologie“, dem die Soziologen erliegen, wenn sie die Behauptung der Staatsgewalt, das Allgemeininteresse zu vertreten, für bare Münze nehmen: Das Allgemeininteresse wird durch Staatsgewalt erst hergestellt.

Dass Bourdieu am Ende des Lebens nach diesen gewaltigen Vorträgen selber dem Staatsdenken erlag, ist ein trauriger Kalauer der Wissenschaftsgeschichte. Plötzlich erklärte er ab Mitte der 1990 er Jahre die Staatsgewalt zur tatsächlichen Trägerin des Allgemeininteresses, dem die „staatenlose Internationale des Neoliberalismus“ böse zusetze. Die „staatenlose Internationale“, das ist das Äquivalent zu der kaiserzeitlichen Rede von den „vaterlandslosen Gesellen“, die es wagten, Gott, Vaterland, Militär und Biedermeier vors Gericht des Humanismus zu zitieren. Es handelt sich bei der Unterstellung, eine „staatenlose Internationale“ habe die Macht in zahlreichen Staaten der Erde zum Nachteil für Volk und Vaterland an sich gerissen, um eine krude Verschwörungstheorie, die eines Soziologen unwürdig sein sollte, die jedoch das Narrativ der herrschenden Meinung (Meinung der Herrschenden) bis heute bestimmt: Denn mit diesem Narrativ konnte die Staatsgewalt die Risse kitten, die ihrer Legitimität durch Erschütterungen mittels der Kritik der 1960er bis 1980er Jahre beigebracht wurden. Die gleiche Struktur wie diese „linke“ Verschwörungstheorie hat interessanterweise auch das „rechte“ Gegenstück, das behauptet, „Kulturmarxisten“ hätten den an sich guten Staat okkupiert und würden ihn missbrauchen. Beide Verschwörungstheorien sind ein ideologisches Mittel, um die Staatsgewalt vor Kritik zu bewahren. Das hören die Herrschenden gern.


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