21. September 2023 18:00

Degussa, Herles und Schnellroda Endlich in Ruhe gelassen werden – ist libertär bereits das neue Sexy?

Das Pendel schlägt zurück, abgestoßen womöglich nicht von links, sondern von aller politischen Gestalt

von André F. Lichtschlag

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Bildquelle: gualtiero boffi / Shutterstock Pendelschlag: Mehr Anarchie, die Herrschaften?

Das hatte sich der neue CEO von Degussa Goldhandel Christian Rauch sicher anders vorgestellt, als er kürzlich gegen seinen Vorgänger Markus Krall öffentlich nachtrat. Unter Krall wurde das aufstrebende Unternehmen Degussa nämlich hin und wieder Ziel einer neiderfüllten linken Medienkampagne. Aus diesem politischen Rampenlicht wollte Rauch Degussa durch einen radikalen Kurswechsel herausführen. Erst erklärte er, dass man ausgerechnet beim besonders diskreten Edelmetallkauf zukünftig auf den alles andere als anonymen Online-Versand setze. Dann fügte er an, bald neue, mainstreamig-geschmeidigere Zielgruppen erschließen zu wollen. Und schließlich brüstete er sich damit, dass Degussa fortan so was wie ein vorbildlich wokes Unternehmen sein würde. Dumm nur, dass dem Mann, der früher Füllfederhalter verkaufte, offenbar niemand gesagt hat, dass erstens die Linken und Woken gar kein Gold kaufen und dass sie zweitens auch Degussa nicht zur Hilfe eilen würden, wenn einmal der Wind von der anderen Seite zu wehen begänne. Das tut er aber bereits, denn nun erscheinen wieder einmal negative Artikel über einen Degussa-CEO – bei „Tichys Einblick“, in der „Jungen Freiheit“ und in der „Preußischen Allgemeinen“. Nur diesmal nicht von links und neidgetrieben, sondern von einer anderen Seite und von Häme über den schwachen CEO durchtränkt. Das hatte der gute Mensch sicher nicht erwartet. Weil er offenbar nicht so genau hingehört hat. Als nämlich von Ferne der Chor der gebrannten Kinder unter den Managerkollegen von Adidas, Budweiser oder Disney leise die Melodei vom Wind of Change sangen. Mit dem neuen Refrain: Go woke, go broke.

Letzte Woche habe ich an dieser Stelle auf die Erfolgswelle libertärer Populisten in Argentinien, Polen und den USA hingewiesen. Anders als von manchen erwartet, wird der Kampf gegen das linke Establishment nämlich zunehmend zu einem Protest gegen jedwede politische Direktive. Das Pendel schwingt nicht mehr unbedingt zurück von linker Politik zu rechter Politik, sondern diesmal womöglich hin zu einer libertären, freiheitsgetriebenen generellen Politik- und Herrschaftsmüdigkeit. Der ehemalige ÖRR-Top-Journalist Wolfgang Herles wurde zuletzt in der „Bild“-Zeitung für seinen neuen Bestseller gefeiert. Titel des Buches: „Mehr Anarchie, die Herrschaften!“ Untertitel: „Eine Anstiftung“.   

Kürzlich habe ich mit einem Kollegen aus dem liberal-konservativen Milieu telefoniert. Dessen Frau habe ihm neulich gesagt: „Klar schlägt das Pendel zurück, das merkt doch langsam jeder, die Woken und Linken haben es ja auch sattsam übertrieben und überdrehen nur immer noch weiter. Aber weißt du was? Die Leute wollen jetzt gar keine konservative Politik stattdessen. Die haben grundsätzlich die Schnauze voll von Politik. Die Leute wollen – auch und gerade nach Corona – einfach nur noch in Ruhe gelassen werden.“

Ich bin nicht sicher, ob der Kollege oder seine Frau wissen, dass das „In Ruhe gelassen werden wollen“ der Kern der libertären Idee nach Roland Baader ist. Libertär, das wird immer deutlicher, könnte tatsächlich das neue Sexy werden. Oder ist es das bereits? Ich hatte letzte Woche diesen Satz noch zögernd eingeworfen. Andere verstehen den Befund offenbar längst intuitiv – nur viele Libertäre selbst, vor allem in Deutschland, haben es noch nicht begriffen.

Ein anderes Beispiel: Der alles andere als libertäre, weil „neurechte“ Publizist und Verleger Götz Kubitschek hat auf der Internetseite der von ihm geführten Zeitschrift „Sezession“ kürzlich einen Grundsatzbeitrag veröffentlicht. Titel: „Rechte Politik ist das Vorhaben, einer robusten Gestalt Platz zu verschaffen“. Der Beitrag liest sich wie diese Überschrift: Leser sollten den Heidegger-Jargon schon mögen. Und doch lohnt wie fast immer bei Kubitschek der Blick auf die Kernaussage hinter all den schweren Worten auch für uns anders Tickende und Schreibende. Denn mit dem Durchblicken erfahren wir, dass Kubitschek wohl besorgt ist darüber, dass auch seine rechten Leser und Kollegen im Sog der Corona-Maßnahmen-Kritik nun generell politik- und staatskritisch geworden sein könnten.

Und das geht nun gar nicht für einen, der mal ein „Institut für Staatspolitik“ gegründet hat. Kubitschek bemängelt, dass im Nachwirken von Corona „das Wort Freiheit zur heiligen Kuh des Widerstands erhoben worden und die Haltung, sich grundsätzlich nichts sagen zu lassen und Autorität nicht mehr zu akzeptieren, von links nach rechts geradezu übergesprungen“ sei. Massenhaft seien „Leute vom Staat abgerückt, in deren politischer DNS eigentlich das Vertrauen auf Institutionen, Staatsautorität und Maßnahmengehorsam zum Wohle aller eingeschrieben war“. Aber, so warnt Kubitschek: „Die Gefahr lauert in der Verführbarkeit durch den Freiheitsbegriff an sich.“

Weiter: „Nichts ist derzeit einfacher, als die Gegnerschaft zur grünen Transformationspolitik mit dem Verweis auf das vermeintlich gute Recht des Einzelnen auf freie Entscheidung in Fragen Heizung, Zapfsäule, Flugreise und Billigschnitzel populistisch aufzuladen: ‚Ich darf alles‘ ist zur Widerstandsbotschaft geworden. Aber diese Botschaft ist zu billig, und sie ist eine Falle.“ Natürlich.

Denn was daraus folge, sei „kein rechtes Programm, das über den Tag hinausreichte. Es ist ein gefährlicher situationslibertärer Zwischenschritt“. Indes, so Kubitschek: „Das Problem solcher individueller Selbstermächtigung liegt zutage. Sie ist der notwendige erste Schritt, aber auf diesen Befreiungsschritt und das euphorisierende Freiheitsgefühl muss die Selbsteinpassung in die rechte Politik- und Lebensalternative erfolgen. Die rechte Politik- und Lebensalternative hat einen deutlich größeren und schwierigeren Auftrag. Ihr Programm ist die Rekonstruktion des Gemeinwesens und der deutschen Nation.“

Kubitscheks Alternative zum libertären „In Ruhe gelassen werden wollen“ ist also „keinesfalls Politik aus dem Geiste des Unterlassens, keine Politik eines Nachtwächterstaats“. Rechte Politik sei „ein lebensdienliches Vorhaben. Sie zielt auf eine Gestalt, die als Ergebnis jahrhundertelanger Erziehung herausgemeißelt wurde.“ Gelänge das, was Kubitschek als rechte Politik verfolgt, dann „prägt sie das Bild, dann kann es zu einem fulminanten und gedeihlichen Wechselspiel zwischen Staat und Einzelnem, zwischen Rahmen und Maler, zwischen großer Erzählung und Vertrauen kommen“.

Kubitschek bewies in der Vergangenheit öfter schon, dass er über einigen politischen Instinkt verfügt. Erst vor Kurzem berichtete er fast triumphierend von seinem Coup, Maximilian Krah als AfD-Spitzenkandidaten zur Europawahl installiert zu haben. Doch nun scheint auch er zu spüren, dass das ein Pyrrhussieg im politischen Tagesgeschäft gewesen sein könnte. Er ahnt womöglich, dass das Publikum die allzu großen politischen Erzählungen – auch die aus seinem Hause – gar nicht mehr hören möchte.

Was nämlich, wenn nicht der deutsche Robustmitgestaltler Krah als Politiker den neuen Zeitgeist verkörpert, sondern der Mann mit der Motorsäge Javier Milei? Was, wenn tatsächlich die Menschen einfach nur noch in Ruhe gelassen werden wollen, wenn sie endlich den Rahmen sprengen und mit dem Ruf nach Freiheit aus dem verdammten politischen Bild springen?

Nichts ist unmöglich in Zeiten wie diesen. Man wird träumen dürfen. 

PS: In eigener Sache: Wieder verstärkt in dieser Woche ein neuer Kolumnist das Team in der Schmiede der Freiheitsfunken. Dr. Thomas Jahn, Jahrgang 1973, ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht sowie Vergaberecht in München. Der langjährige Kommunalpolitiker der CSU und Mitbegründer der Werteunion setzt sich für eine freiheitliche Wende und zeitlos gültige Werte ein. Seine wöchentliche Kolumne erscheint freitags um 18 Uhr, erstmals bereits morgen am frühen Abend. Herzlich willkommen!


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